FORVM, No. 107
November
1962

Ursprung und Grenzen der Gefälligkeitsdemokratie

In einer kleinen Schrift über römische Staatskunst zitiert der englische Historiker Frank E. Adcock den „berühmten Ausruf“ seines Landsmannes Edmund Burke „Um Himmels willen, stellen Sie wenigstens irgend jemanden zufrieden!“ und verweist auf die Bemerkung des Philosophen A. N. Whitehead (wiederum ein Engländer), daß man Regierungen am besten danach klassifizieren könne, wer diese „irgend jemand“ seien, die sie zufriedenzustellen versuchen. Das sei, meint Adcock, zwar keine sehr philosophische Methode, über politische Ideen nachzudenken, man komme dabei jedoch der praktischen Politik ziemlich nahe.

In dieser Frage: cui bono? sieht der englische Historiker die Erklärung für die erstaunliche Leistung des neunzehnjährigen Octavian, der die überaus gefährliche Situation nach dem Tode Julius Cäsars, seines Adoptivvaters, meisterte und der als Augustus lange und erfolgreich und unter dem Beifall der meisten Zeitgenossen und späteren Historiker regierte. Die Leistung eines genialen Praktikers; denn die Leute, die der Begründer des Prinzipats zufriedenzustellen suchte, sind nach Adcock so ziemlich jedermann gewesen, auf den es damals ankam: das römische Volk, das allgemein Frieden, Sicherheit und eine bevorrechtigte Stellung in der Welt wünschte; die Aristokratie, die einen Anteil an der Regierung und respektvolle Behandlung des Senats wollte; die Ritter, also die großen Geldleute, die ihre Stellung und ihren Reichtum (wir würden heute sagen: die Hochkonjunktur) gesichert zu sehen wünschten; die Freunde und Parteigänger des Princeps, die auf eine erfolgreiche Karriere hofften; die Legionen, die nicht mehr in blutigen Bürgerkriegen gegen ihre Kameraden in anderen Legionen kämpfen wollten, pünktliche Soldzahlung und nach ihrem Abschied Landzuteilungen und Geldabfindungen, also nach modernen Begriffen eine gute Altersversorgung zu erhalten wünschten; schließlich aber auch die unterworfenen Provinzen und die abhängigen Könige und Fürsten, die in Rom einen zuverlässigen Schutzherrn zu finden hofften.

Klingt uns das alles, von ein paar Vokabeln abgesehen, nicht so vertraut, als hätten wir es in unserer Morgenzeitung gelesen? Es würde uns auch kaum überraschen, von „unverzichtbaren Forderungen“ des Senats oder der Steuerpächter oder der Veteranen zu hören, vorausgesetzt, daß die Römer selber schon Küchenlatein gesprochen hätten. Jedenfalls scheint das Grundmuster der politischen Praxis bei vergleichbaren Konstellationen immer wiederzukehren. Zwar war das Reich des Augustus ein Obrigkeitsstaat und kein demokratisches Gemeinwesen — um diese etwas vagen Begriffe zu gebrauchen —, aber es gab auch damals schon soziale Gruppen, auf deren unterschiedliche und oft gegensätzliche Interessen die Staatsführung wohl oder übel Rücksicht nehmen mußte. Denn der Begründer des Prinzipats war, wie Peter Sattler neuerdings in einer Abhandlung „Augustus und der Senat“ minuziös nachgewiesen hat, noch kein unbeschränkter Autokrat, der sich nur von der Gunst seiner Leibwachen und des Hofklüngels abhängig gefühlt hätte.

Liegt da nicht der Gedanke nahe, scheinbar ganz moderne Komplexe, wie wir sie unter den Begriffen des Wohlfahrts-, des Versorgungs-, des Gefälligkeitsstaates zusammenfassen, historisch viel weiter zurück zu datieren? Wenigstens analog: denn selbstverständlich haben die Menschen vor zweitausend Jahren die Welt und sich selber mit anderen Augen angesehen; sie hatten andere Vorstellungen vom Regieren und Regiertwerden, sie lebten in anderen sozialen, wirtschaftlichen und technischen Verhältnissen. Aber mag der Spielraum für geschichtliche Differenzierungen auch unabsehbar groß sein, irgendwo muß diese Variationsbreite, wie Ortega y Gasset sagt, eine Grenze haben, wenn es so etwas wie eine Menschheit geben soll. Und diese Grenze liegt bei einem Vergleich zwischen sozialen Gebilden, die in reife Zivilisationen eingebettet sind, vielleicht nicht gar so weit entfernt. Das ist schließlich auch eine Frage der Definitionen; wenn man sie nicht zu eng zuschneidet, kann ein solcher Vergleich nützlich sein, weil in der Kontrastierung mit früheren Zuständen deutlich wird, was und wieviel sich geändert hat.

Wohlstandslamentationen

Wenn wir uns zunächst an die anfangs erwähnte pragmatische Methode halten, so scheint es, als ob es heute um das Geschick und die Kunst der Regierenden schlechter bestellt sei als im alten Rom. Wem machen sie es schon recht? Niemandem, nach dem endlosen Schwall von Klagen und Anklagen, Protesten, Resolutionen — und nicht selten ultimativen — Forderungen zu urteilen. Nehmen wir an, die Historiker im Jahr 3.000 (falls es da noch Historiker geben sollte) fänden an schriftlichen Quellen aus unseren Tagen nichts anderes mehr vor als jene Dokumentationen der Unzufriedenheit: was würden sie daraus folgern? Daß in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine permanente Wirtschaftskrise geherrscht haben müsse, weil es offenbar so ziemlich allen Leuten schlecht und immer schlechter gegangen sei.

Wir wissen es natürlich besser. Auch der lamentierende Chor ist sich durchaus dessen bewußt, daß das materielle Wohlergehen breitester Schichten, mindestens in den Industriestaaten, ohne Beispiel in der Geschichte ist; wenngleich es noch genug verschämte und resignierende Armut gibt, namentlich unter denen, die aus dem „Arbeitsprozeß“ wie abgenutzte Maschinenteile ausgeschieden und seitdem „organisatorisch“ nicht mehr so recht interessant sind.

Damit sind die Stichworte gefallen. Es ist eine „Arbeits- und Organisationswelt“ (H. Schelsky), in der wir leben. Dem entspricht die Bereitschaft des modernen Menschen, sich und sein Dasein auch in den Bereichen organisieren zu lassen, die einst als Privat- und Intimsphäre empfunden wurden. Die Langeweile seiner reichlich bemessenen müßigen Stunden zu vertreiben, überläßt er eigens dafür geschaffenen Freizeit-Organisationen. Seine Erholung und „Entspannung“ sucht er auf Gesellschaftsreisen, die von einem neu aufgeblühten Geschäftszweig, den Reisebüros, bis ins kleinste organisiert werden. Seinen Durst nach „Gesprächen“ und „Begegnungen“ löscht er auf Kongressen, die von Kommunikations-Spezialisten in buntester Fülle veranstaltet werden. Seinem Verlangen nach sozialem Prestige kommen die zahllosen „Parties“ und „Empfänge“ entgegen, die für die Pflege „gesellschaftlicher Kontakte“ arrangiert werden und zu deren Ritual das obligate kalte Büfett gehört — eine Parodie auf das gemeinsame Mahl, das einst als das Symbol der Gastfreundschaft galt.

Diese wenigen Beispiele sollen nicht als Zeitkritik verstanden werden, denn dann müßten billigerweise auch die Ausnahmen von der Regel erwähnt werden. Die Regel, auf die es hier allein ankommt, ist darin zu sehen, daß die Tendenz zur Entpersönlichung auch in die ursprünglich persönlichsten Bereiche mehr und mehr eindringt. Wenn man weiter bedenkt, daß Entpersönlichung und Kollektivierung zwei Seiten ein und desselben Vorgangs sind, wird man unmittelbar auf den zeittypischen Begriff der Organisation hingeführt; denn ohne diese wäre kein Kollektiv handlungsfähig.

Der Organisation fügt oder unterwirft sich der moderne Mensch ohne weiteres, wo es ernst wird, wo es um die Sicherung oder Verbesserung seiner wirtschaftlichen Existenz und seines sozialen Status geht. Denn er hat das beklemmende Gefühl, in einer unaufhörlich sich verändernden, deshalb für ihn völlig undurchsichtigen und unsicheren Umwelt als Einzelgänger auf verlorenem Posten zu stehen. Und soviel hat er mindestens von den Spielregeln der Demokratie begriffen, daß die Durchschlagskraft einer Gruppe im Quadrat ihrer Größe und Geschlossenheit wächst. Nichts liegt also näher, als daß man sich zur Wahrung gleicher Interessen zusammenschließt. Es ist dann Sache des „Verbandes“, diese Interessen zu präzisieren und sie gegenüber Parlament, Regierung, Verwaltung und anderen Verbänden geltend zu machen. Deshalb liegt, wie Theodor Eschenburg hervorgehoben hat, der Egoismus im Wesen der Gruppe; auch dann, wenn ihre Interessen mit dem Wohl der Gesamtheit identifiziert werden.

Der Egoismus verkörpert sich also in dem, was wir hier unter „Interessen“ verstehen. Es hat sie immer gegeben; daß sie heute die politische Bühne zu beherrschen scheinen, hat hauptsächlich zwei Gründe. Die freiheitliche parlamentarische Demokratie gibt jedermann das Recht — das macht sogar ihr Wesen aus —, seine Interessen in dem (sehr weit gehaltenen) Rahmen der Gesetze anzumelden und zu vertreten und sich zu diesem Zweck mit anderen zu vereinigen. Andrerseits haben sich in der hochdifferenzierten Wirtschaft der modernen Industriegesellschaften auch die ökonomischen und sozialen Interessen gewissermaßen spezialisiert und damit vervielfacht. Mit einfachen Gruppierungen, wie Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Industrie, Handwerk, Handel, Landwirtschaft, sind sie bei weitem nicht mehr zu umschreiben, wenn auch die Propaganda der Spitzenverbände und der politischen Parteien aus taktischen Gründen oft mit solchen pauschalen Begriffen operiert. Erst aus der Vielzahl der organisierten Interessengruppen und ihren Einwirkungen auf die politische Willensbildung ergibt sich das Bild der modernen „pluralistischen Gesellschaft“.

Eine ungefähre Vorstellung von diesem Pluralismus läßt sich aus einer einfachen Addition gewinnen. Sie ergibt, vorsichtig gerechnet, für die Bundesrepublik Deutschland eine Zahl von mehr als 1200 überregionalen Verbänden und Vereinigungen, welche die wirtschaftlichen und sozialen Interessen ihrer — freiwilligen — Mitglieder vertreten. (Nicht mitgezählt sind also die regionalen Untergliederungen, ferner die Kammern, die auch staatliche Aufgaben als Auftragsangelegenheiten zu erfüllen haben, und andere Organisationen mit Öffentlich-rechtlichem Charakter obwohl manche von ihnen, wie etwa der Deutsche Sparkassen- und Giroverband, ebenfalls mit sehr dezidierten eigenen Auffassungen über die Wirtschaftspolitik hervortreten.)

Schwerindustrie und Kaninchenzüchter

Hier können nur einige der größten freien Organisationen genannt werden: Der „Bundesverband der Deutschen Industrie“ umfaßt 39 industrielle Wirtschaftsverbände „zur Wahrung und Förderung aller gemeinsamen Belange der in ihm zusammengeschlossenen Industriezweige“; diese Wirtschaftsverbände ihrerseits sind die Dachorganisationen von rund 350 Fachverbänden und Fachvereinigungen, vom „Unternehmensverband Ruhrbergbau“ bis zum „Bund Deutscher Orgelbaumeister“. Weitere rund 50 industrielle Fachverbände und Arbeitsgemeinschaften sind dem Bundesverband nicht angeschlossen.

Dem „Gesamtverband des Deutschen Groß- und Außenhandels“ gehören 102 Fachverbände an, vom „Zentralverband des Deutschen Getreide-, Futter- und Düngemittelhandels“ bis zum „Verband der Knopfgroßhändler“. Etwa 20 andere Verbände stehen außerhalb des Gesamtverbandes.

Die „Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels“ zählt 30 Fachverbände; neben ihr bestehen neun weitere Einzelhandelsverbände. Der „Zentralverband des Deutschen Handwerks“ vereinigt (außer den zwölf Landesvertretungen und den 45 Handwerkskammern) 56 Zentralfachverbände; fünf andere Verbände gehören ihm nicht an.

Der „Deutsche Bauernverband“ umschließt (wiederum ohne die, entsprechend der jeweiligen Agrarstruktur oft besondere Interessen vertretenden, 15 Regionalverbände) etwa 30 fachlich gegliederte berufsständische Vertretungen, von der „Deutschen Kartoffel-Union“ bis zum „Zentralverband Deutscher Kaninchenzüchter“.

Nimmt man noch das private Bankgewerbe, die Versicherungswirtschaft, das Verkehrswesen, den Fremdenverkehr, das Hotel- und Gaststättengewerbe, das Genossenschaftswesen, die Bau- und Wohnungswirtschaft, die Werbewirtschaft, das Verlagswesen und den Buchhandel, die Verbraucher- und die sogenannten Schutzverbände dazu, dann kommt man auf eine Zahl von schätzungsweise weiteren 150 Organisationen.

Die Interessen ihrer Mitglieder im Arbeits- und Sozialleben vertreten etwa 250 überregionale Verbände, die in der Rubrik „Sozialpartner und berufliche Organisationen“ zusammengefaßt werden. Auch hier seien nur einige der großen Spitzenorganisationen erwähnt: Die „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ mit 41 fachlichen Zusammenschlüssen, der „Deutsche Gewerkschaftsbund“ (DGB) mit 16 angeschlossenen Gewerkschaften, die „Deutsche Angestellten-Gewerkschaft“ (DAG), die nur regional gegliedert ist, der „Deutsche Beamtenbund“ mit rund 30 Vereinigungen „auf Bundesebene“.

Daneben gibt es noch etwa 30 Verbände der Beamtenschaft, die allerdings zum Teil untereinander oder mit dem „Deutschen Beamtenbund“ und dem „Deutschen Gewerkschaftsbund“ in Querverbindung stehen. Dieser Partikularismus ist im Gegensatz zu den straff zentralistischen Organisationen der DAG und der Einzelgewerkschaften des DGB soziologisch bemerkenswert; beispielsweise haben es die Lehrer, Erzieher, Dozenten, Philologen allein auf reichlich 20 Verbände inner-und außerhalb der Spitzenorganisationen gebracht. Stärker aufgefächert sind auch, von der DAG abgesehen, die Organisationen der Angestellten und der freien Berufe.

Erheblichen Einfluß, vor allem auf sozialpolitischem Gebiet, haben die sogenannten Geschädigten-Interessenverbände, zu denen die Zusammenschlüsse der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge (etwa 40) und die Organisationen der Kriegsopfer, die „Notgemeinschaften“ und ähnliche Vereinigungen (zusammen rund 30) gerechnet werden.

Pluralismus statt Bürokratie

Diese sehr summarische Übersicht unterscheidet nicht nach dem Umfang und dem politischen Gewicht der einzelnen Gruppen und geht auch nicht ihren vielfachen Verschränkungen und Überschneidungen nach. Außerdem müßten, wollte man die Struktur der pluralistischen Gesellschaft vollständiger zeichnen, auch Organisationen wie die konfessionellen Verbände, die Wohlfahrts-, Familien-, Frauen-, Jugend- und Sportverbände und andere mehr einbezogen werden, denn auch sie wirken auf die politische Willensbildung ein. Ein eigenes großes Kapitel wäre natürlich den politischen Parteien zu widmen.

Hier kommt es uns aber auf jene für die freiheitliche Industriegesellschaft typischen Gruppen an, deren Zweck es ist — was immer sonst in den Satzungen und Programmen stehen möge —, die wirtschaftlichen, beruflichen und sozialen Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Sie gehören zum Wesen dieser Gesellschaftsform; jede radikale Operation würde den ganzen Organismus zerstören. Auch der Gesetzgeber und die Staatsführung sind auf sie angewiesen; denn welche Verwaltung wäre imstande, die unendlich komplizierten Zusammenhänge einer hochdifferenzierten Wirtschaft bis in die feinsten Verästelungen zu ergründen oder die Arbeitsbedingungen für viele Millionen von Arbeitnehmern ohne bürokratische Willkür zu regeln? Daß die Planungs- und Verwaltungsbehörden in der Sowjetunion immer wieder umorganisiert werden müssen, ist schließlich kein Zufall.

Diese Fragen gewinnen noch an Bedeutung in dem Maße, in dem der Gemeinsame Markt innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft heranwächst und in dem die Entwicklungsländer zu selbständigen Partnern in der Weltwirtschaft werden. Es muß mehr und mehr gleichsam in drei Dimensionen gedacht werden, nicht länger nur von den Nationalwirtschaften und nur vom Welthandel alten Stils aus. Anderseits verbietet sich ein schematisches, auf nationalwirtschaftliche Interessen keine Rücksicht nehmendes Vorgehen. Es sei nur an die überaus schwierigen Fragen der Eingliederung der Landwirtschaft in den Gemeinsamen Markt und an die berechtigten Sorgen erinnert, mit denen sogar mittlere, durchaus gesunde Industriebetriebe der herandrängenden Konkurrenz kapitalstarker Weltunternehmen entgegensehen. Es wäre auch politisch höchst unklug, die unmittelbar betroffenen Wirtschaftszweige kurzerhand zu übergehen und die notwendigen Entscheidungen allein auf das Urteil europäischer Kommissionen und einer noch so gut geschulten staatlichen Bürokratie zu gründen.

Allerdings müssen dem Mitwirken der Verbände an der politischen Willensbildung Grenzen gesetzt werden; denn die Staatsraison ergibt sich, wie Waldemar Besson mit Recht sagt, nicht nur als Resultante der gesellschaftlichen Willensrichtungen. Zwischen diesen und den staatlichen Notwendigkeiten muß immer wieder der Kompromiß erzwungen werden. Das ist die Aufgabe des Staates; versagt er vor ihr, dann schwindet seine Autorität dahin.

In diesem Punkt gipfelt alle Kritik an den Erscheinungen, die nach einer schnell populär gewordenen Formel als „Herrschaft der Verbände“ (Eschenburg) bezeichnet werden. Der Methoden dieser illegitimen Herrschaft gibt es viele: Interessengruppen versuchen, „ihre Leute“ in führende Parteistellen, in die Parlamente und in die Amtsstuben der Behörden zu bringen; sie setzen die Fraktionen und die Regierung unter Druck, um ihnen genehme Beschlüsse herbeizuführen, nicht genehme Entscheidungen zu verhindern; sie bearbeiten die Öffentlichkeit mit allen Mitteln der modernen Publizistik, um die eigenen Interessen zum allgemeinen „Anliegen“ zu machen. Dabei läuft die Taktik meistens darauf hinaus, die Gegenseite durch den Vorwurf „unsozialen“ oder „dirigistischen“ oder sonstwie als anrüchig geltenden Verhaltens matt zu setzen. Tatsächlich ist es, um von deutschen Verhältnissen zu reden, auf diese Weise mehrfach gelungen, gesetzliche Reformen schon im zartesten Alter des Entwurfs zu ersticken.

Dem scheint, wie Pessimisten meinen, die Denkweise einer Gesellschaft entgegenzukommen, die einerseits auf Sicherung des wirtschaftlichen und sozialen Besitzstandes bedacht, andrerseits mit diesem nie zufrieden ist, weil sie immer neue Rekorde bei den „Zuwachsraten des Sozialprodukts“ erwartet und jeweils einen „gerechten“, das heißt höheren Anteil daran verlangt. Aber vielleicht sollte man die Einsicht gerade des „Mannes auf der Straße“ doch höher einschätzen. Dafür spricht die keineswegs ungünstige Aufnahme, die das Bemühen der deutschen Bundesregierung, die Auswüchse einer teilweise überschäumenden Konjunktur zu beschneiden und das wirtschaftliche Wachstum in ruhigere Bahnen zu lenken, in breiten Schichten der Bevölkerung gefunden hat. Man darf also hoffen, daß der so oft angezweifelte gesunde Menschenverstand die stärkste Schranke gegen den Übermut der Verbände ist. Vorausgesetzt, daß auch Parlament und Regierung die Autorität des Staates energisch zu handhaben wissen.

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