Grundrisse, Nummer 26
Mai
2008

Von der Harmlosigkeit radikaler Demokratie

Martin Nonhoff (Hg.), Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld: transcript, 2007.

Als einen der „einflussreichsten Beiträge zur politischen Theorie der Gegenwart“ bezeichnet Martin Nonhoff in seiner Einleitung den Ansatz von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Als Herausgeber eines Sammelbandes zu deren „politischem Denken“ tut er gut daran, dies zu betonen – ganz von der Hand zu weisen ist es jedoch nicht. 1984 erschien Hegemony and Socialist Strategy [1] und wirbelte mit seinem selbstbewussten „Postmarxism without Apologies“ die akademische Linke auf (vgl. etwa den Schlagabtausch zwischen den AutorInnen und Norman Geras in der New Left Review 163, 166, 169). Ihr Einsatzpunkt war die Dekonstruktion von „Subjekt“, „Gesellschaft“ und aller „Essentialismen“, die sie in der marxistischen (Theorie-)Tradition zu finden glaubten – auch und insbesondere dort, wo am Begriff der (ArbeiterInnen-)Klasse als in irgendeiner Weise privilegierter Akteurin festgehalten wurde. Ausgehend von Saussures Theorie der Struktur als Differenzsystem und deren poststrukturalistischen Weiterentwicklungen schlugen sie vor, statt von „Gesellschaft“ zu sprechen, „das Soziale“ als diskursiven Raum zu begreifen, der als unüberschaubare Vielzahl von Elementen und deren Beziehungen konstitutiv offen ist. Was sich uns als „Gesellschaft“, d. h. als gegebene, abgeschlossene, „genähte“ Struktur präsentiert, ist tatsächlich die stets prekäre, widerrufliche und unvollständige Formierung dieser Elemente zu bestimmten Diskursen. Herzstück dieser theoretischen Intervention war eine Umdeutung – oder Neuformulierung – des Hegemoniebegriffs, der nunmehr eine Praxis bezeichnen sollte, in der bestimmte Diskursformationen etabliert werden. Dies geschieht dadurch, dass einzelne Elemente zueinander äquivalent gesetzt werden, und zwar um einen „leeren Signifikanten“ sowie in Bezug auf eine ebenso äquivalent gesetzte Kette des „Anderen“. Durch dieses Spiel von Äquivalenz und Differenz werden Knotenpunkte geschaffen, um die sich Diskurse formieren: nicht a priori festlegbare soziale Kräfte (wie „Kapital“ und „Arbeit“) stehen einander mit entgegen gesetzten Interessen ausgestattet im Kampf gegenüber, sondern diese Kräfte entstehen als politische Identitäten erst in der Auseinandersetzung selbst. Ein Antagonismus, so die These, bezeichnet somit ein Verhältnis von gegnerischen Identitäten, die selbst keinerlei positiven Inhalt besitzen, sondern sich allein negativ, im Gegensatz zu dem als anders konstruierten konstituieren – zugleich werden sie von diesem anderen jedoch davon abgehalten, eine „volle“, eindeutige Identität auszubilden.

Diese reichlich abstrakt anmutenden Überlegungen, die an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden können, müssen in ihrem politisch-historischen Kontext verstanden werden. Laclaus und Mouffes Einsatz war, angesichts der sich zu Beginn der 1980er Jahre bereits etablierten „neuen sozialen Bewegungen“, gegen bestimmte Versuche gerichtet, deren Kämpfe gegenüber jenen der ArbeiterInnenbewegung abzuwerten. Laclau hatte bereits zuvor die lateinamerikanischen Kämpfe der 1960er und 70er Jahre und insbesondere die Entwicklungen in Argentinien unter Peron analysiert und eine Perspektive „national-popularer“ Anrufungen für die Linke favorisiert. [2] Die theoretische Reflexion dieser Erfahrungen, beeinflusst insbesondere von den Schriften Louis Althussers und Nicos Poulantzas’, führten Ernesto Laclau und Chantal Mouffe schließlich zu Positionen, die im Kontext von sich in Auflösung befindlichen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung sowie der Pluralisierung identitätspolitischer Auseinandersetzungen eine gewisse Plausibilität vorzuweisen hatten. Eine privilegierte Position des Proletariats im antikapitalistischen Kampf anzunehmen, so lautete die Losung, ist nichts weiter als ein essentialistischer Kurzschluss, Erbe einer historischen Irrtümern aufsitzenden Tradition von Marx bis Gramsci. Einer „postmarxistischen“ Linken müsste es vielmehr darum gehen, die potentiell unendliche Menge möglicher Antagonismen so zu organisieren, dass eine breite Allianz „popularer“ AkteurInnen sich um einen Knotenpunkt, einen „leeren Signifikanten“ konstituiert. Hegemonie und radikale Demokratie war somit nicht nur eine theoretische Provokation auf hohem Abstraktionsniveau, sondern auch eine strategische Intervention in real existierende soziale Bewegungen, und besonders an mit diesen verbundene Intellektuelle gerichtet.

Seither haben Laclau und Mouffe in regelmäßigen Abständen publizistisch nachgelegt, das eigene Theoriengerüst weiterentwickelt und im Zuge dessen mit der Essex School gar eine eigene theoretische Schule begründet. Auch im deutschsprachigen Raum, wo das immer noch als zentraler Referenzpunkt dienende Hauptwerk unter dem Titel „Hegemonie und radikale Demokratie“ bereits 1991 im Passagen Verlag erschien, ist die Debatte nicht abgeebbt. Davon zeugt dieses Buch, das der zweite größere Sammelband zu diesem Thema in deutscher Sprache ist. [3] Wovon er allerdings auch zeugt, ist dass die Schulbildung und Integration in den Mainstream politischer Theorie und Philosophie dem kritischen Impetus eines Ansatzes zumeist nicht allzu gut tun. Es lässt sich darüber streiten, ob dies bereits in den Ausgangsthesen von Laclau und Mouffe angelegt war, oder ob erst die ideologische Waschstraße des internationalen Hochschulbusiness die postmarxistische Diskurstheorie von ihren zumeist politisch-progressiven Einsprengseln gesäubert hat. Tatsache ist, dass im hier diskutierten Buch Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie die Bezüge zu politischen Kämpfen und sozialen Bewegungen nur mehr in Spurenelementen vorhanden sind.

Womit wir bei einem der Probleme des Sammelbands angekommen sind. Dieser stellt nach Angaben des Herausgebers den Anspruch, einen Überblick zu der an Laclau und Mouffe anschließenden Forschung im deutschsprachigen Raum zu bieten, verzichtet aber (mit Ausnahme eines Textes) weitgehend darauf, jene Positionen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen, die die theoretische Grundlage der versammelten Beiträge bilden. Den Anfang machen Laclau und Mouffe selbst, mit zwei sehr unterschiedlichen Aufsätzen. Laclau stellt in seinem vor zwei Jahren im englischen Original erschienenen Artikel die Grundzüge seiner eigenen theoretischen Entwicklung dar, was in dreierlei Hinsicht spannend ist: Erstens stellt er eine recht konzise Zusammenfassung dar, die auch für Nichteingeweihte Zusammenhänge seines Denkens nachvollziehbar macht. Zweitens können jene, die Hegemonie und radikale Demokratie gelesen habe, aber seither auf ein Laclau-Abonnement auf ihren Leselisten verzichtet haben, die seither vollzogene Anreicherung und teilweise Veränderung der Theorie nachlesen – dies betrifft etwa die Integration rhetorischer Konzepte (der sich Andreas Hetzel in seinem Beitrag genauer widmet) oder den verstärkten Bezug auf die Lacansche Psychoanalyse. Drittens schließlich – und dies schränkt den ersten Vorzug wiederum etwas ein – ist für mit seinem Werk Vertraute überaus aufschlussreich, wie Laclau retrospektiv Argumente aus Hegemonie und radikale Demokratie präsentiert, welche betont und welche eher unter den Tisch fallen gelassen werden. Ein nützlicher Text also, der den Rhythmus des Buches vorgibt und zentrale Kategorien einführt.

Chantal Mouffes Text – ebenfalls eine Übersetzung eines bereits erschienenen Aufsatzes – ist im Gegensatz dazu kein Rückblick, sondern ein Ausblick, und zwar in eine „gute Gesellschaft“ (S. 41). Als solcher steht er repräsentativ für ihre politisch-theoretische Weiterentwicklung (oder Wende?) in Richtung eines stark normativen, „radikaldemokratischen“ Republikanismus. Um eine wahrhaft demokratische Politik zu schaffen, so ihr Argument, bedürfe es der Überführung antagonistischer Verhältnisse, in denen Identitäten durch die Konstitution von „uns“ und „den anderen“ entwickelt werden, in einen „agonistischen Pluralismus“. In diesem werden politische Auseinandersetzungen nicht zwischen Feinden geführt, die auf ihre gegenseitige Auslöschung aus sind, sondern zwischen Gegnern, deren Feindseligkeit „domestiziert“ und im Rahmen „demokratischer Institutionen und Prozesse“ ausgetragen wird. Post-sozialdemokratische Politik nennt sie das – und das klingt nicht nur gruselig. Eine „gute Gesellschaft“ im Sinne von Chantal Mouffe scheint hier nur eines zukünftigen, neuen Gesellschaftsvertrags zu bedürfen, in dem man (wer eigentlich?) sich auf „einen Pluralismus, der Diversität und Dissens aufwertet“ (S. 48), einigt – aber bitte in Grenzen. Interessant ist der Text als Dokument der politischen Harmlosigkeit von Chantal Mouffes jüngeren Texten. Interessant ist auch, wie sie darin hinter zentrale theoretische Einsichten aus Hegemonie und radikale Demokratie zurückfällt. So scheint es, als wäre die dort so wichtige Kritik des Begriffs „Gesellschaft“ nie geschrieben worden; oder man stellt verwundert fest, dass über zwanzig Jahre, nachdem Laclau und Mouffe so vehement jede Objektivierung von „Interessen“, oder gar „Klasse“ bekämpft haben, plötzlich „Interessen des Kapitals“ auftauchen, die im Prozess der Globalisierung eine wesentliche strategische Rolle spielen sollen (S. 50). Für alle, die sich von einer guten Gesellschaft mehr erwarten als einen „Föderalismus, der Solidarität und Wettbewerb miteinander verbindet“ (S. 52), dürfte der Beitrag jedenfalls wenig überzeugend sein.

Auf diese beiden einleitenden Texte folgt der wohl interessanteste Beitrag des Buches und der einzige explizit kritische in Bezug auf Laclau und Mouffe. Alex Demirović nimmt sich deren theoretischer Grundüberlegungen an und kritisiert scharf, ohne je polemisch zu werden. Drei wichtige Einwände sollen hier herausgegriffen werden: Erstens ist auffällig, dass trotz aller Beteuerungen von Laclau und Mouffe, dass außerdiskursive Realitäten für die Erklärung des Politischen bedeutungslos wären, auf gerade solche doch immer wieder rekurriert wird. So wird an mehreren Stellen konstatiert, dass die moderne Logik von Diskurs und Hegemonie erst mit der Etablierung der Industriegesellschaft und durch „technologische Veränderungen“ sich durchsetzen konnte. Diese versteckte modernisierungstheoretische Argumentation, so Demirović, „verträgt sich nicht mit ihrem Ansatz, der die Analyse objektiver Gegebenheiten durch eine Analyse von diskursiv erzeugten Antagonismen ersetzen will“ – mit dem Effekt, dass „die ausgegrenzte vordiskursive Wirklichkeit (...) auf eher krude Weise in den Erklärungszusammenhang [wiederkehrt], während gerade das, was kritisierte Autoren wie Marx, Gramsci oder Foucault interessiert hat, der Zusammenhang zwischen objektiven sozialen Prozessen und Diskursen, nicht näher untersucht wird“ (S. 67). Ironischerweise, könnte man ergänzen, reproduzieren Laclau und Mouffe damit genau das, was sie „dem Marxismus“ vorwerfen, nämlich einen objektivistischen Begriff „der Ökonomie“. Sie verkennen dabei, dass es Marx stets darum ging, „die Ökonomie“ als gesellschaftliches Verhältnis zu begreifen, nicht als von Naturgesetzen bestimmten „Bereich“ – und fallen selbst hinter diese Erkenntnis zurück.

Die zweite Kritik betrifft den Begriff des „leeren Signifikanten“. Dieser soll laut Laclau und Mouffe als Knotenpunkt unterschiedlicher Forderungen prinzipiell offen sein. Gleichzeitig ist jedoch offensichtlich, dass nicht jeder Signifikant gleich geeignet ist, eine solch universalisierende Rolle zu spielen. Davon zeugt auch Laclaus und Mouffes Insistieren auf ein „demokratisches Imaginäres“, das durch Gleichheit und Freiheit bestimmt, den Horizont linker Kämpfe bilden sollte. Dieser Maßstab wird dadurch zu genau jenem „stabilen Knotenpunkt“, den man bereits theoretisch ausgeschlossen hat und den die Kämpfe, deren Kontingenz man so zu betonen trachtet, gar nicht mehr berühren.

Dies führt zu einem dritten Punkt: Indem der Antagonismusbildung ein konstitutiver Status für das Politische schlechthin zugestanden wird, kann nicht mehr erklärt werden, weshalb bestimmte Äquivalenzketten erstrebenswert sein sollten – und andere eben nicht. Indem immer von einem Ausgeschlossenen ausgegangen wird, erhält etwa, in einem von Laclau und Mouffe angeführten Beispiel, die Rolle des Großgrundbesitzers, der Bauern und Bäuerinnen vom Land vertreibt, eine gewisse positive Plausibilität (S. 74). Diese und viele weitere Einwände sind auch dann nachvollziehbar, wenn man Demirovićs stark an Adorno orientierter Gegenkonzeption nicht in allen Punkten zustimmen mag. Seine Feststellung, dass „zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, des Sexismus, des Rassismus (...) Laclau und Mouffe keinerlei Konzepte außer dem vage bleibenden Begriff der Demokratie [anbieten]“ (S. 77), wird jedenfalls kenntnisreich unterlegt.

Wer hofft, in den nun folgenden immerhin noch rund 150 Seiten käme es zu einer Auseinandersetzung mit dieser scharfen, die Eckpfeiler des politischen Denkens von Laclau und Mouffe in Frage stellenden Kritik, wird enttäuscht. Insgesamt leidet der Sammelband darunter, dass die einzelnen Beiträge in keinen Diskussionszusammenhang gestellt werden, sondern der „autistischen“ Logik akademischer Symposien folgen. [4] Dadurch erinnert das Unterfangen zuweilen an eine Messe für politische Theorien, in der verschiedene AutorInnen zeigen, was sie gerade an Arbeiten zu oder mit den Theorien Laclaus und Mouffes zu präsentieren haben. Dementsprechend geht es im Buch weiter, als hätte Demirović nie etwas gesagt: mit einem Beitrag von Andreas Hetzel zur Bedeutsamkeit der Rhetorik bei Laclau und Paul de Man. An die jüngeren Arbeiten Ernesto Laclaus anknüpfend, zieht Hetzel Parallelen in der negativistischen Sprachtheorie, die auch das Werk des belgischen Literaturtheoretikers de Man formiert habe. Beiden gehe es darum, Sprache als „in sich selbst gründende Performanz“ zu begreifen (S. 88), die sich auf keine vorgängige Ordnung beziehe. Auf die diskursive Logik des Politischen gewandt führt dies zur Aussage: „Menschliche Praxis bezieht sich nicht von außen auf ihr vorgängige Elemente, sondern schafft sich ihre Praxis performativ, im eigenen Vollzug“ (S. 95). Nicht selbstgewählte, unmittelbar vorgefundene, gegebene und überlieferte Umstände menschlichen Geschichte-Machens (Marx) werden von Hetzel mit bestechender Logik und abgeleitet aus sprachphilosophischen Axiomen einfach hinfort geschrieben. Dies scheint der Preis zu sein, der theoretisch zu zahlen ist, versucht man die soziale Welt vollständig in sprachtheoretischen Begriffen (Diskurs, Signifikat, Signifikant, Metapher, Metonymie, Synekdoche, Katachrese u.v.m.) zu erfassen. Zwar betonen Laclau und Mouffe immer wieder, dass das Diskursive keinesfalls bloß mit Sprachlichem oder Textuellem gleichzusetzen sei, sondern die gesamte Vielfalt der sozialen Praxen umfasse; letztlich wird dies aber nirgendwo eingelöst, was insbesondere durch eben jenen „rhetorischen Turn“ Laclaus illustriert wird. Problematisiert wird dies in Hetzels Beitrag jedoch nicht.

Auch in drei weiteren Beiträgen wird versucht, bestimmte Aspekte Laclaus Denkens in Bezug zu Autoren zu setzen, die von diesem rezipiert wurden. Oliver Marchart schreibt über die Bedeutung der Heideggerschen Unterscheidung zwischen „ontisch“ und „ontologisch“ für Laclau. Die Überlegungen sind dabei durchaus hilfreich zum besseren Verständnis von einigen Laclauschen Schlüsselbegriffen, bleiben jedoch dem Thema entsprechend „streng philosophisch“.

Urs Stäheli geht es um die Diskussion der Massenpsychologie (Gustave le Bon, Gabriel Tarde) in Laclaus jüngstem größeren Werk On Populist Reason. [5] Diese würde dort etwas zu voreilig als prä-psychoanalytisch auf die hinteren Plätze des postmarxistischen Theorie-Pantheons verwiesen. Stähelis Einwand: Dadurch verbaue sich Laclau die Möglichkeit, soziale Bewegungen anders als in Identifikationsmodellen zu denken. Nicht nur der zentrale Knotenpunkt des „leeren Signifikanten“ könne einen Antagonismus konstituieren, sondern auch direktere Formen sozialer Affektivität. „Nachahmungsketten“, die kollektive Bewegungen konstituieren, beruhen auf „gegenseitiger Affizierbarkeit“ und benötigen „keine vorrangige Identifikation mit einer zentralen Identifikationsfigur“ (S. 132), wie das bei Laclaus psychoanalytisch angeleiteter Version der Fall sei.

Johannes Angermüller schließlich kritisiert an Laclau, dass dieser „Forderungen“ als kleinste diskursive Einheiten festlege, ohne zu bedenken, dass in der empirischen Analyse stets vieldeutig bleibt, was eine Forderung eigentlich fordert. Er bringt als Alternative dazu die französische Äußerungstheorie in Anschlag, deren Konzentration auf formal identifizierbare „Sprachspuren“, marqueurs, eine genauere Methodologie erlaube. Tatsächlich, so scheint es nach Lektüre des Textes, erlaubt sie vor allem eine weitere Reduktion der sozialen Welt auf Sprache und führt geradewegs in staubtrockene „Diskursanalysen“, die sich jedes kritischen Anspruchs längst entledigt haben.

In fünf weiteren Texten steht eine stärker empirisch orientierte „Anwendungsperspektive“ der Theorien Laclaus und Mouffes im Mittelpunkt. Hervorzuheben ist hier Stefanie Wöhls Artikel, der sich des Themas Geschlechterverhältnisse annimmt und als einziger einen Bezug zu aktuellen sozialen Bewegungen herstellt. Ihre Antwort auf die Frage, ob und wie sich Chantal Mouffes Kritik des Essentialismus mit feministischer Theorie und Praxis verbinden lässt, fällt ambivalent aus. Anhand von Gender-Mainstreaming-Politiken zeigt sie, dass ein „radikaldemokratischer“ Blick im Sinne Laclaus und Mouffes wichtige Hinweise darauf liefern kann, wie Subjektpositionen – etwa (heterosexuelle/r) „Mann“ und „Frau“ – beständig diskursiv produziert werden. Gleichzeitig jedoch weist sie auf die Grenzen der Diskurstheorie hin, die verfestigte Strukturen und auf Dauer gestellte Institutionen in ihrer Wirkmacht nicht angemessen berücksichtigt.

Weitere Anwendungsbeispiele sind die „Erfindung“ der Sozialen Marktwirtschaft in der BRD (Martin Nonhoff), Untersuchungen zur (Nicht-)Existenz einer EU-europäischen Identität (Cornelia Bruell) sowie die „Nation“ als leerer Signifikant im politischen Diskurs Frankreichs seit Beginn des 19. Jahrhunderts (Daniel Schulz). Sie alle liefern durchwegs interessante Einblicke, wobei mal mehr, mal weniger klar ist, ob das hochkomplexe Theoriegebäude des Postmarxismus tatsächlich für die konkrete Forschungsarbeit notwendig gewesen wäre. Auffällig ist jedenfalls, dass der Blick auf „das Politische“ bei allen den Blick auf „die Politik“ bedeutet. Während etwa an Antonio Gramsci angelehnte Hegemonietheorien stets aufgefordert sind, die Ebenen des „Alltagsverstands“, der Alltagspraxen, der Selbst- und Weltverständnisse individueller und kollektiver AkteurInnen in die Analyse mit einzubeziehen, gerät in den an Laclau und Mouffe anschließenden Varianten genau das – zumindest hier – kaum in den Blick.

Insgesamt bleibt die Lektüre des Buches unbefriedigend. Zwar wird ein Überblick zur gegenwärtigen postmarxistischen Forschungsarbeit geboten, doch wird dabei der Anschein erweckt, als würden all diese WissenschafterInnen einsam in kleinen Studierzimmern sitzen, ohne je mit KollegInnen sprechen zu dürfen, die sich der gleichen theoretischen Strömung zurechnen. Denn von einer Debatte im Sinne eines kritisch-produktiven Austausches, in dem um gemeinsame Begriffe gestritten und auf Einwände von Anderen eingegangen wird, kann hier keine Rede sein. Dies fällt insbesondere bei Alex Demirović auf, dessen schlaue Kritik neugierig macht, wie darauf von diskurstheoretischer Seite reagiert würde – wenn es diese Reaktion denn gäbe. Das soll nicht heißen, dass eine theoretisch informierte Linke nichts von einer Auseinandersetzung mit Laclau und Mouffe zu gewinnen hätte. Diese muss schließlich die Frage beschäftigen, wie partikulare Forderungen subalterner AkteurInnen sich zumindest potentiell so verallgemeinern können, dass der bürgerliche Staat sich nicht mehr auf die aktive oder passive Zustimmung breiter Mehrheiten verlassen kann und die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise an alltäglicher Selbstverständlichkeit verliert. Zur Feinanalyse dieser Prozesse, die auf politischer Ebene zwischen den Polen von Partikularität und Allgemeinem sich vollziehen, tragen die von Laclau und Mouffe formulierten Begriffe einiges bei. Indem sie aber Klassen auf durch Identitätslogik formierte Kollektivakteure und das in der Praxis der Produktion angelegte Ausbeutungsverhältnis auf einen diskursiv artikulierten Antagonismus reduzieren, wird ihre Welt zur flachen Scheibe, auf der politische Praxen unbehelligt von „vordiskursiven“ Realitäten (wie Produktionsverhältnissen oder gesellschaftlicher Arbeitsteilung) und in aller Kontingenz wuselnd für Komplexität sorgen. Um ihre Diskurstheorie für linke Theorie und Praxis fruchtbar zu machen, müsste sie in Bezug zur Leitfrage Antonio Gramscis – in dessen Tradition der Postmarxismus sich gerne sieht – gestellt werden: „Will man, daß es immer Regierte und Regierende gibt, oder will man die Bedingungen schaffen, unter denen die Notwendigkeit der Existenz dieser Teilung verschwindet?“ [6] Hier fehlt nicht nur die Antwort, viel schlimmer noch: Nach Lektüre der meisten in diesem Band versammelten Beiträge würde eine solche Frage wohl niemandem einfallen.

[1Vgl. E. Laclau/C. Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics, London: Routledge, 1984; dt. Übersetzung: dies., Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus, übers. von M. Hintz/ G. Vorwallner, Wien: Passagen, 1991.

[2Vgl. das erste von Laclau publizierte Buch, ders., Politics and Ideology in Marxist Theory. Capitalism, Fascism, Populism, London: New Left Books, 1977. Laclau selbst war in den 1960er und 1970er Jahren als studentischer Aktivist in Buenos Aires und später als führendes Mitglied der linksnationalistischen Partido de la Izquierda Nacional in Argentinien aktiv.

[3O. Marchart (Hg.), Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Wien: Turia + Kant, 1998. Das inzwischen vergriffene Buch, in dem im Gegensatz zum hier besprochenen vor allem internationale Beiträge versammelt sind, ist erfreulicherweise vom Verlag online gestellt worden: http://www.turia.at/downloads/laclau.pdf.

[4Das Buch, so erfahren wir im Vorwort, „ist Ergebnis des Workshops Discourse, Democracy, Hegemony: Resumé and Future Prospects of the Political Theory of Ernesto Laclau and Chantal Mouffe, der am 9. und 10. Dezember 2005 am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen stattgefunden hat“.

[5E. Laclau, On Populist Reason, London: Verso, 2005.

[6A. Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 7, Hamburg: Argument, 1991ff., 1713-4.

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