Grundrisse, Nummer 18
Juni
2006
Helmut Dahmer (Hg.) Leo Trotzki:

Sozialismus oder Barbarei!

Eine Auswahl aus seinen Schriften

Wien: Promedia, 2005, 176 Seiten, 12,90 Euro.

Trotzki – Wenn Sozialismus zur Barbarei führt

Warum sollten wir heute noch Trotzki lesen? Entwickelte er eine alternative Theorie zum russischen Staatssozialismus, oder war er nur ein „gescheiterter Stalin“, wie ihn der Linkskommunist Willy Huhn nannte? Der russische Revolutionär Trotzki durchlief eine Wandlung vom kriegskommunistischen Scharfmacher während des russischen Bürgerkrieges (1919-1921) zum Apologeten der Sowjetdemokratie und zum Kritiker der Entwicklung der Sowjetunion zum „bürokratisch entarteten Arbeiterstaat“. 1940 wurde Trotzki im mexikanischen Exil von einem Agenten Stalins ermordet.

Da seine Schriften ganze Bibliotheken füllen können, hat Helmut Dahmer nun eine kurze Auswahl aus seinen Schriften zur Einführung herausgegeben. Dahmer schreibt in der Einleitung: „Außer ein paar Fachleuten und Sektierern liest niemand mehr Stalins Schriften oder die von Mao Tse-Tsung, keiner will sich mehr dieser Götzen erinnern.“ Trotzki lebe aber weiter im Gedächtnis von vielen Menschen als Mann der „Feder und des Schwertes“ (Dahmer 2005: S.21).

Trotzki: Ich bin’s

Eine Auswahl aus Trotzkis Schriften ist sicherlich sinnvoll, da viele immer den gleichen Tenor haben: Die stalinsche Führung habe durch ihre falsche Politik in allen revolutionären Situation in allen Ländern die Weltrevolution vergeigt. In Deutschland, Frankreich, China oder Spanien hätte das Proletariat die Macht übernehmen können, wenn an seiner Spitze eine Kaderpartei und ein Führer in der Tradition Lenins gestanden hätten, sprich Leo Trotzki himself. In Schriften wie „Mein Leben“ oder „Die permanente Revolution“ versuchte Trotzki nachzuweisen, dass nur er selbst, der einzig legitime Nachfolger Lenins, von Stalin um sein Erbe gebracht wurde und mit der Theorie der „permanenten Revolution“ die Grundlage für Oktoberrevolution und alle anderen Revolutionen auf der ganzen Welt geliefert hätte. Der „bürokratisch entartete Arbeiterstaat“ könne durch eine neue Revolution in der Sowjetunion oder eine im Westen wieder unter einer neuer Führung, sprich unter Leo Trotzki, wieder zurück auf den richtigen Weg gebracht werden.

Trotzkis Werdegang ist jedoch weitaus widersprüchlicher. Willy Huhn wies darauf hin, dass Trotzki schon 1905 die Räte als Anhängsel der Parteiherrschaft betrachtete und auch im Exil das Konzept der leninistischen Kaderpartei trotz der Erfahrungen in der Sowjetunion grundsätzlich nie in Frage stellte.

Weiße Flecken in Trotzkis Biographie

Dahmer verschont den Leser mit Trotzkis Bewerbungsschreiben zum Generalsekretär der KPdSU. Er hat für seine Broschüre überwiegend kurze Texte Trotzkis ausgewählt und nur einige Seiten aus seinen zentralen theoretischen Schriften. Bei der Auswahl fällt ins Auge, dass Auszüge aus „Terrorismus und Kommunismus“ und anderen Schriften aus der Zeit des Kriegskommunismus fehlen. In dieser Schrift entwirft Trotzki die erschreckenste Version eines Kasernensozialismus, die je entworfen wurde. Die Arbeit soll militarisiert werden und „Deserteure“ in Konzentrationslager eingewiesen werden. In „Arbeit, Disziplin und Ordnung werden die sozialistische Republik retten“ von 1918 gab Trotzki zu, dass das Rätesystem in der Armee nur einen Sinn mache, um die Kommandogewalt in bürgerlichen Armeen zu brechen, nicht aber in einer sozialistischen Armee weiter bestehen solle (Trotzki 1919: S.22). Trotzki ließ auch den Aufstand von Kronstadt für „Räte ohne Bolschewiki“ 1921 blutig niederschlagen.

Ich finde diese Schriften Trotzkis hochspannend, weil die Militarisierung der Arbeit in der Sowjetunion im 2.Weltkrieg und in China 1958 auf dem Land umgesetzt wurde und Trotzki die Grundlagen für den sogenannten „Kriegskommunismus“ gelegt hat. Dahmer möchte diese „weißen Flecken“ im Leben Trotzkis nicht aufarbeiten. In den von ihm herausgegebenen Trotzkis Schriften, die tausende von Seiten umfassen, fehlt bisher noch ein Band über diese Periode.

Die permanente Revolution: Ein Programm auf dem Papier

Fraglich ist, ob Leser ohne Vorkenntnis Trotzkis Theorie der permanenten Revolution auf Grundlage von Dahmers kurzer Auswahl verstehen können. Trotzki glaubte nicht, dass es eine eigenständige demokratische Etappe der proletarischen Revolution geben könne. Er schrieb schon 1906, dass das Proletariat, wenn es an die Macht kommt, gezwungen sei, zu einem sozialistischen Programm überzugehen und den Klassenkampf auf dem Land zwischen „landwirtschaftlichem Proletariat“ und „ackerbauender Bourgeoisie“ zu entfachen (Dahmer 2005: S.37). Die Rolle der Bauernschaft könne dabei weder selbstständig noch führend sein (ebenda: S.66). Sie würde sich immer nach den stärksten Bataillonen richten.

Wirft man einen Blick auf das 20.Jahrhundert, dann wird klar, dass im 20.Jahrhundert keine Revolution auf Boden dieses Programms siegte. Wie die Linkskommunisten schon in den 20er Jahre richtig erkannten, war die russische Oktoberrevolution eine bürgerliche Revolution (Brendel 1958). Ihre wichtigsten Maßnahmen waren der Friedenschluss, die Einführung der Arbeiterkontrolle und die Bodenreform. Durch diese Reform wurde der Boden nationalisiert, den Bauernfamilien übergeben und ganz Russland zur Dorfgemeinde erklärt. Wie heute in jedem guten Buch zur russischen Geschichte steht, überlebte in Russland die Dorfgemeinde und es entwickelte sich nur begrenzt Privateigentum. Der Boden wurde jedes Jahr unter den Familien neu verteilt. Trotzki lehnte wie Lenin jahrlang diese „schwarze Umverteilung“ als Programm der Revolution ab und sah den russischen Bauern nur in den westlichen Kategorien von Landproletariat und Landbürgertum. Anders ausgedrückt: Vor dem Hintergrund der heutigen Forschungsergebnisse hatte Trotzki keinen blassen Schimmer von den Agrarverhältnissen in Russland.

Der Versuch 1919 den Klassenkampf auf das Dorf zu tragen (sprich die „permanente Revolution“ zu machen) scheiterte kläglich und führte zu Bauernaufständen. Als die Bolschewiki durch Kronstadt und hunderte lokaler Bauernaufstände 1921 gezwungen wurden die NÖP (Neue Ökonomische Wirtschaftspolitik) einzuführen, war dies nichts anderes als die Anerkennung des bürgerlichen Charakters des Oktobers. Die Bauern konnten zumindest vorrübergehend den Kommunisten ihr Programm aufzwingen. Stalin war sich über den bürgerlichen Charakter des Oktobers im Klaren. Später beteiligte er sich jedoch führend daran, die Legende von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in der ganzen Welt zu verbreiten.

Die Oktoberrevolution blieb das einzige Beispiel einer siegreichen Revolution unter Führung von Kommunisten, in der das Industrieproletariat eine entscheidende Rolle spielte. In China, Vietnam oder Korea siegten Bauernarmeen unter Führung von kommunistischen Intellektuellen. In keinem dieser Länder hätten die Kommunisten auf dem Boden eines sozialistischen Programms an die Macht kommen können, sondern sie versprachen eine Bodenreform und die nationale Befreiung des Landes.

Arbeiterstaat bleibt Arbeiterstaat: Trotzkis Kritik an der Sowjetunion

Dahmer wählte einige Artikel Trotzkis aus, um seine Kritik an Stalins Sowjetunion zu untermauern, die dieser kurz vor seinem Tod und während des Hitler-Stalin-Pakts schrieb. Analytisch geben diese Hasstiraden heute nicht mehr viel her. Lesenswert ist daher heute immer noch Trotzkis Schrift von 1936 „Die verratene Revolution“. Darin kritisiert er den „Rollback“ der 30er Jahre: Aufkommen des Nationalismus, Gängelung der Kunst durch einen „Sozialistischen Realismus“, Wiedereinführung der Offiziersränge in der Roten Armee, ein Verteilungssystem zur Kontrolle der Arbeiter, die Propaganda für die „heilige Familie“, die Wiederkehr reaktionärer Erziehungsmethoden oder Volksfrontpolitik, die zur Unterordnung unter Bürgertum oder Sozialdemokratie führte. So richtig diese einzelnen Kritikpunkte waren, so wenig konnte Trotzki über seinen staatssozialistischen Schatten springen. Solange es Staatseigentum gab, musste er die Sowjetunion als Arbeiterstaat bezeichnen, egal wie „entartet“ er ihn fand. Dass Staatseigentum als solches noch lange keine Garantie für gesellschaftliche Emanzipation sein muss, war für Trotzki nicht denkbar (Kritik an Trotzkis Sozialismus-Konzeption siehe Reitter und Pam 2005).

Seine scharfe Kritik an Lenins Parteimodell von 1904 „Jakobinismus oder Sozialdemokratie“, das er als einen „Orden von Berufsrevolutionäre“ bezeichnet, der eine Diktatur über das Proletariat errichten wolle, griff er später in dieser Schärfe nicht wieder auf. Trotzki muss schließlich, um seine ganze Argumentation aufrecht halten zu können, zwischen dem guten Lenin und dem bösen Stalin unterscheiden. Zu einer selbstkritischen Reflektion seiner eigenen Rolle an der Macht war Trotzki nicht in der Lage.

Faschistische Bewegung als „menschlicher Staub“

Zu den beeindruckenden Texten in Dahmers Auswahl gehören Trotzkis interessante Faschismusanalysen. Im „Porträt des Nationalsozialismus“ von 1933 sah er die Nazis nicht nur als Handlager oder Marionetten des Finanzkapitals, wie es in der Kommunistischen Internationalen üblich wurde. Er benennt durchaus den eigenständigen Charakter der kleinbürgerlichen Bewegung, die auch einige Widersprüche zu den Interessen des großen Kapitals verkörpert. 1933 nimmt Trotzkis das Programm der NSDAP noch nicht ernst, wenn er schreibt, es „erinnert nur zu sehr an die jüdischen Warenhäuser der finsteren Provinz. Was findet man dort nicht alles – zu niedrigem Preis und in noch niedrigerer Qualität“ (Dahmer 2005: S. 99). 1938 warnte er jedoch vor „der Gefahr der Ausrottung des jüdischen Volkes“.

Trotzki erkennt zwar den selbstständigen Charakter der nationalsozialistischen Bewegung und schreibt, dass das alte und neue Kleinbürgertum die Hälfte des deutschen Volkes ausmacht (ebenda: S.94). Die Millionen Anhänger des NSDAP sieht er aber als menschlichen Staub (ebenda: S.86). Obwohl Trotzki klarer als andere Kommunisten der damaligen Zeit erkannte, dass der Nationalsozialismus viel mehr als nur ein Rammbock der Bourgeoisie gegen die Arbeiterbewegung ist, kann er sich nicht aus der Ideologie befreien, dass sich das Kleinbürgertum immer nach den stärksten Bataillonen richtet. Was ist, wenn es selber die stärksten Bataillone stellt? Letztes Endes ist die Frage der Gewinnung der Bauern und des Kleinbürgertums für die Revolution für Trotzki nur eine Frage der Arbeitereinheitsfront. Wenn der Kleinbürger im Arbeiter seinen neuen Herren erblickt, wird er ihm schon folgen, glaubt Trotzki (ebenda: S.84).

Zwangsjacken abstreifen!

Insgesamt ist in Dahmer Broschüre Trotzkis Theorie etwas zu kurz gekommen und kann Lesern ohne Vorkenntnisse nur einen ersten Einblick vermitteln. Der weiße Fleck, Trotzki als Theoretiker des Kasernensozialismus, und Dahmers selbstgerechtes Vorwort tragen nicht gerade dazu bei, Trotzkis Widersprüchlichkeiten zu thematisieren. Trotzki, Lenin und Stalin sind heute nur für Marxisten interessant, die sich die Revolution als Eroberung der Staatsmacht durch eine Kaderpartei vorstellen.

Im 21.Jahrhundert stellen sich die Fragen der Revolution nach dem weltweiten Sieg des Kapitalismus heute völlig anderes. Alle Versuche, eine gesellschaftliche Emanzipation durch die Eroberung der Staatsmacht herbeizuführen, sind gescheitert. Bewegungen, die Staat und Kapital überwinden wollen, können heute nicht mehr in die theoretischen Zwangsjacken des Leninismus gesteckt werden. Danach macht die Partei eine Klassenanalyse (halbfeudal oder kapitalistisch) und bestimmt die richtige Revolutionsetappe (demokratisch oder sozialistisch / im Bündnis mit den Bauern oder nur mit den Arbeitern).

Wir wollen nicht mehr bestimmen, welche Bedürfnisse und Forderungen geäußert werden dürfen und welche auf später vertagt werden müssen, oder wer zum Bündnispartner oder Sympathisanten degradiert wird. Revolutionäre Netzwerke könnten alle subversiven Forderungen, Kräfte, Wünsche und Bedürfnisse gegen den Kapitalismus in ihrer Vielfalt und Differenz umschließen. Es wäre zu wünschen, dass sie weder zeitlich, noch thematisch noch territorial begrenzt und hierarchisiert sind. Minimal-, Maximal- oder Übergangsprogramme zur Hierarchisierung des Kampfes und Disziplinierung der Parteimitglieder würden die Revolte und ihre Theorien nur schwächen.

Die Dialektik, Diktatur und Gehorsam verstärken zu müssen, um Selbstverwaltung zu schaffen, hat ihr Versprechen nicht eingelöst. Die Infragestellung von Herrschaft und Unterdrückung muss auch für die eigene Bewegung gelten und nicht auf den Tag X nach einer so genannten Machtübernahme vertagt werden. Wenn heute eins von Trotzkis Schriften bleibt, dann ist es die Erkenntnis, dass auch der Sozialismus zur Barbarei führen kann.

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