Vom Reinheitswahn zum Vernichtungswunsch
Erster Teil einer psychoanalytisch orientierten Kritik des religiösen Antisemitismus.
Im gebannten Starren auf den Islamismus droht vielerorts das Christentum aus dem kritischen Blick zu geraten. Dabei legt schon die Kreuzzugsmetaphorik der Bush-Administration nahe, dass die ideologische Aufrüstung des Westens gegen den „islamischen Fundamentalismus“ sich zusammenfindet mit militanter Re-Christianisierung. Diese ist entgegen antiamerikanischer Legendenbildung aber bei weitem nicht auf die USA beschränkt. Auch in Europa soll es der „Beliebigkeitsgesellschaft“ (Kardinal Schönbom) an den Kragen gehen, sollen die Menschen mit dem Christentum wieder wehrhaft gemacht werden gegen das Böse und seine Versuchungen. Unter dem Eindruck der islamistisch motivierten Ermordung des holländischen Filmemachers Theo Van Gogh wird nicht nur in neorassistischen Diskursen die deutsche oder europäische, auf jeden Fall christlich-säkularisierte „Leitkultur“ gegen die vermeintlich multikulturelle Gesellschaft in Anschlag gebracht. AdressatInnen der entbrannten „Wertedebatte“ sind aber nicht nur die „Anderen“: Die Konfrontation mit dem Islamismus, mit dem „starken Glauben in diesen Kulturen“, dient dem deutschen Philosophen Rüdiger Safranski auch der Bewusstmachung „unserer Dekadenz“. Wir „hohlen Konsumenten und dekadenten Nihilisten“ könnten den Kampf gegen den Islamismus nur gewinnen, wenn wir uns ihm ähnlich machen. [1] Als eine aufs Jenseits ausgerichtete, grandiose Verzichtsideologie ist das Christentum (wie andernorts der Islam) gefragt in einer Zeit, wo angeblich alle „Opfer“ bringen müssen.
Die Proselytenmacherei islamischer und christlicher Provenienz hat bei aller Differenz einiges gemeinsam: den Hass auf nichtperverses Genießen, die Frontstellung gegen Aufklärung, Moderne und Liberalität — sowie die antisemitische Disposition. Während der Antisemitismus in islamistischen Hetzpredigten offen artikuliert wird, ist er im institutionalisierten Christentum von wohltönenden Schuldbekenntnissen, pflichtschuldigen Dialogwünschen und philosemitischer Schwärmerei überlagert. Demgegenüber ist es Fundamentalisten vom Schlage eines Mel Gibson zu danken, dass sie uns das Wesen der christlichen Religion in Erinnerung rufen.
Wort und Schwert
Ein Datum mit Symbolwert: Am 3. Oktober 2004 wurde in Rom nicht nur Kaiser Karl I., sondern auch die Mystikerin Anna Katharina Emmerick (1774-1824) selig gesprochen. Deren Visionen brachte Clemens von Brentano als Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi zu Papier. Brentano, neben Fichte, Kleist und anderen Begründern des deutschen Nationalismus 1811 Mitglied der antisemitischen Christlich-Deutschen Tischgesellschaft, [2] legte damit einen Bestseller vor: Das Buch gilt als eines der meistverkauften Werke des 19. Jahrhunderts. Als Vorlage für Mel Gibsons sadistische Blutoper „The Passion of The Christ“ kam es im Zuge des breit angelegten antiaufklärerischen Projektes einer Re-Evangelisierung des Westens nun zu neuer Berühmtheit. Dass im Zentrum dieses Projektes die wiederaufgewärmte Legende vom jüdischen Gottesmord steht, liegt in der Natur des Unterfangens: Ein Christentum, das sich auf sein Wesenhaftes oder Fundament besinnt, kommt nicht aus ohne Antisemitismus. Im Zusammenspiel mit der distanzierten Haltung der Amtskirchen gegenüber diesem Projekt setzt sich die Jahrhunderte lange Doppelgleisigkeit von theologischem Wissen und volksreligiöser Unwissenheit fort. Schon die mittelalterlichen Ritualmordlegenden und die oft in Pogrome mündenden Passionsspiele, der Wunderglaube und die Idolatrie wurden vom höheren Klerus (bei aller selbst betriebenen antisemitischen Hetzte) zwar verurteilt, gleichzeitig als notwendiges Übel zur ideologischen Herrschaft über das in Unwissenheit gehaltene Volk in Kauf genommen. Die schlecht getauften Christen, von denen Freud im Mann Moses spricht, lassen sich nämlich bis heute vor allem mit viel Blut, ausufemdem Heiligen- und Märtyrerkitsch und der Angst vor einem äußeren, absoluten Bösen mobilisieren.
Einwand
Bevor ich mich zunächst diesem Wesen der christlichen Religion, das sich jedoch nicht unmittelbar im (eben auch von vielen anderen Determinanten abhängigen) Denken und Handeln ihrer AnhängerInnen und der von ihr kulturell Beeinflussten ausdrückt, [3] zu nähern versuche, will ich die Vorbehalte gegen diesen Ansatz aber nicht unterschlagen.
Detlev Claussen etwa kritisiert eine psychoanalytisch orientierte Kritik des Antisemitismus, die vor allem die religiöse Differenz zum Gegenstand hat: „Aus Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft werden Angehörige von Gruppen, die wiederum nach bloßer Herkunft definiert werden: Christen und Juden. Auf diese Weise dringt bei der Untersuchung des Antisemitismus ein Manichäismus in den Gegenstand ein, der selbst erst ein Resultat antisemitischer Weltanschauung ist.“ [4] Dieser Kritik zugrunde liegt eine Überbetonung der Differenz zwischen religiösem Antijudaismus und modernem Antisemitismus. Dadurch wird es verunmöglicht, die Gemeinsamkeiten von bürgerlicher Gesellschaft und religiöser Gemeinschaft zu sehen. [5]
Demgegenüber kann etwa der Gottesmordvorwurf an die Juden und Jüdinnen als „sich in verschiedenen und jeweils zeitgemäßen Transformationen“ fortschreibender „Gründungsmythos einer ganzen Zivilisation“ [6] betrachtet werden. Und Horkheimer und Adorno betonen in den „Elementen des Antisemitismus“ auch dessen religiöse Tradition, welche entgegen der Selbstdarstellung von modernen (v.a. rassistisch argumentierenden) Antisemiten nach wie vor wirksam sei. Denn die „Religion ward als Kulturgut eingegliedert, nicht aufgehoben.“ [7] Der faschistische Glaube sei der selbe wie der religiöse, „nur sein Inhalt ist abhanden gekommen. Von diesem lebt einzig noch der Haß gegen die, welche den Glauben nicht teilen.“ [8] Auch wenn die Religion heute nicht mehr in diesem Ausmaß das Denken und Verhalten von Menschen bestimmt, so ist die Beschäftigung mit dieser Form der Massenbildung also nach wie vor sinnvoll. Denn in der Religion sind die bis heute gültigen Muster der Ein- und Ausgrenzung angelegt. So stellt das Christentum bei aller Aufklärung das Fundament des kulturellen Paradigmas zur Konstruktion des „Anderen“ im „Abendland“ dar: „Tatsächlich scheint die Neutralisierung der Religion gerade zum Gegenteil dessen geführt zu haben, was der Aufklärer Freud erwartete: die Trennung in Gläubige und Ungläubige ist aufrechterhalten und verdinglicht worden, aber sie wurde dabei zu einer unabhängig von allem Ideengehalt bestehenden Struktur an sich, die nach dem Verlust ihrer inneren Überzeugungskraft nur um so hartnäckiger verteidigt wird.“ [9]
Regression und Projektion
Da die Freudschen Thesen zum christlichen Antisemitismus, dem Ergebnis des schlechten Gewissens der kollektiv Regredierten gegenüber den AnhängerInnen der vergeistigteren Vaterreligion, hier schon behandelt wurden, [10] will ich mich im folgenden auf bisher in der Diskussion eher zu kurz gekommene Aspekte beschränken. Das in allen Studien zum Thema an zentraler Stelle behandelte Motiv der kulturellen Entwicklung hin zum Monotheismus kann jedoch nicht ausgespart werden: Die Juden und Jüdinnen führten bekanntlich den einzigen und noch dazu unbeschreibbaren Gott ein. Den drei narzisstischen Kränkungen der Menschheit kann eine vierte (die eigentlich die erste ist) beigefügt werden: „Der jüdische Monotheismus nahm ihm (dem Menschen, Anm.) die Illusion, Gott sein zu können.“ [11] An einen derart abstrakten Gott zu glauben, bedeutete zudem einen „Fortschritt in der Geistigkeit“ (Freud), welcher mit einem enormen Triebverzicht bezahlt werden muss(te). Und genau dieser Preis war für viele zu hoch. So erscheint das Christentum als Rächerin des gekränkten heidnischen Narzissmus, das Christusdogma als erneuertes Angebot zur Verschmelzung und Identifizierung mit der göttlichen Macht, die sich nun wieder in einem Menschen konkretisierte.
Die Entwicklung zum Monotheismus, zur Vorstellung eines einzigen, abstrakten Gottes, der als Vater-Imago liebende und strafende Anteile in sich vereint, lässt sich in Analogie zur Ontogenese auch begreifen als „Entwicklung von der eingeschränkten Wahrnehmung von Partialobjekten hin zur Fähigkeit der Wahrnehmung des ganzheitlichen Objekts“. [12] Nun besteht keine Notwendigkeit mehr, die aggressiv-destruktiven Anteile abzuspalten und nach außen zu projizieren (paranoid-schizoide Position). Vielmehr werden diese Anteile integriert, die widersprüchlichen Gefühle an einem inneren Objekt, das auch böse sein und gehasst werden kann, erfahren. Der Preis für diese Entdämonisierung der äußeren Welt ist der Ambivalenzkonflikt (depressive Position). Auf der Ebene der Gottesvorstellung bedeutet die christliche Etablierung einer vollkommen guten und liebenden Imago, welche der narzisstischen Ur-Mutter entspricht, die Rückkehr der Notwendigkeit zur Abspaltung und Projektion. Der Antisemitismus erscheint nun als überdeterminiert: Einerseits erweist er „sich als ein Hass auf jene, die am Ritual der Endlastung aus der paranoid-schizoiden Position nicht teilnehmen, denn sie werden als Bedrohung wahrgenommen, die an dem Sinn dieser Endlastung Zweifel entstehen lassen.“ [13] Andererseits ist er Projektion jener negativen oder analen Anteile, die nicht integriert werden können. Mit dem chrisdichen Gott betrat der jüdische Teufel die Weltbühne, der Narzissmus der Reinheit ist nur zu haben mit der Projektion des Unreinen, der Analität. „Der Reinigungsprozess ist seit zwei Jahrtausenden immer derselbe: sich vom Bösen befreien, indem man es auf den Judaismus projiziert.“ [14]
Jenseits im Diesseits
In den „Elementen des Antisemitismus“ betonen Horkheimer und Adorno zunächst den hohen Abstraktionsgrad der jüdischen Religion: „Gott als Geist tritt der Natur als das andere Prinzip entgegen, das nicht bloß für ihren blinden Kreislauf einsteht wie alle mythischen Götter, sondern aus ihm befreien kann. Aber in seiner Abstraktheit und Ferne hat sich zugleich der Schrecken des Inkommensurablen verstärkt“. [15] Das Christentum habe nun „den Schrecken des Absoluten gemildert, indem die Kreatur in der Gottheit sich selbst wiederfindet“. [16] Neben der narzisstischen Vermenschlichung Gottes kam es zu einer Verdrängung des Gesetzes (des ödipalen Momentes) durch den Glauben und die Gnade. Das neue, jenseitige Heilsversprechen blieb jedoch unverbindlich, zudem wurde den Gläubigen die Möglichkeit genommen, durch ein Leben nach dem Gesetz sich der Einlösung dieses Versprechens im Diesseits zu nähern. Und so mussten diejenigen, die das Wissen um diese Unverbindlichkeit „verdrängten und mit schlechtem Gewissen das Christentum als sicheren Besitz sich einredeten, (...) sich ihr ewiges Heil am weltlichen Unheil derer bestätigen, die das trübe Opfer der Vernunft nicht brachten.“ [17] Das sei „der religiöse Ursprung des Antisemitismus. Die Anhänger der Vaterreligion werden von denen des Sohnes gehaßt als die, welche es besser wissen. Es ist die Feindschaft des sich als Heil verhärtenden Geistes gegen den Geist. Das Ärgernis für die christlichen Judenfeinde ist die Wahrheit, die dem Unheil standhält, ohne es zu rationalisieren, und die Idee der unverdienten Seligkeit gegen Weltlauf und Heilsordnung festhält, die sie angeblich bewirken sollen. Der Antisemitismus soll bestätigen, daß das Ritual von Glaube und Geschichte recht hat, indem er es an jenen vollstreckt, die solches Recht verneinen.“ [18]
Zudem fühlt sich die falsche Hoffnung auf das jenseitige Reich herausgefordert durch „das hartnäckige Beharren auf Erlösung und Befreiung in der Welt“: „Eine Religion, die stets auch das Diesseits meint, das Hier und Jetzt, das ist der Juden Sünde! Dafür müssen sie immer wieder bestraft werden, auch heute noch.“ [19]
Von Saul zu Paulus
Die Evangelien können begriffen werden als „veritables Psychodrama, in dem Christus unablässig den Juden als Vertreter des Gesetzes und des väterlichen Prinzips angreift. Wenn ein Subjekt dank seiner narzisstischen Illusion zum Gott wird, so wird der Jude, der ein Hindernis vor der absoluten narzisstischen Erfüllung dieses Subjekts ist, zum Teufel.“ [20] Dennoch scheint eine historische Differenzierung wichtig: Während Jesus und die Apostel sich noch als Juden fühlten und zu diesen sprachen, wandte sich Paulus an die Heiden. Dabei musste er entschiedener mit der Vaterreligion brechen. Aus der scharfen innerjüdischen Polemik der Evangelisten wurde bei Paulus Antijudaismus oder religiöser Antisemitismus, wie er notwendig in der Fortbewegung vom Judentum entstand. [21] Paulus brach nicht nur mit dem Gesetz (Tora), das er durch den Glauben ersetzte, sondern führte auch die gnostische Idee der in gut und böse zweigeteilten Welt und einer möglichen Vollkommenheit (Reinheit) des Menschen in die neue Religion ein. Im Rahmen seiner Heidenmission zu allerlei Konzessionen an die Proselyten bereit, baute er verschiedene Entlehnungen aus anderen Kulten und Religionen (z.B. aus dem Mithraskult) in das Christentum ein. Vor allem setzte sich mit Paulus dort endgültig der antike Mythos durch: vom sich opfernden Gott, dessen Fleisch und Blut im magischen Ritual (Eucharistie) symbolisch verzehrt wird.
Auch und gerade mit der Abschaffung des Opfers, dieser „anthropologische(n) Voraussetzung aller Kulturregressionen“, [22] und seiner Ersetzung durch das Gesetz, welchem beim Individuum das Über-Ich entspricht, hat das Judentum einen zentralen Beitrag zur Kulturentwicklung oder „Vergeistigung“ (Freud) geleistet. Damit wurde eine zentrale Möglichkeit versperrt, aufgestaute destruktive Triebregungen unmittelbar abzuführen, was einer kollektiven Traumatisierung gleichkommt. Das Christentum fiel nun von dieser Stufe der Kulturentwicklung wieder herunter, wobei der „Rückfall in die Opfertheologie (...) gleichsam ‚umgedreht‘ (wird), indem den Juden eine archaische Opfermythologie als Gottesmörder unterschoben wird.“ [23]
Das Christentum beruht aber nicht nur auf einem (Selbst)Opfer Gottes, sondern es führte auch „symbolisch die Totemfeste der Urzeit wieder ein.“ [24] Bei der Kommunion kommt es zur symbolischen Einverleibung Christi, wobei die aggressive Verschlingungstendenz abgespalten und als Vorwurf des Gottesmordes auf die Juden und Jüdinnen projiziert wird. Dieser Vorwurf und die (unbewusst) davon abgeleiteten Ritualmordbeschuldigung werden demnach ständig durch die magischen Praxen aktualisiert und sind von daher nicht einfach mit theologischen Distanzierungen aus der Welt zu schaffen. All den antisemitischen Anschuldigungen, die den Frevel am (symbolischen) Leib Christi zum Gegenstand haben, liegt eine psychologische Wahrheit zugrunde: Der „Antisemit (beschuldigt) den Juden, das in Wirklichkeit zu tun, was er selbst symbolisch vollzieht.“ [25]
Daneben ist es die anhaltende Weigerung der Juden und Jüdinnen, Jesus als Messias oder gar den Sohn Gottes anzuerkennen, durch welche sie sich den Gottesmordvorwurf zuziehen. Ist die Existenz von Ungläubigen schon jedem religiös-expansionistischen Narzissmus eine Kränkung, so erneuert die jüdische Ungläubigkeit beständig die christlichen Selbstzweifel am göttlichen Charakter Jesu, was das Aggressionspotential der mit ihm sich Identifizierenden so erhöht. Mit der antisemitischen Figur vom Verrat des Judas soll(te) zudem das Wissen um den eigenen Verrat am Gesetz, am strengen Monotheismus samt seinem Bilderverbot abgewehrt werden.
Schließlich kommt dem Gottesmordvorwurf auch ein strategisches Moment zu: Es war eine Frage des Überlebens des jungen Christentums, nicht die Römer für den Kreuzestod Jesu verantwortlich zu machen. Und für dieses Arrangement mit der weltlichen Macht, welchem psychisch die Identifikation mit dem Aggressor entspricht, bezahlten die Juden und Jüdinnen. Am Beispiel der mittelalterlichen Passionsspiele lässt sich dies präzisieren. Sie „fanden in einer Atmosphäre anarchisch-exzesshafter Festesfreude statt. Das grausame Spiel von der blutigen Opferung eines Gottes war es, das mit Wein und Gebäck, mit Musik und Belustigung gefeiert wurde.“ [26] Der sadistische Lustgewinn an den bluttriefenden Passionsdarstellungen kollidierte mit dem kulturellen Zwang zum Mitleid mit dem Gemarterten. „Deshalb mussten die Aggressionen sekundär umgelenkt werden, um sie in theologisch akzeptabler Form abführen zu können: Die in der Identifikation mit den Römern entstandenen sadistischen Triebregungen wurden von Jesus auf die Ersatzfigur Judas verschoben. Der Befestigung und Sicherung dieser Verschiebung diente in geradezu idealer Weise die Aktualisierung durch die real existierenden Juden.“ [27] Von daher ist nur allzu verständlich, dass die Passionsspiele so oft in Pogrome mündeten.
Narzissmus
Spätestens jetzt ist es an der Zeit, den Begriff des Narzissmus zu präzisieren. Dieser meint hier weniger eine psychosexuelle Entwicklungsstufe als einen Zustand, der dem intrauterinen Leben vergleichbar ist, also einen „Abkömmling der vorgeburtlichen Koenästhesie“ [28] Diesem Zustand, dem phylogenetisch der Animismus (das magische Denken, welches auch den Antisemitismus kennzeichnet) gleichkommt, entspricht das Gefühl der Allmacht und Vollkommenheit, der Identität mit dem Universum oder der Ur-Mutter. Insbesondere gegen die Herausforderungen der Triebökonomie und des Ödipus steht die Sehnsucht nach der Rückkehr zu diesem Zustand der (R)Einheit. Vor der Geburt ist nach dem Tod: Diese Sehnsucht artikuliert sich als Wunsch, ins Paradies Eingang zu finden. Und so spricht auch aus dem islamistischen Schlachtruf „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod!“ die innere Wahrheit des absoluten Narzissmus.
Als psychische Dimension ist der Narzissmus der Gegenspieler der Triebe. Gelingt die Synthese von beiden nicht, wendet sich das Subjekt gegen den eigenen Körper als Repräsentanten der Triebe. Dieser Hass auf die Körperlichkeit (Realität) findet sich dann oft ein Ventil in Selbstverstümmelungen: „Ärgert dich dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirfs von dir.“ (Matthäus 5, 29) An anderer Stelle verlangt Jesus von den Seinen, dass sie ihr „eigen Leben“ hassen (Lukas 14,26). Und Franz von Assisi wird der Ausspruch „Mein Feind ist mein Körper“ zugeschrieben. Bei aller Selbstbestrafung im religiösen Wahn: Der christliche Kampf gegen das Es forderte seine Opfer unter denjenigen, auf welche die verbotenen (analen) Triebregungen projiziert wurden — „Juden“, „Ketzer“, „Hexen“. Auch im Blick auf die islamistische Reaktionsbildung auf die Moderne kann vermutet werden: Je lust- und lebensfeindlicher, je narzisstischer, eine Religion oder ein religiöser Synkretismus, desto ausgeprägter seine Verfolgungsneigung gegenüber denen, auf die das Verbotene oder nicht Integrierte projiziert wird.
An der Wiege des Christentums steht der narzisstische Wunsch nach der Erschaffung der Religion aus sich selbst. Diesem Narzissmus gehorchte auch das (aufgrund des Hasses auf die Geschlechtlichkeit) notwendige Dogma der unbefleckten Empfängnis, welches unter diesem Gesichtspunkt auch und vor allem metaphorisch zu verstehen ist: Christus wie das Christentum als Mythos der Selbstzeugung. Verdrängt ist so die Geburt, die den Narzissmus der Unendlichkeit stört und zudem an Körperlichkeit gemahnt.
„Christus ist doppelt: zeitlos, ist er Gott; ‚Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch: Ehe Abraham ward, bin ich‘, lässt Johannes ihn sagen (8,58). Christus tritt so aus der grammatischen Logik der gewöhnlichen Sprache heraus; (...) er situiert sich außerhalb der Abstammungslinie Abraham-Isaak-Jakob, die diesen nichtdarstellbaren und unaussprechlichen Gott bewundert, dem der Judaismus die gesamte narzisstische Besetzung vorbehält, indem er sich jede Identifizierung mit der Gottheit untersagt; er wird eins mit dem Vater und dem Heiligen Geist (dem reinen Narzissmus); trotzdem besteht er aus Fleisch und Blut und muss seine Körperlichkeit ebenso bekämpfen wie den biologischen, fetal-mütterlichen Ursprung seines eigenen Narzissmus. Er ist ein Widerspruch, eine Paradoxie, aus der er herauszutreten versucht, indem er dieses menschliche Übel auf die Nichtgetauften projiziert: die Juden.“ [29]
Der Antisemit und Theoretiker des Männerbundes, Hans Blüher, hat den Narzissmus der Körperlosigkeit in den Evangelien instinktiv erkannt: „Jesus ist also ohne Sexus. Dagegen hat Jesus Eros. Und zwar in höchst gesteigerter Form. Und zwar ist dieser ausgesprochen heidnisch. Er bezieht sich nämlich, das wissen wir mit Sicherheit, auf das eigene Geschlecht.“ [30] Tatsächlich ist diese narzisstische Liebe eben darin unterschieden von der Homosexualität: Sie ist „ohne Materialität, ohne Substanz, ohne Pragmatismus, ohne libidinöse Logik. Es handelt sich um eine Liebe an sich, um einen Glauben an sich, geschützt von den Komplikationen, die der Sexualtrieb unweigerlich mit sich bringt.“ [31]
Institutionalisierung
Am Konzil von Nizäa (325) wurde Christus endgültig zu Gott erklärt. Diese Vergöttlichung brauchte zur Ergänzung die Verteufelung des Judas und mit ihm der Juden und Jüdinnen. Ohne der Gottsetzung Christi „hätte der Antisemitismus keinerlei Existenzberechtigung gehabt.“ [32] Neben der Dogmatisierung war es vor allem die Konstituierung des Christentums als Staatsreligion, welche das Schicksal der Juden und Jüdinnen in Europa auf Jahrhunderte besiegeln sollte. Aus den FeindInnen der Religion wurden im vierten Jahrhundert FeindInnen des Reiches, die einer entsprechenden Ausnahmegesetzgebung unterstellt wurden. Für den Antisemitismus als sich selbst erfüllende Prophezeiung kann dieser Aspekt gar nicht überschätzt werden: Erst mittels staatlicher Repression konnte die behauptete Überlegenheit der christlichen über die jüdische Religion im Alltag eine Entsprechung finden.
Mit der Etablierung der Kirche als Verwalterin des Schuldgefühles und ihrem Bündnis mit der weltlichen Macht findet der christliche Narzissmus jedoch auch eine ödipale Einschränkung. Dass sich die Kirchenväter in ihrem militanten Antisemitismus geradezu wechselseitig Überboten haben, kann als Antwort auf diese Paradoxie verstanden werden: Gegen das Wissen um den Verrat am Glaubensgrundsatz, wonach das Reich Jesu nicht von dieser Welt sei, zeigte sich die „Gefolgschaft gegenüber dem Geist der Evangelien“ [33] in immer perfideren Anschuldigungen und Diskriminierungen.
Gegenüber einem unreflektierten Antiklerikalismus, der besonders in Österreich nicht immer mit fortschrittlichen Positionen identisch war und ist, sollten dennoch die Kirchen bei aller notwendigen Kritik in Schutz genommen werden. Auch und gerade vor jener neuen Spiritualität, die unter dem Banner eines erneuerten Narzissmus gegen die Kirchen anrennt, weil sich dort „ein nicht-religiöser (i.e. ödipaler, Anm. A. P.) Geist verbreitet hat.“ [34] Es ist der im Christentum selbst schon angelegte Mystizismus, welcher sich aktuell gegen die verwaltete und damit in ihrem Narzissmus etwas gezügelte Religion in sein Recht zu setzen versucht. Von daher gehört schon eine ordentliche Portion an Blindheit gegenüber den Gefahren der privatisierten und eben so regelmäßig zu Lasten der Juden und Jüdinnen gehenden Sinnsuche dazu, wenn man wie Rüdiger Safranski die „neu erwachende religiöse Sehnsucht (...), die sich gerade nicht an Dogmen, Institutionen oder rituellen Formen festhalten möchte“, [35] begrüßt.
[1] Die Furche, Nr. 47/04, S. 9
[2] Anhand der Christlich-Deutschen Tischgesellschaft lässt sich beispielhaft zeigen, wie v.a. der narzisstische Wunsch nach Reinheit den religiösen mit dem rassistisch argumentierenden Antisemitismus, den HistorikerInnen erst mehr als 70 Jahre später beginnen lassen, verbindet: Ein „Arierparagraph“ schloss auch Konvertierte aus, und Achim v. Arnim schlug zum Schutz vor der Infiltration durch „heimliche Juden“ vor, „die chemischen Kennzeichen (von Juden, Anm.) in ein zuverlässiges System zu bringen“. Dazu sollten diese in ihre „Bestandteile“ aufgelöst werden, damit die jüdische Besonderheit in den kleinsten Teilchen gefunden werden könne.
[3] Dies gilt nicht nur für die Beschäftigung mit dem Christentum: Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Gläubigen alleine reicht nicht aus, um den jeweiligen Antisemitismus ursächlich zu erklären. Die eigentlich banale Feststellung, dass nicht jede/r ChristIn (und Muslime) automatisch antisemitisch ist und dass es auch jüdische AntisemitInnen gibt, verweist auf die Notwendigkeit von ergänzenden Erklärungsansätzen, die andere Determinanten des Antisemitismus zum Gegenstand haben.
[4] Detlev Claussen: Über Psychoanalyse und Antisemitismus, in: ders.: Aspekte der Alltagsreligion. Ideologiekritik unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen. Frankfurt a. M. 2000, S. 109.
[5] Für die Kontinuitätsthese spricht nicht nur die Beharrlichkeit der antisemitischen Anschuldigungen und Diskriminierungen seit Entstehung des Christentums, sondern auch die Tatsache, dass der mit „Rasse“ argumentierende Antisemitismus nicht ohne Rückgriff auf den „Geist“ oder die „Kultur“ auskam. Und hat sich nicht Hitler selbst als Produkt der „Vorsehung“, als einer, der „das Werk des Herren“ vollendet, bezeichnet?
[6] Dan Diner: Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines „neuen Antisemitismus“, in: Doron Rabinovici, et al. (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Frankfurt a. M. 2004, S. 320.
[7] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1991, S. 185.
[8] Ebd.
[9] Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. 1995, S. 54
[10] Vgl.: Andreas Peham: Pathologische Massenbildung gegen Juden und Jüdinnen — Zur Psychoanalyse des Antisemitismus, in: Context XXI, Nr. 8/2002-1/2003, S. 21-26.
[11] Bela Grunberger/Pierre Dessuant: Narzissmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung. Stuttgart 2000, S. 351
[12] Dierk Juelich: Abspaltung und Projektion — Zur Psychodynamik antisemitischer Strukturen, in: Helmut Schreier/Matthias Heyl (Hg.): Die Gegenwart der Schoah. Zur Aktualität des Mordes an den europäischen Juden. Hamburg 1994, S. 176
[13] Ebd., S. 181.
[14] Grunberger/Dessuant, a.a.O., S. 26.
[15] Horkheimer/Adorno, a.a.O., S. 186.
[16] Ebd.
[17] Ebd., S. 188.
[18] Ebd.
[19] Emanuel Hurwitz: Bockfuß, Schwanz und Hörner. Vergangenes und Gegenwärtiges über Antisemiten und ihre Opfer. Zürich 1986, S. 124.
[20] Grunberger/Dessuant, a.a.O., S. 88.
[21] Vgl.: Gerald Messadie: Verfolgt und auserwählt. Die lange Geschichte des Antisemitismus. München, Zürich 2001, S. 97ff.
[22] Michael Ley: Kleine Geschichte des Antisemitismus. Stuttgart 2003, S. 18.
[23] Ebd., S. 49.
[24] Ernst Simmel: Antisemitismus und Massen-Psychopathologie, in: ders. (Hg.): Antisemitismus. Frankfurt a. M. 1993, S. 84; vgl.: Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: GW XVI, S. 190.
[25] Simmel, a.a.O., S. 80.
[26] Bernhard Dieckmann: Judas als Sündenbock. München 1991, S. 72.
[27] Emanuel Hurwitz: Judas und die Juden, in: Helmut Schreier/Matthias Heyl (Hg.): „Daß Auschwitz nicht noch mal sei ...“ Zur Erziehung nach Auschwitz. Hamburg 1995, S. 70.
[28] Grunberger/Dessuant, a.a.O., S. 93.
[29] Ebd, S. 13.
[30] Zit. in: Ulrike Brunotte: Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne. Berlin 2004, S. 89.
[31] Grunberger/Dessuant, a.a.O., S. 25.
[32] Ebd., S. 134.
[33] Ebd., S. 374.
[34] Safranski in: Die Furche, Nr. 47/04, S. 9.
[35] Ebd.
Seit 2000 Jahren: Gottesmord
Hubsi Kramar, passionierter Hitlerdarsteller und Galionsfigur des linken „Widerstandes“ gegen die FPÖVP-Regierung, sprach am 29.11. in Puls TV anlässlich der Premiere des von ihm inszenierten „Großinquisitors“ über die politische Aktualität des Dostojewskij-Textes: Vom Folterkeller im mittelalterlichen Spanien nach Guantanamo und Abu Ghraib: „Das findet immer wieder statt, dass Christus gefoltert wird.“ Das Stück spiele „irgendwo im Irak“ und Christus erscheint Kramar als „gefangener Terrorist“. Um noch die/den Begriffsstutzigste/n auf die richtige Spur zu bringen, machte Kramar, der die islamistische Mordbrennerei im Irak mit einer Zehn-Euro-Spende an die nationalbolschewistische Antiimperialistische Koordination (AIK) unterstützte, schließlich „das auserwählte Volk“ für Krieg und Terror verantwortlich.
