Streifzüge, Heft 54
März
2012

Terra incognita

Stichworte zur Kritik

Lamento. Geschimpft wird viel. Vorneweg (wenn auch mit gehörigem Respekt) auf die Finanzmärkte, die US(!)-Ratingagenturen, über Gier und ungerechte Verteilung, gegen die Boni-Banker, Spekulanten und all die anderen Gauner, auf die Unfähigkeit des politischen Personals, nicht zu vergessen, die Griechen, und darüber, dass die Menschen „so“ sind. Fehlen irgendwo Schuldige, sie finden sich, dafür sorgt schon die veröffentlichte Meinung. Praktisch alle Welt fordert das „Abstellen irgendwelcher Missstände“, murrt über die da oben, fürchtet (mehr klamm als heimlich) die von unten, beklagt gewaltige Schieflagen und fehlende Reparaturen am „System“. Allenthalben laute Empörung oder leiser Widerwillen. Verwundern kann das nicht, ist eins (noch) bei Verstand geblieben, kränkt der alltägliche Un- bis Irrsinn erst recht.

Umnebelt (1). „So leben die Agenten der kapitalistischen Produktion in einer verzauberten Welt, und ihre eigenen Bedingungen erscheinen ihnen als Eigenschaften der Dinge, der stofflichen Elemente der Produktion.“ (K. Marx, MEW 26.3, S. 503) Die Agenten, damit sind wir gemeint, alle zusammen, nur damit sich hier keine/r klein macht.

Umnebelt (2). Kritik im Blindflug, sozusagen auf Sicht, orientiert nur am oberflächlichen Schein – das mag mitunter in die richtige Richtung weisen und ebensogut gegen die Wand. Die Analyse des vermeintlich Offensichtlichen begreift wenig und erklärt kaum etwas. Die Kernstrukturen der kapitalistischen Produktionsweise und ihre Dynamik bleiben im Verborgenen. Warum etwa „dieser Inhalt“ (Arbeit) „jene Form“ (Wert) annimmt, interessiert nicht. Die Frage, daran hat sich seit Marxens Zeiten nichts geändert, stellt sich gar nicht. Allenfalls wird theoretische Spitzfindigkeit vermutet, keinesfalls notwendiger Abstoßungspunkt, ohne den die Aufhebung, das meint die bewusste Überwindung des warenproduzierenden Systems, scheitern muss. Übrig bleibt (allzu oft) eine „Kapitalismuskritik“, die ihren Gegenstand verkennt und gar nicht erst den Versuch macht, zum Grund der gesellschaftlichen Verhältnisse zu gelangen. Dafür ist sie schön bunt. Keine Spur vom Bilderverbot, stattdessen ein fast unüberschaubares Gewirr „alternativer Wege“ und Sackgassen, dazwischen irrlichtert der gesunde Menschenverstand, bloß von Ariadne nichts zu sehen. Wohin soll es gehen, wohin genau, und wer putzt dann das Klo, darüber lässt sich endlos debattieren.

Einsicht (1+1/2). Was ist, kann nicht alles sein. Dennoch: Dass die Welt nicht die beste aller möglichen ist, sondern ein zunehmend unfreundlicher Ort, lässt die meisten erstaunlich kalt. Ein klebriger Glaube, dass daran doch nichts zu ändern ist, hält das Denken in engen Grenzen. Alles ungerecht, irgendwie falsch oder verkehrt, und doch ewig gültig. Wider besseres Wissen* gleicht Menschengemachtes einer Naturgewalt, im besten Fall „regulierbar“. (*Eins weiß schon, dass es tut, nur eben nicht, was es tut.) Da wird noch zum Bollwerk imaginiert, was mit letzter Kraft als Fassade hält. Und kein Preis scheint dafür zu hoch. Lieber lassen wir uns erschlagen, bevor wir sie umwerfen. „Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben an die permanente Notwendigkeit der bestehenden Verhältnisse.“ (K. Marx, MEW 32, S. 552)
Kritik der Warengesellschaft erfordert Distanz zum scheinbar Selbstverständlichen. Die ist – mit Blick auf Kontostand und Kühlschrank – nicht immer zu halten. Von Gesellschaftskritik, erst recht solcher, die sich mit dem Zusatz radikal schmückt, darf ein hohes Maß an Selbstreflexion erwartet werden. Sie ist dem, was sie überwinden will, gedanklich bereits voraus und bleibt doch (bewusst wie unbewusst) verstrickt. Aber das weiß unsereins doch. So what? Abkürzungen schon wieder erlaubt? Perspektive(n) gefordert!(?) Letzteres will ich gar nicht bestreiten (es wäre schade um die Zeit), Abkürzungen empfehlen sich dagegen nur auf bekanntem Terrain. Terra incognita erschließen sie allenfalls peripher. Wenn es gilt, „alles umzuwerfen“, ist dann Niemandsland? Ist es die Furcht vor dem Unbekannten, die uns am Bestehenden festhalten lässt, der Mangel an reizvoller Alternative? Zähneknirschender Realismus? Der Realismus einer Gesellschaft, nach deren Rationalität wir noch am Nötigsten sparen sollen, lieber heute im Überfluss verhungern lassen und morgen in einer giftigen Atmosphäre verrecken. Eine Rationalität, nach der wir uns von den Produkten unserer eigenen Hand meistern lassen und das tatsächlich Machbare für Luftschlösser halten. Eine Gesellschaft, die über ihren eigenen Zusammenhang nicht weiß – sie ist das unbekannte Land.

Negation. Wir beanspruchen keinen neutralen Standpunkt, unsere Kritik ist nicht konstruktiv. Ihr Gegenstand ist das Dasein unter den Bedingungen des Werts. Oder anders: die bürgerliche Gesellschaft und ihre Demokratie, basierend auf der verselbständigten Verwertungslogik des Kapitals. Wir sind – soweit besteht Einigkeit – vor allem gegen: Gegen Tausch, Ware, Wert, das impliziert Markt und Konkurrenz. Plakativer: Gegen Kapital und Arbeit! Und: Klammer, Staat, Klammer. Dagegen schreiben wir an. An den Selbstzweck der Geldvermehrung wollen wir uns nicht vergeuden, auch sonst sollte das niemand. Was ist, hat so nicht zu sein, muss so nicht sein. Wird der zugrundeliegende gesellschaftliche Prozess bloßgelegt, und nur dann, kann der „stumme Zwang der Verhältnisse“ an Macht verlieren. Das vermag eine im Wortsinn radikale Kritik zu leisten. Es wäre Aufgabe genug. Sich am Feld blümchenblauer Illusionen ins Getümmel zu mischen, hilft dabei wenig. Kritik verlangt Umsicht im Gebrauch, auch klare Abgrenzung, im Einerlei stumpfer Klingen verkommt, was uns Waffe ist, zu nutzlosem Trödel. (Ein wenig Pathos zum Schluss und vorerst aus.)

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