Internationale Situationniste, Numéro 4
 
1976

Situationistische Nachrichten

Die vierte S.I.-Konferenz wird Ende September 1960 in London einberufen.

Lorenzo Guascos Abhandlung über die Experimentaltätigkeit der S.I. in Italien, die im Januar 1960 in Turin veröffentlicht wurde, ist ein schwachsinniges Sammelsurium. Was z.B. bei Pinot-Gallizios Arbeit wirklich interessant ist, entdeckt Guasco gar nicht und das, was er interessant findet, ist nichts. Indem er wie der Bär mit einem Pflasterstein hantiert und entschlossen unterschiedliche Dinge vermengt, was der Politik wer weiß welchen Kunsthändlers passen soll, macht sich Guasco bei jedem Absatz lächerlich und zuletzt unmöglich, als er den Begriff der kollektiven Kunst im hellen Licht der Metaphysik interpretiert. Das beweist noch einmal, dass die partiellen Kritiker der bürgerlichen Ästhetik — gerade diejenigen, die in der S.I.-Adresse bei ihrer Brüsseler Versammlung 1958 „Kunstkritikerfragmente“ und „Kunstfragmentkritiker“ genannt wurden … — eine Bewegung wie die S.I. in ihrer Gesamtheit unmöglich verstehen können, auch wenn sie es mit dem Maximum an gutem Willen versuchen.

Der Sinn eines Textes über den unitären Urbanismus, der von Debord verfasst und am 9. Januar 1960 durch eine Essener Kunstgalerie auf deutsch veröffentlicht wurde, ist durch mehrere Auslassungen beträchtlich verfälscht worden. Ist es in diesem Zusammenhang nötig, daran zu erinnern, dass wir, denen jegliche Vorstellung des Privateigentums von Gedanken bzw. Sätzen fremd ist, folglich irgendjemandem erlauben, diese oder jene situationistische Schrift ohne Quellenangabe oder sogar mit der ihm beliebigen Zuerkennung, vollständig oder teilweise zu veröffentlichen — nur nicht mit unseren eigenen Unterschriften? Es ist völlig unannehmbar, dass unsere Veröffentlichungen umgearbeitet werden — wenn es nicht durch die gesamte S.I. geschieht — und dass ihre Verfasser scheinbar weiterhin für sie verantwortlich sind. Wir müssen bekanntgeben, dass wir bei der geringsten Zensur unsere Unterschrift zurückziehen.

Mit Jorgen Nashs Experimentalbuch Stavrim, Sonetter (Kopenhagen, März 1960) wird die in den skandinavischen Ländern mit Permild und Rosenhagen begonnene Veröffentlichungsreihe der S.I. fortgesetzt.

Indem die beiden Architekten Alberts und Oudejans es angenommen haben, in Volendam eine Kirche zu bauen, sind sie gleich und ohne Diskussion aus der S.I. ausgetreten. Unsere holländische Sektion wird die entsprechenden Schritte einleiten, um dieses unteilbare Ereignis der öffentlichen Meinung mitzuteilen.

Die vielfachen Stellungnahmen zur Chessman-Affaire haben deren wirkliche Natur nicht berücksichtigt. Sie haben zur Verstärkung der alten Diskussionen über die Todesstrafe geführt. Chessmans Tod hat eigentlich an dem Gesamtproblem des Spektakels teil, so wie es sich auf der höchsten Entwicklungsstufe der kapitalistischen Gesellschaft gestaltet. Diese sich immer mehr behauptende Sphäre des industriellen Spektakels hat sich in diesem Fall mit der alten Sphäre der Todesstrafe überschnitten, die im Gegenteil bald gesetzlich abgeschafft wird, was alle gemeinrechtlichen Strafen betrifft. Aus diesem Zusammentreffen entstand hier ein Gladiatorenkampf im Fernsehen, bei dem Rechtsspitzfindigkeiten die Waffen waren. Jeder Strafaufschub wurde Chessmann durch ein anderes gerichtliches Verfahren erlassen und es gab keinen anderen Grund, deren Folge zu unterbrechen, als die nach zwölf Jahren und so vielen Bestsellern normale Ermüdung der Zuschauer. Da Chessman nach den Normen des american way of life sehr unsympathisch war, haben das Publikum und die Organisatoren der öffentlichen Emotionen schließlich den Daumen nach unten gedreht (seinen Tod gebilligt) — allein Chessmans letzter Aufschub stand außerhalb des Spektakels, da er durch lokalisierte diplomatische Erwägungen verursacht und ohne Einsatz war. Außerhalb der Vereinigten Staaten war die allgemeine Empörung zweideutig, da sie gleichzeitig den Zugang zu diesem durch alle Informationsmittel maximal ausgenutzten Spektakel und einen Mangel an Gewohnheit und Unbefangenheit vor den Spielregeln zuließ: die öffentliche Meinung neigte nicht nur zur Begnadigung des Kämpfers, sondern sie beanstandete auch oft das Spektakel selbst im Namen der alten moralischen Regeln. Dieses Verhalten drückt vor allem die Verspätung aus, mit der diese Länder auf dasselbe Ziel zugehen — die Modernisierung des Kapitalismus und die dadurch siegreich gewordenen menschlichen Beziehungen. In dem Maße, wie Frankreich eine immer noch teilweise ökonomisch und politisch archaische Nation ist, hat man z.B. dort noch nie erlebt, wie ein Mensch nach zwölf Jahren unter den sunlights hingerichtet wird. Hier passiert es bloß, dass einer nach fast geheimgehaltenen Folterungen ganz einfach verschwindet. Chessman interessiert nicht als Opfer im allgemeinen, sondern dadurch, dass er an der Welt Brigitte Bardots und des Schahs von Persien teilhatte — als Pechvogel und Opfer eben dieser Welt, der Welt der Repräsentation des Lebens für die aus dem Leben ausgeschlossenen passiven Massen.

Die Gesellschaft, die die ersten menschlichen Verhaltensweisen einführen wird, braucht es nicht im Namen dieser oder jener humanistischen bzw. metaphysischen Mystifikation der Vergangenheit zu tun. Indem sie die Bedingungen der freien Schaffung seiner eigenen Geschichte für jeden verwirklicht, versetzt sie all die Formen des Spektakels — die unteren sowie die höheren — dahin, wo sie hingehören: in’s Museum der Altertümer, neben den Staat.

Seit 1958 fanden in Belgien folgende Vorfälle statt: 1. Hornu am 27.Dezember 1958: 2 Verwundete; 2. Quaregnon, Dezember 1958: ein Toter (Hacène Kitoumi, FNL-Sympathisant); 3. Jemappes, 1959: ein Verwundeter (Nor Tayeb, FNL-Sympathisant); 4. Elonges, 12.Mai 1959: ein Toter (Houat Ghaouti) und ein Verwundeter (Hadj Mirebad, FNL-Sympathisant); 5. Quiévrain: ein Toter (Lounas Sebki, FNL-Sympathisant); Charleroi: missglücktes Attentat auf Chérif Attar (FNL-Sympathisant); 7. Mons: ein Toter (Sais Moktar, MNA-Führer, der sich der FNL angeschlossen hatte); 8. Bléharies: Berthommier wird mit einer Bombe festgenommen; 9. Brüssel, 9.März 1960: Akli Aissiou wird ermordet; 10. Lüttich, 25.März 1960: G.Laperches wird ermordet, missglücktes Attentat auf P. Legrève in Issel.

Diese regelmäßig auf belgischem Gebiet verübten Attentate gegen algerische Arbeiter und politische Flüchtlinge können einen einzigen Sinn haben und zwar die Einführung einer Terrorstimmung gegen die algerischen Emigranten. Denn die subversive Tätigkeit der in Belgien niedergelassenen algerischen FNL-Mitglieder ist gleich null. Die Waffen- und Sprengstoffkäufe werden äußerst regelmäßig mit der schweigenden Einwilligung der belgischen Regierung und durch Mittelsleute wie Puchers getätigt. Außerdem waren die ermordeten Algerier keineswegs wichtige FNL-Verantwortliche. Bezweckt wird die Verwirrung der Algerier, die so zu brutalen Gegenmaßnahmen verleitet werden sollen, was der belgischen Polizei ermöglichen würde, diejenigen auszuweisen, die in Belgien wohnhaft sind, und keinen Flüchtling mehr aus Frankreich einzulassen. Die Polizei spielt den französischen Geheimdiensten in die Hände, indem sie schon verübte und doch einen deutlichen Stempel tragende Attentate vorgibt, um täglich Algerier auszuweisen (20 Ausweisungen seit Aklis Ermordung).

Die Ausstellung, die unter dem Namen „Antagonismen“ im Februar im Pariser Museum der Dekorativen Künste vom „Komitee für Kunst des Kongresses für die Freiheit der Kultur“ organisiert wurde, war der unbedingte Ausdruck einer letzten Anstrengung des französischen Chauvinismus, um sich dort zu behaupten, wo er die Mittel dazu zu haben glaubt — in der Kunstgeschichte, durch das Wiederaufblasen und Zusammenkleben einer „Pariser Schule“, deren Umkreis nirgends, ein Mittelpunkt aber nur in Paris wäre. Dieser Luftballon überdeckt wohl alles und in erster Linie die Hoffnung, aus dem mitten in Washingtons neuem römischen Reich liegenden Paris von Malraux eine Art Griechenland zu machen, das bereit wäre, seine wilden Sieger und Sammler zu fangen. Man muss den dicken Katalog lesen, in dem Julien Alvard sich auslässt, um sich ein klares Bild von der herrschenden Kunstauflösung zu machen, über die immer öfter mit geistigen Worten berichtet wird, die selbst verdorben sind.

„Luther“, so Julien Alvard, nachdem er festgesetzt hat, „das sei nicht wegen der bloßen komischen Seite des Zusammenhangs gesagt“, „biete eine ziemlich gute Einleitung zu den Malern, die zunächst durch die Gebärde bzw. durch Flecken aufgetreten sind.“ Und er zitiert dabei den Pfaffen Georges Mathieu, den er damit munter der Ketzerei preisgibt. Zusammen mit Luther werden auf gleichem Fuß Ruskin, Nietzsche und — natürlich! — Stephane Lupasco annektiert. Hundert wichtige Namen des modernen Denkens werden gleichfalls genannt — alle widersinnig.

Bei einer solchen Verschwendung ist die seltsame Art bemerkenswert, wie der Expressionismus erwähnt und umgangen, gleichzeitig nach Paris verlagert und zufälligerweise (siehe S. 15-16) verlegt wird. Dieser Entschluss, den deutschen und nordeuropäischen Charakter des Expressionismus verschwinden zu lassen, sowie die für einen so ungeschickten Aufschneider wie Alvard daraus entstehende Verlegenheit verführt ihn dazu, unter all den in seinem nebelhaften Katalog abgedruckten Bildern bloß einen Stich von Nolde vorzustellen. Und noch dazu ist dieser Kirchner zugeschrieben, denn, das dachte man sich doch, die Wachhunde der Museen des „Kongresses für die Freiheit der Kultur“ scheuen sich nie davor, sich Freiheiten mit der Kultur zu nehmen; besonders dann, wenn ihre Arbeit ihnen lästig ist. Werden in Alvards ausgedehntem philosophischen Salat zwei Leute — Hegel und Kierkegaard — erstaunlicherweise nicht erwähnt, so geschieht das selbstverständlich nicht aus einem Mangel an journalistischen Informationen des Verfassers, sondern vielmehr aus Angst vor all dem, was man von den beiden ausgehend finden würde; was sowohl die moderne Kunst als auch den Daseinsgrund dieses schändlichen Kongresses ziemlich gut erklären würde.

Kurz, der riesige Bankrott der „Antagonismen“-Ausstellung ist der des betreffenden Komitees und seinesgleichen gegenüber den aktuellen Problemen der Kultur. So wird bewiesen, was klar vorauszusehen war, dass es für die unbedingten Befürworter der Konfusion, diejenigen, für die die Verbindung mit ihr in der Kultur und im gesellschaftlichen Leben eine Lebensbedingung ist, gefährlich sein würde, eine Gesamtdarstellung zu versuchen — wäre es auch unter dem Zeichen der Konfusion, wäre es auch im Stil Alvards.

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