Grundrisse, Nummer 35
September
2010
Jens Erik Ambacher & Romin Khan (Hg.):

Südafrika. Die Grenzen der Befreiung

Berlin/Hamburg: Assoziation A, 2010, 263 Seiten, Euro 16,00

Minimol

Die Lösung lautet immer ‚educate the poor‘. Wenn wir Cholera kriegen, dann erklären sie uns, dass wir unsere Hände waschen sollen, statt uns sauberes Wasser zu geben. Wenn unsere Baracken abbrennen, erklärt man uns die Gefahr von offenem Feuer, statt die Stromversorgung zu verbessern. Es ist eine Form, die Armen selber für ihre Probleme verantwortlich zu machen. Wir wollen Häuser und Boden in den Städten, wir wollen zur Universität gehen können, wir wollen Wasser und Strom. Wir wollen nicht dazu erzogen werden, wie wir unsere Armut besser ertragen können.

(Abahlali base Mjondo, Seite 247/48)

Die Fußballweltmeisterschaften sind vorbei, Südafrika aus den Schlagzeilen der deutschsprachigen Gazetten weitgehend verschwunden. Doch findet sich z.B. in der Frankfurter Rundschau von 21.8.2010 ein Artikel, der über den zu diesem Zeitpunkt seit drei Tagen andauernden Streik von mehr als einer Million im Öffentlichen Dienst Beschäftigter für höhere Löhne berichtet und im Schlusssatz auch auf den in der Woche zuvor stattgefundenen Streik von 16.000 Beschäftigten in der Autoindustrie verweist, der eine zehnprozentige Lohnerhöhung als Ergebnis nach sich zog. Dass dieser Streik in den südafrikanischen Werken von Daimler, BMW und VW – wie auch von Toyota, Nissan, Ford und GM – zum völligen Stopp der Produktion geführt hatte, erfahren wir nicht aus dem Artikel, dafür aber, dass die Gehaltsforderungen der Streikenden im Öffentlichen Dienst „unvernünftig“ seien, da sich der südafrikanische Staat in diesem Jahr bereits jetzt vor allem wegen der Investitionen im Zusammenhang mit der Fußball-WM mit 6,7 Prozent des Bruttosozialproduktes neu verschulden werden müsse. So viel zur Frage der positiven Auswirkungen der Fußballweltmeisterschaften auf die Bevölkerung des diesmaligen GastgeberInnenlandes.

Diese Frage war bereits im Vorfeld des Mega-Spektakels heftig umstritten. Romin Khan, einer der beiden Herausgeber des im April 2010 rechtzeitig vor den Fußballweltmeisterschaften erschienenen Buches „Südafrika. Die Grenzen der Befreiung“, widmet ihr einen Beitrag, in dem auch Achilles Mbembe, Professor für Geschichte und Politik an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, sowie Gaby Bikombo, mobiler Straßenfriseur und Organizer einer Vereinigung von Straßenfriseuren in Durban, ihre Erwartungen und Befürchtungen artikulieren.
Gerne hätte die Rezensentin mehr über SWEAT (Sex Worker Education and Advocacy Taskforce) erfahren, eine Organisation, die von Gaby Bikombo am Rande erwähnt wird und für die Legalisierung der Prostitution in Südafrika eintritt, die noch heute mit dem 1957 von der Apartheidregierung erlassenen Prostitutionsverbot belegt ist. Und fand dazu einen Artikel von Rita Schäfer, der die Debatte über eine etwaige Legalisierung der Prostitution im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaften zum Inhalt hat (http://www.fairunterwegs.org/aktuell/news/article/wm-2010-feierlaune-fuer-manche-prostitution-und-zwangsprostitution-in-suedafrika.html?cHash=ef416b6908). Im vorliegenden Sammelband hat Rita Schäfer einen der beiden Beiträge zu Frauenbewegungen in Südafrika verfasst.

Insgesamt liegt der Schwerpunkt in den Texten des Buches auf sozialen Bewegungen und Kämpfen im heutigen Post-Apartheid-Staat sowie in der Analyse des sozio-ökonomischen Kontextes, in dem diese agieren und der durch die spätestens seit 1996 neoliberale Ausrichtung der Politik der an der Regierung befindliche Drei-Parteien-Allianz unter Führung des ANC bestimmt wird. Während sich das „Reconstruction and Development Programme“ (RDP), mit dem der ANC die ersten freien Wahlen 1994 gewann, noch den Ausbau der sozialen Infrastruktur und die Bekämpfung der Armut zum Ziel setzte, verunmöglicht der „Growth, Employment and Redistribution Plan“ (GEAR), der 1996 unter Beteiligung von Vertretern der Weltbank und der Entwicklungsbank des südlichen Afrikas hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wurde, die Umsetzung dieser Zielsetzungen. Mit diesem Programm „schrieb die neue Regierung ihr Bekenntnis zu restriktiver Haushaltspolitik, geringer Unternehmensbesteuerung, Privatisierung, einem flexiblen Arbeitsmarkt sowie exportorientiertem Wachstum und bedingungsloser Integration in den kapitalistischen Weltmarkt fest.“ (Dale T. McKinley, Seite 29)

Auf der sozio-ökonomischen Ebene hat kein wirklicher Bruch mit der Apartheid stattgefunden, da zwar durch Affirmative-Action-Maßnahmen wie „Black Economic Empowerment“ eine schwarze Elite entstanden ist, die Armut weiter Teile der Bevölkerung sich jedoch zum Teil sogar noch verschärft hat. Die tiefe soziale Spaltung des Landes entlang rassifizierter Grenzen bestimmt das Leben der SüdafrikanerInnen immer noch. Und so sind viele Bewegungen im Kampf um verschiedene Aspekte der Grundversorgung (Land, Wohnen, Strom, Wasser, Gesundheitswesen) entstanden. In „Südafrika. Die Grenzen der Befreiung“ ist dem Landless People’s Movement (LPM) – eine Vereinigung, die aus einem Treffen verschiedener Gruppen und VertreterInnen von Landlosen aus allen Teilen Südafrikas 2001 in Durban hervorgegangen ist –, der Treatment Action Campaign (TAC) und der Geschichte des südafrikanischen Aids-Aktivismus ebenso wie dem Anti Privatisation Forum (APF), das seine Rolle darin sieht, Kämpfe gegen Privatisierungen in den Communities und an den Arbeitsplätzen zusammen zu bringen, jeweils mindestens ein eigener Beitrag gewidmet.

„Es sind die Kämpfe der ‚Überflüssigen‘, die gesellschaftlich als ‚Eaters and Sleepers‘ stigmatisiert werden, wie es Ashraf Cassiem von der Kampagne gegen Zwangsräumungen beschreibt. Der Großteil muss sich heute in der informellen Ökonomie mit unregelmäßigen und prekären Jobs durchschlagen. Vor dem Hintergrund der Abnahme regulärer Arbeitsverhältnisse und des Versäumnisses, ihre Strukturen auf prekäre und informelle Arbeitsverhältnisse auszuweiten, werden diese Gruppen nicht mehr von den Gewerkschaften erreicht.“ (Einleitung, Seite 13)

Doch auch das Erbe des Widerstands wirkt nach und wird von den Bewegungen kreativ weiterentwickelt. So schreibt Prishani Naidoo, Aktivistin des Anti Privatisation Forum (APF): „Der Gedanke, der Staat solle allen SüdafrikanerInnen einen ‚angemessenen‘ Lebensstandard garantieren, wurde schon durch die Anti-Apartheid-Bewegung artikuliert – in Dokumenten wie der Freedom Charter und in Kämpfen wie den Mietboykotten der 1980er und 1990er Jahre. Es ist genau diese in der Befreiungsbewegung propagierte Praxis des ‚Nicht-Bezahlens‘, die die heutige Regierung vor eines der größten Hindernisse bei der Einführung einer marktkonformen ‚Kultur des Bezahlens‘ stellt, denn der Widerstand gegen die Kommodifizierung der Grundversorgung ebbte auch nach 1994 nicht ab. Während die ANC-Regierung einerseits versucht, die Sprache der historischen Kämpfe in Schlagworte vom ‚verantwortungsbewussten Bürger‘ und der ‚nationalen Pflicht‘ zu transformieren, um der mangelnden Akzeptanz der Tauschlogik von Geld gegen Waren / Dienstleistungen etwas entgegen zu setzen, sehen wir in den heutigen sozialen Bewegungen gleichzeitig auch erneute Mobilisierungen entlang der Motive und Taktiken der vergangenen Kämpfe.“ (Prishani Naidoo, Seite 144/45)

Teil der Strategie zur Durchsetzung der Individualisierung gegen kollektives Nicht-Bezahlen ist die Einführung von Prepaid-Zählern sowohl bei Wasser als auch bei Strom: „Als Antwort auf das Abkoppeln von der kostenlosen Wasserversorgung, waren aus der individuellen Praxis, Wasseranschlüsse illegal wieder in Betrieb zu setzen, neue Bewegungen entstanden. Als in Gegenden wie Soweto immer mehr Haushalte von der Wasserversorgung abgeschnitten wurden, führte die Tatsache, dass viele BewohnerInnen sich wieder an die Wasserversorgung anschlossen und sich bei Versammlungen über ihre Probleme austauschten, zu einer Kollektivierung dieser Widerstandshandlung. Doch die Einführung der Prepaid-Wasserzähler führte eher zu einem entgegengesetzten Effekt bei Organisationen und Bewegungen. Der Einsatz der Zähler beschneidet effektvoll Widerstandsmöglichkeiten wie beispielsweise die eines Zahlungsboykottes. Mit dem Prepaid-Zähler wird der Zugang zu Wasser – über die kostenlosen ‚lebenserhaltenden‘ sechs Kubikmeter pro Monat hinaus – nur noch nach Bezahlung möglich. Bei Nicht-Bezahlung gibt es für den Wasserversorger keinerlei Notwendigkeit mehr, mit den KundInnen zu verhandeln. Stattdessen wird die Versorgungsleistung bis zur Zahlung einfach eingestellt.“ (Prishani Naidoo, Seite 145/46). Allerdings wird z.B. in dem 2010 fertig gestellten Film „Im Schatten des Tafelberges“, der die Lebensverhältnisse der BewohnerInnen von Armenvierteln am Rande Kapstadts zum Inhalt hat, sichtbar, dass mittlerweile widerständige Praxen zur Verbreitung des Wissens über das Umgehen dieser Vorrichtungen entwickelt worden sind.

Weniger erfreulich ist, dass die zutiefst gewalttätige Struktur des ehemaligen Apartheidstaates ebenfalls Spuren hinterlassen hat, was sich nicht zuletzt in der weit verbreiteten Gewalt gegen Frauen niederschlägt. Im Besonderen im Kampf gegen Aids wirken sich sowohl die mangelnde Grundversorgung mit Wasser und im Gesundheitswesen als auch die Gewalt gegen Frauen verheerend aus. Zackie Achmat, einer der Mitbegründer der Treatment Action Campaign (TAC), die durch ihren Kampf um bezahlbare Medikamente für HIV-positive Menschen weltweite Bekanntheit erreicht hat, erzählt im Gespräch, dass 70 Prozent der Mitglieder der TAC Frauen sind. „Arme Menschen sind besonders von der Pandemie betroffen und hier vor allem Frauen, die in den informellen Siedlungen leben. Dies steht in Zusammenhang mit der hohen Arbeitslosigkeit, der geringen sozialen Sicherheit und den daraus resultierenden Abhängigkeiten von Männern, in denen sich die vom Land in die Stadt migrierten Frauen befinden. Die Lebensbedingungen der Frauen in den informellen Siedlungen gehören zu den wesentlichen Triebkräften für die Ausbreitung der Pandemie. Dazu zählt auch die häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen. Bis zu 50.000 Vergewaltigungen werden pro Jahr bei der Polizei angezeigt, manchmal mehr. Aber nur eine von neun Vergewaltigungen wird überhaupt angezeigt.“ (Zackie Achmat, Seite 117/18)

Heidi Grunebaum, Yazir Henri und Usche Merk kritisieren in ihrem Beitrag über die Rolle der Wahrheits- und Versöhnungskommission, Truth and Reconciliation Commission (TRC), „normativ-juristische Menschenrechtskonzepte, die aus individualisierenden Vorstellungen des menschlichen Subjekts, dessen Handlungen und seiner Verantwortung abgeleitet sind. Dieser Aspekt, Konflikte nicht in ihrem kollektiven Charakter wahrzunehmen, ist für Wahrheitskommissionen konstituierend. […] Dieser Ansatz trennt die Frage nach den Ursachen der Konflikte von strukturellen Dimensionen ab. […] Die Entkopplung des Leids von seinen Ursachen sowie die Abtrennung der Entbehrungen von den damit verbundenen Profiten ermöglichte es, die materielle Dimension von Versöhnung zu ignorieren. […] Aufgrund der gesellschaftlichen Leugnung kolonialer Gewaltherrschaft und der fehlenden Aufarbeitung der Apartheid als rassistischem Kapitalismus, kam es in den letzten Jahren zu einer Vermischung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und institutioneller Rassismen. Damit geht die gesellschaftliche Normalisierung des Erbes aus der Zeit der Apartheid einher, wie die systemisch bedingte ökonomische Vormachtstellung der weißen Minderheit und die bittere Armut und Marginalisierung der schwarzen Bevölkerung.“ (Grunebaum/Henri/Merk, Seite 205/06) Und so sei schließlich Erinnerung „zu einem Objekt geworden, einem Gegenstand, einem Produkt, das in den Wirkungsbereich von Museen und der ‚Heritage-Industrie‘ eingegliedert wurde.“ (Seite 2010) Daran anknüpfend stellen die AutorInnen zwei sehr unterschiedliche Community-Initiativen vor, die der offiziellen Umdeutung der Geschichte, dem Zur-Ware-Verkommen von Erinnerung und dem silencing entgegen arbeiten. Zum Einen das Direct Action Center for Peace and Memory (DACPM), das 1998 von jungen ehemaligen Befreiungskämpfern gegründet wurde, von denen sich viele „nach der Befreiung völlig völlig mittellos und ohne gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung wieder[fanden].“ (Seite 211) Und zum Anderen das sehr beeindruckende Sinani-Programm für Überlebende von Gewalt in KwaZulu-Ntatal, wo alleine für den Zeitraum der 1980er und 1990er Jahre 20.000 Tote und 500.000 Vertriebene zu verzeichnen waren.

In einem weiteren Beitrag lotet Achilles Mbembe die Frage aus, ob eine Politik der Affirmative Action entlang rassifizierter Kriterien nicht die Gefahr in sich birgt, rassistische Strukturen festzuschreiben. Neville Alexander, der während der Apartheid-Zeit zehn Jahre lang auf Robben Island interniert war und heute Direktor des Project for the Study of Alternative Education in South Africa (PRAESA) an der Universität von Kapstadt ist, spricht sich für Affirmative-Action-Maßnahmen aus, die Klassenkategorien zum alleinigen Maßstab machen und so den Fallstricken des „Rassendiskurses“ entgehen.

Die drei letzten Texte analysieren die aufkeimende fremdenfeindliche Gewalt gegen afrikanische MigrantInnen im Mai 2008. Michael Neocosmos, Professor für Soziologie an der Universität von Pretoria, denkt mit Frantz Fanon, dass „die Wandlung des Nationalismus in einen Chauvinismus […] im Auftauchen neuer Eliten nach der Unabhängigkeit begründet [liegt], die sich die Posten und das Kapital der abziehenden Europäer unter den Nagel rissen. Die unteren Klassen folgten ihrem Beispiel, indem sie sich gegen ausländische AfrikanerInnen wandten. Diese Beobachtung verweist darauf, wie die postkoloniale Fremdenfeindlichkeit in einer nationalistischen, die Indigenität betonenden Politik angelegt ist.“ (Michael Neocosmos, Seite 222) Und so sieht Neocosmos die Ursachen für die fremdenfeindlichen Pogrome in Südafrika in erster Linie in verschiedenen Aspekten des staatlichen Diskurses. In der Vorstellung der Sonderstellung Südafrikas werde der Rest des Kontinents als Ort des Anderen imaginiert: „Afrika erscheint den neuen Eliten als eine Peinlichkeit, es erinnert sie an das, was sie vergessen möchten, an die armen Verwandten. Gleichzeitig jedoch wird Afrika als Ort gesehen, an dem man, wie etwa bei der Rohstoffförderung, sein Glück machen kann. So bleibt der vorherrschende südafrikanische Diskurs über Afrika seinem Wesen nach neo-kolonial.“ (Michael Neocosmos, Seite 227) Diese Vorstellung korrespondiert mit der Verknüpfung der StaatsbürgerInnenschaft mit dem Konzept der Indigenität.

Der Ökonom Oupa Lehulere nähert sich der Frage nach den Ursachen der fremdenfeindlichen Gewaltausbrüche von einer anderen Seite her. Er denkt über den Zusammenhang zwischen Organisationsgrad der ArbeiterInnenklasse und Fremdenfeindlichkeit sowie über Möglichkeiten und Problemstellungen gemeinsamer und/oder getrennter Organisierung nach.

Den Abschluss des Buches bildet jene Erklärung der Basisbewegung Abahlali base Mjondo von Mai 2008 unter dem Titel: „There is only one human race“, der das Zitat entstammt, das dieser Buchbesprechung als Motto vorangestellt ist.

Zuletzt noch ein kleiner praktischer Hinweis: Nicht nur die Rezensentin fand die zweiten zwei Drittel des Buches weitaus spannender als das erste. Also besser weiter hinten zu lesen beginnen!

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