radiX, Nummer 3
Mai
2000

Struktureller Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik

Daß auch die Linke nicht vor mehr oder weniger offenem Antisemitismus gefeit ist, wurde auch bei uns schon des öfteren angesprochen und müßte mittlerweile bekannt sein. In diesem Artikel soll es aber nicht um diesen „offenen Antisemitismus“ der Linken gehen, sondern um strukturelle Ähnlichkeiten verkürzter Kapitalismuskritik mit dem modernen Antisemitismus, die insbesonder in der Globalisierungsdebatte der letzen Jahre immer häufiger zu finden sind.

Juden und Geld

Bereits im Hochmittelalter — also noch vor der Entwicklung moderner, kapitalistischer Produktionsverhältnisse — wurden Jüdinnen und Juden immer wieder mit Geldgeschäften, mit dem „Abstrakten“ im Gegensatz zur „konkreten, produktiven Arbeit“ in Verbindung gebracht. Der „geistige Führer des Zweiten Kreuzzugs — der wie der Erste vor allem auch ein Kreuzzug gegen die Juden war — Bernhard von Clairvaux, ersetzte in seinen Predigten das Geldverleihen gegen Zinsen einfach mit dem Wort Judaisieren, lat. iudaicare.“

Der traditionelle Antisemitismus des Mittelalters war damit nicht nur religiös bedingt, sondern auch bereits ein ökonomischer Antisemitismus. „Juden“ wurden mit Geldgeschäften gleichgesetzt. Die Wut der Bäuerinnen und Bauern in den Bauernkriegen richtete sich nicht nur gegen Klöster, Grafen und andere Grundbesitzer, sondern auch gegen Jüdinnen und Juden. Kein Wunder, daß Jahrhunderte später sowohl die deutsche Arbeiterbewegung wie der deutsche Antisemitismus und seine extremste Form im Nationalsozialismus sich auf die Bauernkriege von 1525 als historische Vorläufer beriefen.

Diese Tradition setzt sich dann auch in der frühen Arbeiterbewegung bei Proudhon oder Lassalle fort. Proudhons Antisemitismus betreibt erneut die Unterscheidung der Zirkulationssphäre von der Produktionssphäre. Bereits hier bleibt die Kapitalismuskritik in der Kritik der Zirkulation stehen. Jüdinnen und Juden werden mehr oder weniger offen mit der kritisierten Zirkulation in Verbindung gebracht.

Bei Marx sind zwar auch — insbesondere in seiner Schrift über die „Judenfrage“ — antisemitische Positionen zu finden, zu einem in sich geschlossenen Antisemitismus kommt er jedoch nicht. Vor allem aber betreibt er keine grundsätzliche Abtrennung von Zirkulation und Produktion. Einer Zuschreibung von „Juden“ in den Bereich der Zirkulation wird deshalb basierend auf Marx unmöglich.

Gesell, Schwundgeld und Tauschkreise

Auf den Theorien Proudhons basierend entwickelte der 1862 geborene Autodidakt Silvio Gesell eine Wirtschaftstheorie die er in seinem 1911 erschienen Hauptwerk „Die natürliche Wirtschaftsordnung“ niederschrieb. „Bei Gesell bedeutet Mehrwert Zinsen und Renten“. Schon Proudhon habe behauptet, das „Problem liege in der Zirkulation, weil die Knappheit des Geldes Produktion und Austausch lähmten. Genauer gesagt seien es die Geldbesitzer, die dieses Tauschmittel horten, um Zinsen zu kassieren.“

„Gesell fordert das Recht aller Arbeiter (gemeint sind [...] Kapitalisten und Lohnabhängige) am“gemeinsamen vollen Arbeitsvertrag„, das heißt ohne Abzug von Zinsen oder Renten. [...] Durch den Wegfall der Zinsen und Renten würden sich alle Einkommen erhalten, verteilt wird ‚nach den Gesetzen des Wettbewerbs‘ gemäß dem Prinzip: ‚Dem Tüchtigsten der höchste Arbeitsertrag.‘“

Mit der Einführung eines „Schwundgeldes“ will Gesell verhindern, daß Geld gehortet und Zins abgeschöpft wird. Das Geld verliert ständig an Wert und muß dadurch ausgegeben werden, heizt also die Wirtschaft an. Gesell kritisiert ausschließlich den Geldkreislauf, die Produktion, das „schaffende Kapital“ ist jedoch für ihn positiv besetzt.

Gesell löst in seiner Wirtschaftstheorie nicht nur zwei nicht wirklich trennbare Dinge voneinander, nämlich das „gute, produktive“ (schaffende?) und das „schlechte, unproduktive“ (raffende?) Kapital, sondern vertritt auch insgesamt immer wieder ein sozialdarwinistisches, eugenisches, rassistisches und offen antisemitisches Weltbild.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Gesell dann auch in der offen antisemitischen Kommune „Oranienburg-Eden“. „‚Außer vegetarischer Ernährung‘ heißt es im Programmheft von Eden 1917,“war zum ‚natürlichen‘ Leben in der alternativen Kommune ‚deutsch-völkische Gesinnung Voraussetzung.‘ Und dazu befähigt nur deutsches Ariertum.„Silvio Gesells Wirtschaftstheorie hatte in der Phase der Deflation in den frühen 30er Jahren in Österreich und Deutschland eine gewisse Bedeutung (siehe z.B.“Wörgler Experiment" des dortigen SDAP-Bürgermeisters) und wurde von Anfang an zu einem Einfallstor von antisemitischem und faschistischem Gedankengut in die Linke.

Nach 1945 bekamen die Freiwirtschafts-Gruppen in der Nachfolge Gesells ihre Bedeutung aus den 30er Jahren nicht mehr zurück, existierten aber weiter und beteiligten sich sowohl in rechtsextremen Bewegungen wie in christlichen Gruppen, Teilen des Anarchismus (z.B. Karin Kramer Verlag) oder dem Aufbau der Ökologiebewegung und der Grünen.

Eine größere Bedeutung erreichten sie aber erst wieder in den letzten Jahren, als nach dem Zusammenbruch des „Realsozialismus“ viele Gruppen auf der Suche nach anderen Alternativen zum Kapitalismus auf die vermeintlich antikapitalistische Alternative von Gesells „Freiwirtschaft“ stießen.

Auf dieser Theorie Gesells beruhen sowohl diverse Tauschringe und Schwundgeldexperimente, wie das etwas modernisierte LETS-System.

Da die AnhängerInnen Gesells immer behaupten ihre Wirtschaftstheorie wäre „unpolitisch“, eine reine Wirtschaftstheorie die unabhängig von den anderen politischen Einstellungen ihrer Akteure funktioniert, wird sie oft einem Einfallstor für antisemitisches und rechtsextremes Gedankengut in die Linke. Gesells Freiwirtschaftslehre ist einer jener Punkte wo die neurechte Strategie eines crossovers von rechts und links vermehrt funktioniert.

Der Antisemitismus kommt dabei nicht primär über den offenen Antisemitismus ihres Gründers und seiner Umgebung, sondern über die verkürzte Kapitalismuskritik der FreiwirtschaftlerInnen. Wenn nur der Geldkreislauf kritisiert wird und die grundsätzliche Gleichheit von „produktivem“ und „Finanzkapital“ nicht gesehen wird, wird dies gepaart mit der traditionellen Gleichsetzung von „Juden“ mit „Finanzkapital“ zu einem Einfallstor für offenen Antisemitismus.

Personifizierung des Kapitalismus

Aber auch in der traditionellen, marxistischen, anarchistischen und feministischen Linken finden sich oft massive strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Weltbild des Antisemitismus.

Insbesondere die Personifizierung des Kapitalismus führt oft zu diesen strukturellen Ähnlichkeiten. Im traditionellen Bewegungsmarxismus wird nicht versucht, „die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Totalität zu bestimmen und aufzuheben, sondern lediglich ein Moment innerhalb dieser Konstellation vertreten das in antagonistischem Widerspruch zur Gesellschaft steht und dem zu“seinem Recht„verholfen werden soll. Die Kategorie Wert, die das Kapitalverhältnis konstituiert, bleibt außerhalb jeder kritischen Betrachtung und erscheint lediglich in der Figur des Mehrwerts, der vom Kapitalisten bzw. der Kapitalistin einbehalten wird, also als grundsätzlich positive Kategorie, die es sich anzueignen gilt.“

Es wird also nicht primär der Kapitalismus bekämpft, sondern die Kapitalisten. In diesem Weltbild steht einer „bösen“ KapitalistInnenklasse eine „gute“ ArbeiterInnenklasse gegenüber und es genügt, wenn die ArbeiterInnenklasse der KapitalistInnenklasse das Kapital und die Produktionsmittel entreißt. In der konkreten politischen Arbeit dieser Gruppierungen heißt das dann, daß es genügt sich auf die Seite der ArbeiterInnenklasse zu stellen und ihr zu ihrem Recht zu verhelfen.

Wiederum wird nur die Sphäre der Zirkulation und nicht jene der Produktion hinterfragt, Kapitalismus nur als „Verteilungsproblem“ wahrgenommen in dem einige „bösartige Reiche“ den „armen Ausgebeuteten“ ihren gerechten Lohn vorenthalten. Dieselbe Argumentationsweise findet sich aber nicht nur in der klassischen Linken, sondern auch in einer Reihe von KonzernbekämpferInnen aller Art. Da wird etwa Mc Donalds als Einzelfeindbild bekämpft gegen das Kundgebungen und Demonstrationen organisiert werden. Niemand kommt auf die Idee, daß Mc Donalds nur die erfolgreichere Variante von Schnitzelhaus, Pizza Hut und dem Würstelstand um die Ecke darstellt.

Daß das Unrecht nicht Systemcharakter ist, sondern Namen und Adresse hätte — der Kapitalismus also nichts anderes wäre als eine Verschwörung bösartiger Reicher — ist ein alter Mythos breiter Teile der Linken.

„Welchen Namen und Adresse diese ominöse allgegenwärtige Macht trägt, die stellvertretend für die Schattenseite der Moderne steht, war nicht erst für die Nazis, sondern bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert für eine breite gesellschaftliche Strömung eine ausgemachte Sache:“Die Juden sind unser Unglück„(Treitschke)“

„Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“

Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ spielte nicht nur in den Leninistischen KP’s, den K- und Antiimp-Gruppen der neuen Linken eine wichtige Rolle sondern hinterließ seine Spuren auch in vielen Teilen jener Linken die sich nicht auf Lenin berufen oder diesen auch dezidiert ablehnen. Gerade in der MAI- und Globalisierungsdebatte spielten Argumente der leninistischen Imperialismustheorie mehr oder weniger versteckt eine wichtige Rolle.

Lenin interpretiert dabei „den historischen Übergang zum Aktienkapital als eine qualitative Veränderung des Kapitalismus: als Ablösung des freien Konkurrenz- durch den Monopolkapitalismus, der durch einige wenige“Finanzoligarchen„kontrolliert werde und in dem das“blinde Wüten des Wertgesetzes„partiell aufgehoben sein. Dies sein durch das bürgerliche Kreditwesen verursacht, welches sich die ganze Produktion unterwerfe und seinen verwerflichen Zielen zunutze mache.“

Für Lenin ist das Zinskapital nicht wie für Marx die „fetischartigste Form“ des Kapitals, sondern ein „unmittelbar personalistisch verstandenes Herrschaftsverhältnis“

Bei dieser vermuteten Allmacht der „Finanzoligarchen“ in einem Monopolkapitalismus wird sehr schnell die Parallele zu Verschwörungstheorien der Rechten sichtbar. Die Attribute die dem „internationalen Finanzkapital“, der „Finanzoligarchie“, ... zugeschrieben werden sind fast 1:1 die selben die von AntisemitInnen den Juden zugeschrieben werden: Allmacht, Globalität, Böswilligkeit, Klandestinität, ...

Und so stellen sich AntisemitInnen die Welt ganz ähnlich vor: überall sehen sie „Bonzen“ und „Parasiten“ am Werk, die das Volk ausbeuten und der Internationalisierung preisgeben, weil sie nur den kurzfristigen Profit der Finanzkapitalisten und nicht das Allgemeinwohl im Auge hätten, daß also „das internationale Finanzkapital über die regierenden Systemparteien an der Zerstörung von Sozialstaat und Kultur [...] arbeitet.“

Globalisierung und MAI

Das verkürzte Kapitalismusverständnis Lenins mit seinen Parallelen zum modernen Antisemitismus kommt jedoch nicht nur in leninistischen und antiimperialistischen Gruppen vor. Gerade in der jüngsten Debatte um das MAI-Abkommen und die „Globalisierung“ sind ähnliche Verkürzungen und damit verbundene Parallelen zu antisemitischen Weltverschwörungstheorien wieder modern werden. Der Nationalstaat ist plötzlich auch für Linke wieder verteidigenswert geworden. Wenn nicht nur Helmut Schmidt den Nationalstaat gegen den „globalen Irrsinn“ der „heißen Spekulanten“ und deren „Raubtierkapitalismus“ verteidigt, sondern selbst der „Anarchist“ Noam Chomsky oder eine breite Front von MAI-GegnerInnen, dann haben verkürzte Kapitalismuskritik und Verschwörungstheorien einmal mehr die Hegemonie in der Linken errungen.

Wieder einmal wird Spekulation nicht als etwas begriffen das jeder und jede im Kapitalismus betreiben muß, da sie „zu den tagtäglichen Erledigungen aller Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft“ gehört, sondern als etwas das nur von den „bösen Spekulanten“ betrieben wird.

Dabei ist „jede Marktkalkulation [...] eine Spekulation. Bei der Börsenspekulation ist das nur am meisten einsichtig, weil dort die Verwertung in ihrer abstraktesten Form (G-G´) auftritt, scheinbar jeder stofflichen Verunreinigung enthoben.“

Mit der Unterscheidung von Finanzkapital und produktivem Kapital, von Spekulanten und Nichtspekulanten können jedoch Schuldige ausgemacht werden, kann wieder einmal die Wut über den Kapitalismus zu einer Wut auf bestimmte Bösewichte umgewandelt werden.

Proteste wie die jüngsten in Seattle bleiben deshalb letztlich so lange auf halbem Weg stecken, so lange sie einzelne Kapitalisten — oder gar weltverschwörerische Welthandelsorganisationen — angreifen, aber nicht zu einer Kritik des Kapitalismus als System finden. Es ist damit nicht wirklich verwunderlich, daß sich im Widerstand gegen die WTO nicht nur linke, sondern auch rechtsextreme GlobalisierungsgegnerInnen auf der selben Seite der Barrikade finden.

In Karikaturen werden die der Globalisierungskritik latent innewohnenden Weltverschwörungstheorien schon manifester. Die alles umschlingende Krake versucht die ganze Welt zu verschlingen und erhält allerorts Gegenwehr der „produktiven“ Arbeiter, ...

Auch wenn Weltverschwörungstheorien der Linken ohne „Weltjudentum“ oder „Freimaurer“ auskommen, sind die Eigenschaften die dem „Finanzkapital“ zugewiesen werden von frappierender Ähnlichkeit. Ein manichäisches Weltbild mit „Guten“ und „Bösen“ das diesen „Bösen“ antisemitisch konnotierte Eigenschaften und Begriffe zuordnet wird so auch ohne offenen Antisemitismus zu einem strukturellen Antisemitismus der letztlich schneller zu offenem Antisemitismus werden kann als mensch es für möglich halten mag.

Wenn schon in Malaysien, also einem Land, in dem der Antisemitismus nie eine nennenswerte Rolle gespielt hat, die Landesregierung im Zusammenhang mit dem laufenden Finanzcrash die Mär vom jüdischen Geldkapital aus dem Hut gezaubert hat, was ist dann erst in Weltregionen zu erwarten, in denen das antisemitische Ressentiment auf eine ganz andere Vorgeschichte zurückblicken kann?

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