Streifzüge, Heft 59
Oktober
2013

Tiere und Emanzipation

Die Solidarität mit Tieren und der Gedanke, dass als Voraussetzung zur Verwirklichung einer wahrhaft emanzipierten Gesellschaft auch sie aus den Ausbeutungsverhältnissen zu befreien sind, in denen sie zu leben gezwungen werden, hat eine gewisse Tradition, die viel weiter zurückreicht als gemeinhin angenommen; allerdings handelt es sich bei dieser Geschichte der Tierbefreiung bislang um ein Stück „geheime“ – vergessene, verdrängte – Geschichte.

Die geheime Geschichte der Tierbefreiung

Die Stimmen jener Menschen, die innerhalb linker Bewegungen für die Sache der Tiere eingetreten sind, wurden in einem doppelten Sinne nicht gehört: Wie Marx und Engels in Die deutsche Ideologie (1845/46) treffend bemerkten, ist das, was als die herrschenden Gedanken einer Epoche erinnert wird, in erster Linie ein Widerschein der Gedanken der in ihr herrschenden Klasse, da diese mit den Mitteln zur materiellen auch über jene zur geistigen Produktion verfügt und also damit die spätere Erinnerungskultur bestimmt, sodass die Rekonstruktion widerständiger Geschichte sich ohnehin schon in weiten Teilen als schwierig erweist. Hinzu kommt, dass meist ein Großteil derjenigen, die in den verschiedenen emanzipatorischen Bewegungen an der Seite von Persönlichkeiten aktiv waren, welche auch für die gesellschaftliche Befreiung der Tiere eintraten, die Tiere in der menschlichen Gesellschaft nicht als Leidensgenossen an- oder auch nur erkannt haben. Nicht ohne Grund liegt in der von Max Horkheimer mit der Metapher eines Wolkenkratzers aphoristisch beschriebenen kapitalistischen Gesellschaftspyramide die „Tierhölle“ im Keller – an anderer Stelle spricht er von den „Verliesen des Gesellschaftsbaus“ – und befindet sich damit unterhalb des gesamtgesellschaftlichen Bewusstseins.

Dass die Solidarität mit Arbeitstieren als ebenfalls Ausgebeuteten, dass der Verzicht auf Lebensmittel und Rohstoffe, die durch sie oder aus ihren Körpern hergestellt werden, als bewusste Zurückweisung des Status von Tieren als Produktionsmitteln und Waren bereits seit den Anfängen der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaftsformen als integrales Element revolutionärer Theorie und Praxis fungieren konnte, ist noch immer weitgehend unbekannt. Ebenso unbekannt ist, dass zahlreiche Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen der ersten Tierrechtsbewegung im 19. und frühen 20. Jahrhundert und etwa der Arbeiter-, Frauen- und Friedensbewegung bestanden, sowie dass es zahlreiche Thematisierungen des Ausbeutungsverhältnisses gegenüber den Tieren im klassischen linken Literaturkanon gibt.

Befreiung hört nicht beim Menschen auf

Dabei liegt diese Verbindung eigentlich auf der Hand, sieht doch die Bewegung zur Befreiung der Tiere ihre Forderungen traditionell als logische Fortsetzung, Konsequenz und Erfüllung der großen emanzipatorischen Imperative. Die Geschichte zeigt, dass diejenigen Menschen, die sich organisierten, um eine Verbesserung der elenden Situation der Tiere in der menschlichen Gesellschaft zu bewirken, auch Teil anderer Befreiungskämpfe waren – sie stritten etwa gegen monarchische Willkürherrschaft, für Menschenrechte, gegen die Sklaverei, für die Emanzipation der Frauen, für die Belange der lohnabhängigen Massen oder waren im antifaschistischen Widerstand aktiv. Aber sie gingen weiter, für sie war klar: Befreiung hört nicht beim Menschen auf.

Angesichts der Erkenntnis, dass der Versuch unserer Kultur, eine unantastbare Autorität gegenüber der wilden Natur auszuüben, uns in eine Katastrophe geführt hat, welche die menschliche Gesellschaft an den Rand des Untergangs bringt, wird mehr und mehr Menschen bewusst, dass die Entwicklung eines anderen Verhältnisses zur Natur und zu den Tieren für die menschliche Gesellschaft dringend notwendig ist – allein schon, um unser eigenes Überleben zu sichern, und erst recht für die Verwirklichung des emanzipatorischen Projektes.

Herbert Marcuse sprach deshalb 1972 von der „Befreiung der Natur als Mittel der Befreiung des Menschen“ und war überzeugt: „Was gegenwärtig geschieht, ist die Entdeckung (oder vielmehr die Wiederentdeckung) der Natur als einer Verbündeten im Kampf gegen die ausbeuterischen Gesellschaften, in denen die Vergewaltigung der Natur die Vergewaltigung des Menschen verschärft. Die Entdeckung der befreienden Kräfte der Natur und ihrer entscheidenden Rolle beim Aufbau einer freien Gesellschaft wird zu einer neuen Kraft gesellschaftlicher Veränderung.“

Hat Solidarität unter Menschen Vorrang?

Mitunter wird allerdings die Frage aufgeworfen, ob man denn nicht hinsichtlich der Befreiung des Menschen und jener anderer Tiere dem Menschen absolute Priorität einräumen müsse. Obschon er sich keine freie Gesellschaft vorstellen konnte, „zu deren ,regulativen Ideen der Vernunft‘ nicht der gemeinsame Versuch gehörte, die Leiden, welche die Menschen den Tieren zufügen, folgerichtig zu verringern“, meinte selbst Marcuse in Konterrevolution und Revolte (1972): „Angesichts des Leids, das Menschen von Menschen zugefügt wird, erscheint es unverantwortlich ,verfrüht‘, sich für universellen Vegetarismus oder synthetische Nahrungsmittel einzusetzen; angesichts der gegenwärtigen Welt hat menschliche Solidarität unter Menschen unbedingten Vorrang.“ Bereits 1965 schrieb er allerdings: „Dass die Gewalt beseitigt und die Unterdrückung so weit verringert wird, als erforderlich ist, um Mensch und Tier vor Grausamkeit und Aggression zu schützen, sind die Vorbedingungen einer humanen Gesellschaft.“

Das Streben nach der Befreiung der Tiere und der Wunsch, die Menschheit zu emanzipieren, verfolgen gar keine unterschiedlichen Ziele oder Interessen; sie lassen sich nicht gegeneinander ausspielen, im Gegenteil hängen sie eng miteinander zusammen. Vielen Freiheitskämpfern früherer Zeiten erschien das als vollkommen klar.

„Aber es hängt alles zusammen“

Die große Revolutionärin und Kämpferin in der Pariser Kommune Louise Michel etwa beschrieb als den wesentlichen Antrieb ihres politischen Aufbegehrens stets das Gefühl der Verbundenheit, der Solidarität – auch und gerade mit den Schwächsten und Wehrlosesten: „Im Kern meiner Empörung gegen die Starken finde ich, so weit ich zurückdenken kann, meinen Abscheu gegen die Tierquälerei wieder“, heißt es in ihren Memoiren (1886) und weiter: „Von der Zeit, da ich auf dem Land die Grausamkeiten gegen die Tiere erlebte und das entsetzliche Bild ihrer Lebensbedingungen erfasste, stammt mein Mitleid für sie und dadurch mein Bewusstsein über die Verbrechen der Macht. So handeln die Führenden mit den Völkern! Ich konnte nicht umhin, diese Überlegung irgendwann anzustellen.“ Zu ihrem Klassenstandpunkt gelangte sie durch die unmittelbar erlebte Not der Bauern und die Qual der Tiere: „Was die Reichen betrifft, so hatte ich für sie wenig Achtung; und da kam mir der Kommunismus in den Sinn. Die harte Feldarbeit sah ich so, wie sie ist: sie beugt den Menschen wie den Ochsen über die Furchen; das Schlachthaus steht für das Tier bereit, wenn es verbraucht ist; der Bettelsack für den Menschen, wenn er nicht mehr arbeiten kann.“ Auch Michel hat man oft vorgeworfen, dass sie mehr Sorge für die Tiere als für die Menschen empfinde – ihre Antwort auf solche Anschuldigungen war: „Aber es hängt alles zusammen, von dem Vogel, dessen Nest man zertritt, bis zu den Nestern der Menschen, die der Krieg dezimiert. Das Tier krepiert vor Hunger in seinem Loch, der Mensch stirbt daran in fernen Gegenden. Und das Herz des Tieres ist wie das Menschenherz, sein Gehirn ist wie das des Menschen, nämlich fähig zu fühlen und zu begreifen. Man mag noch so sehr darauf treten, die Wärme und der Funke darin erwachen immer wieder. Bis zur Blutrinne des Laboratoriums vermag das Tier Liebkosungen oder Grausamkeiten zu empfinden.“

Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein

Über lange Zeit handelte es sich bei solchen Positionen innerhalb der Linken eher um randständige. Marx und Engels bedachten die Ausbeutung der Natur durch den Kapitalismus zwar bereits in gewisser Weise mit, stellten sie aber keineswegs ins Zentrum ihrer Gesellschaftstheorie; erst ab den 1940er Jahren richteten bedeutende marxistische Theoretiker im Westen ihren Fokus darauf: Die Vertreter der Kritischen Theorie, vor allem Horkheimer, Adorno und Marcuse. Nimmt man ihre – historisch-materialistische – Perspektive ein, die von den großen zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geprägt ist, so sieht man, dass die Geschichte der Anstrengungen des Menschen, über die Natur und die Tiere zu herrschen, auch die Geschichte der Herrschaft des Menschen über den Menschen ist, und dass die Befreiung von Mensch und Tier sich gegenseitig bedingen – oder, wie Max Horkheimer sich in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1967) ausdrückte: „Der Mensch teilt im Prozess seiner Emanzipation das Schicksal seiner übrigen Welt. Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein. Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äußeren Natur, der menschlichen und der nichtmenschlichen, teilzunehmen, sondern muss, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen.“ Deshalb war für ihn der Kampf für das Tier auch ein Kampf für den Menschen. Moshe Zuckermann, einer der bedeutendsten lebenden Vertreter der Kritischen Theorie, fasst diese Perspektive folgendermaßen zusammen: „Die Beherrschung der äußeren Natur geht zwangsläufig mit der Beherrschung der inneren einher, was wiederum die determinierende Grundlage für die soziale Herrschaft des Menschen über den Menschen generiert.“

Nicht nur gründet also, wie in der Wolkenkratzer-Metapher Horkheimers, der gesamte kapitalistische Gesellschaftsbau, den Adorno 1963 als eine große „Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Natur“ bezeichnet, auf dem Leiden der Tiere, die Herrschaft über sie ist auch in vielfältiger Art und Weise mit der Herrschaft des Menschen über den Menschen verbunden, weshalb die auf die Befreiung des Menschen zielenden Emanzipationsbewegungen nicht zum Ziel führen können, solange sie diesen Aspekt ausblenden. Der italienische marxistische Philosoph Marco Maurizi schreibt hierzu, die ganze Geschichte der Zivilisation finde in der Sklaverei der Natur ihren Ursprung und in der menschlichen Sklaverei ihre logische Fortsetzung: „Die verwaltete Welt, die wir heute erleben, ist die Vollendung jener ursprünglichen Gewalt. Die Unterdrückung der Tiere ist nicht nur Teil der Geschichte der Freiheit, sondern auch unserer eigenen Sklaverei. Die Gewalt, die wir gegen Tiere übten, schlägt gegen uns um“ – sie sollte also nicht nur zum Wohl der Tiere, sondern auch zu unserem eigenen überwunden werden.

Keine Argumente für Speziesismus

Als Speziesismus wird seit den 1970er Jahren jene Ideologie bezeichnet, welche diese institutionalisierte Gewalt, die tagtäglich gegen Tiere verübt wird, weiterhin legitimiert, obwohl die Entwicklung der Produktivkräfte inzwischen einen Stand erreicht hat, der es ohne Weiteres ermöglichen würde, auf die traditionell in der westlichen Kultur verankerte Tierausbeutung und das damit verbundene Leid zu verzichten. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Ideologie längst unhaltbar geworden. Volker Sommer, Inhaber des Lehrstuhls für evolutionäre Anthropologie am University College in London und einer der renommiertesten Primatenforscher weltweit, fordert Grundrechte für unsere nächsten evolutionären Verwandten und spricht in Interviews davon, dass der historische Moment gekommen sei, um nach Nationalismus, Rassismus und Sexismus auch den Speziesismus zu überwinden.

Gerechtfertigte Argumente für die Aufrechterhaltung der Ausbeutung der Tiere gibt es nicht, so wie es in vergangenen Jahrhunderten keine gerechtfertigten Argumente gegen die Befreiung der Sklaven gab. Man kann davon ausgehen, dass jene Kräfte, die sich angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse über Tiere, die wir heute haben, noch gegen deren Befreiung stellen, von nachfolgenden Generationen so angesehen werden, wie wir heute auf die Verteidiger der Sklaverei zurückblicken. Wenn die Linke nicht auch auf diesem Feld den Kampf aufnimmt, wird sie hinter dort tätige bürgerliche Bewegungen zurückfallen und die Chance preisgeben, eine wahrhaft befreite Gesellschaft zu erreichen – denn wenn sie kein anderes Verhältnis zur unterdrückten Natur und zu den Tieren entwickelt, können die Emanzipationsbewegungen nicht zum Erfolg führen. Es gilt: Tierbefreiung ist Voraussetzung und Resultat der Emanzipation des Menschen.

Vom Autor ist der Titel „Antispeziesismus“ in der theorie.org-Reihe des Stuttgarter Schmetterling-Verlags erschienen. www.facebook.com/Antispeziesismusbuch

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