Streifzüge, Heft 53
Oktober
2011

Unsere Gedanken sind nicht ohne Grund

Die Zwangsgemeinschaft transnationalen Kapitals und des Welthandels, in der ungeheure Massen von Waren und Geld von nichts als Profiterwartungen dirigiert frei um den Globus strömen, aber Menschen in Grenzzäunen und Polizeiwachen hängen bleiben, ist uns vertraut. Jetzt aber grassiert tiefe Unruhe bei den Reichen und bei den Armen, sowohl im Trikont als auch in den Metropolen.

Die Aufstände in Arabien werden hierzuland auch von den Wächtern des Status quo grade noch als Streben nach Demokratie angesichts korrupter Diktatoren wohlwollend betrachtet. Peinlich ist bloß, dass es sich dabei meist um geschätzte, zuverlässige Partner und oft persönliche Freunde hochgestellter Persönlichkeiten der „freien Welt“ handelte. Es brauchte daher einige Umstellungen im Sprech der veröffentlichten Meinung und politischen Verlautbarungen, bis die befreundeten Herren Präsidenten und Stützen der Weltordnung zu verabscheuungswürdigen Monstern zurechtberichtet waren. Der nunmehr gelynchte Gaddafi war sogar erst unlängst zu einem „Mann tiefer Weisheit“ (Berlusconi, der ihm sogar die Hand küsste) und einem Revolutionsführer, „dessen Geheimdienste mit westlichen Diensten zusammenarbeiten“ (Sarkozy) geadelt geworden.

Noch keimen die Hoffnungen und Versprechungen, dass Demokratisierung die prekären Lebensbedingungen von zig Millionen Menschen zwischen Atlantik und Indischem Ozean verbessern, ja sie an den geltenden Weltstandard des Westens heranführen wird, noch bombardierte die NATO in Libyen die Demokratie herbei – da kommt der (allen Prognosen der Wirtschaftsweisen schon wieder Hohn sprechende) nächste Schub der totgesagten Weltwirtschaftskrise. Im Hort der Demokratie, in EU und USA. Damit auch hier eine Welle von Demos, Streiks, Unruhen und Straßenkämpfen im Paradies der Freiheit und des Wohlstands. Auch die Parolen haben viel Ähnlichkeit mit denen in Arabien: für Demokratie und mehr Geld, gegen die Korruption und Gier der Herrschenden.

Es zeigt sich: Die Unruhe ist das Kind der Ordnung, nach der sie kommt. Wenn die bislang wohlintegrierten Mittelschichten sich empören und das Wort ergreifen, spricht aus ihnen spontan die alte Ordnung, die sich über das empört, was aus ihr geworden ist. Es soll weitergehen mit Staat, Recht, Geld und Arbeit, bloß anders, mit ehrlichen Bankern, Unternehmern und Politikern statt Heuschrecken und korrupten Bonzen, gerecht verteilen soll man das Geld des Staats, statt es „den Märkten“ in den Rachen zu werfen, und vor allem: wirklich demokratisch soll es zugehen und alle sollen „gutes Geld für gute Arbeit“ haben.

Nur die Leute, die vom System schon als überflüssig abgestempelt sind, glauben derlei nicht mehr. Sie wissen, dass sie abgeschrieben, ein Fall fürs Sozialamt und die Polizei sind. Es ist ihr Frust, der sie an die herrschende Ordnung bindet. Wenn sie dem Luft machen, schlagen sie die Scheiben ein und nehmen sich, was man aus der Werbung kennt, schlagen nieder, fackeln ab. Bis Polizei, Nationalgarde und was sonst für die Ordnung prügelt, schießt, verhaftet, sie wieder zur Räson bringen. No future. Das ist, was sie verkörpern, das schlechte Beispiel, das, was passiert, wenn eins es nicht schafft. In den letzten Jahren erspart sich die Politik auch schon die früher üblichen Versprechungen, man werde die Leute wieder in die schöne alte Welt von Arbeit und Konsum reintegrieren: Sarkozy hat für die Banlieue den „Kärcher“ übrig, Cameron droht: „fightback is under way“.

Es ist nicht zu entscheiden, ob uns die Illusionen oder die blanke Desillusionierung mehr dran hindern, uns ein besseres Leben zu machen. Beide stecken fest im Leben, das wir gelernt haben. Doch: So sieht spontane Unruhe aus, wenn eins aufwacht aus dem Alptraum eines Lebens in allgegenwärtiger Konkurrenz miteinander, in der unsere Kooperation nur als ein Teil von jener existiert, im grundsätzlichen Misstrauen gegeneinander und in der Fragilität und Fragwürdigkeit jeder Freundschaft und persönlichen Bindung, in Abhängigkeit von unpersönlichen Strukturen wie Staat, Nation und Recht, Arbeit und Kapital, die allein dem chaotischen Gewusel der Individuen Gestalt und Sicherheit oder wenigstens ein gemeinsames Feindbild geben. Das alles sind doch Dinge, die sich jeden Tag dutzendmal bestätigen und längst das Aussehen von „Natur“ erhalten haben.

Es stiftet Angst und Wut, wenn man entdeckt: Dieser „Natur“ gemäß zu handeln führt immer weiter in die Bredouille. Und: Wer auch immer ihn verwaltet, ob Diktatoren oder Demokraten, ehrliche Makler oder gerissene Banker und Manager, Linke oder Rechte, der Kapitalismus schleift sie zu und mit, kränkt und tötet täglich Menschenmassen und verwandelt das, wovon wir leben, in großem Stil in Abfall und Gift. Nicht aus bösem Willen oder „menschlichem Versagen“, sondern schlicht aus der Logik der Verhältnisse. Das muss erst einmal in einen Kopf hinein. Da wird es Fragen geben, da kann unsereins sich erst nützlich machen.

Das Leben in den überkommenen Strukturen beschädigt Leib und Seele mehr denn je. Das lässt sich nur durch Bruch mit der destruktiven Ordnung heilen. Vom Haarriss bis zum Abbruch. Fähigkeit zu und Lust an Zusammenwirken und Gemeinschaft, Bedürfnis nach Zuneigung und Anerkennung aktiv und passiv – darauf beruht das Menschsein. Ohne dies könnte der Kapitalismus so wenig bestehen wie jede Herrschaft bisher auch, und nur so haben Menschen die schlimmsten Katastrophen überlebt.

Das Schöne in allen Krisen von Herrschaft ist daher: Am Horizont taucht auf: Es geht auch ohne. Freiheit irrlichtert aus den Rissen der Festung. In einer Fundamentalkrise, wie sie sich anbahnt, bebt die Ordnung von Jahrtausenden. Patriarchat, Rassismus und das Kapital. In den Strukturen und vor allem in uns selber. Freilich, alles kann schiefgehen. Aber zugleich wird wieder in Farben vorstellbar: Das bis tief hinein in jeden einzelnen gestaffelte System der Herrschaft samt „thought control“ ist überwindlich. Ersetzbar durch Solidarität und Freundschaft. Unsere Wünsche sind nicht albern, unsere Gedanken nicht ohne Grund: Freiheit und Lust sind zu haben. Weitermachen!

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