Heft 5-6/2005
Oktober
2005

Wahn und Wohnzimmer

Ebenso wie der Antisemitismus nach 1945 Auschwitz in sein System der Schuldabwehr aufgenommen hat, so wurde auch, der Scheinrationalität des Wahns konsequent folgend, der Hass auf Israel, Staat gewordene Konsequenz aus der Shoa, in das antisemitische Weltbild integriert. Israel stellt in dieser Logik das in Staatlichkeit verfasste Judentum dar, ist quasi verstaatlichte Projektionsfläche antisemitischer Stereotype. Vor allem (aber nicht nur) in den postnationalsozialistischen Gesellschaften Deutschlands und Österreichs wird das Dilemma der AntisemitInnen nach 1945, dass nämlich antisemitische Ressentiments angesichts der Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen zumindest teilweise tabuisiert sind, dahin gehend aufgelöst, dass sich jener Wahn in Form des Antizionismus international an Israel austobt.

Nun mag sich in den letzten Jahren aufgrund einer gewissen öffentlichen Sensibilisierung der Diskurs über den Nahostkonflikt tendenziell in seiner Deutlichkeit verändert haben, am Charakter der Wahrnehmung, die angesichts des Ausfalls jeglicher Reflexion pathischen Charakter hat, [1] zusammenfassend an der Rezeption des Nahostkonflikts, hat sich jedoch wenig geändert. Stellte die Anerkennung des Existenzrechts Israel vor wenigen Jahren noch die Ausnahme im antizionistischen Mainstream, so ist es mittlerweile meist jene alibihafte Floskel, die den eigenen Antizionismus in seiner zivilgesellschaftlichen Form als „Israel-Kritik“ tarnen soll. Dieser so gönnerhaft und mit dem impliziten Hinweis, man hätte ja aus der Vergangenheit gelernt, ausgesprochenen Legitimation folgt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jenes „Aber“, das dem Ressentiment unter dem Deckmantel gut gemeinter Kritik freien Lauf lässt. Dieses Ressentiment findet in der öffentlichen Meinung, mittlerweile im globalen Maßstab, sein Medium der Reproduktion.

Meinung, so Adorno, „ist die wie immer auch eingeschränkte Setzung eines subjektiven, in seinem Wahrheitsgehalt beschränkten Bewußtseins als gültig“. [2] Der Meinung sei daher immer ein wahnhaftes Moment immanent, das gegen Erfahrung abdichtet. Während das Individuum über seine Meinung reflektieren könne, sei die Kategorie der Meinung „gepanzert gegen solche Reflexion“. [3] Strukturell dem Antisemitismus ähnlich bietet die Meinung „Erklärungen an, durch die man die widerspruchsvolle Wirklichkeit widerspruchslos zuordnen kann“ [4] und gleichzeitig narzisstische Befriedigung, indem die individuelle Meinung ihre Sanktionierung durch den kollektiven Wahn, auch als öffentliche Meinung zu bezeichnen, erfährt. Genau jene öffentliche Meinung, die Rezeption des Nahostkonfliktes in der deutschen Gesellschaft, bzw. deren Kritik war Thema einer von der Initiative Antisemitismuskritik Hannover 2003 organisierten Veranstaltungsreihe. Nun wurden die überarbeiteten Referate gesammelt in Buchform veröffentlicht.

In der kompetenten Einleitung behandeln die HerausgeberInnen überblicksartig und dennoch fundiert die wichtigsten Komponenten (nicht nur) deutscher Wahrnehmungsmuster des Nahostkonfliktes: Antisemitismus, Antizionismus und in gewissem Sinne auch Antiamerikanismus. Es sollten eigentlich Basisbanalitäten den Nahostkonflikt betreffend sein, die hier ins Treffen geführt werden: die Vernichtungsdrohungen gegen Israel auch nach einem etwaigen Friedensschluss (Beispiel Syrien); das oft geäußerte Ziel, einen palästinensischen Staat nicht neben sondern statt Israel zu errichten, etc. Allein die Tatsache, dass dem nicht so ist, sagt jedoch nichts über die HerausgeberInnen, sondern über den gesellschaftlichen Kontext aus, in dem und gegen den dieses Buch geschrieben wurde.

Jochen Müller untersucht im ersten Text die Funktion des Antisemitismus in der Ideologie des arabischen Nationalismus als Ventil und Kitt und als idealtypische Form der konformistischen Rebellion, kurzum der arabische Antisemitismus ist vom modernen Antisemitismus nicht zu trennen. Ob der politische Islam daran völlig unbeteiligt ist, wie der Autor behauptet, mag bezweifelt werden. Dem Artikel von Sylke Tempel über das Unvermögen bzw. den Unwillen der Regierung Arafat, Reformen in den Autonomiegebieten durchzuführen, folgt der Bericht von Jörn Böhme über die Entwicklung der „israelischen Friedenskräfte“ seit dem Beginn der Zweiten Intifada und ihre Rezeption in Deutschland. Andrew Srulevitch skizziert in seinem Text die antizionistische Internationale in der UNO bzw. deren Teilorganisationen, während Philipp Emanuel Nassauer die Geschichte Israels überblicksartig skizziert. Den Abschluss bilden die Artikel von Frank Oliver Sobich „Über den Zusammenhang von Antisemitismus und Antiamerikanismus“ und von Lars Quadfasel zur „Modernisierung des Antisemitismus im Antizionismus“. Zusätzlich wird das Buch durch eine einschlägige Linkliste, eine ausführliche Bibliographie und die Dokumentation der Rede von Ilka Schröder anlässlich der Verleihung des Theodor-Lessing-Preises sowie eine kurze Auflistung internationaler finanzieller Unterstützung für die palästinensischen Autonomiegebiete und Flüchtlingslager bereichert.

Lars Quadfasel bringt das Dilemma der KritikerInnen von Antisemitismus und Antizionismus zu Beginn seines Textes auf den Punkt: der antisemitische Wahn bewegt sich jenseits der Grenzen der Aufklärung, die dadurch ihre Ohnmacht erfährt, andererseits ist die Kritik des Ressentiments unabdingbar und notwendige Bedingung einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft. Dazu leistet dieses Buch einen wichtigen Beitrag.

Initiative Antisemitismuskritik (Hrsg.): Israel in deutschen Wohnzimmern. Realität und antisemitische Wahrnehmungsmuster des Nahostkonfliktes, Stuttgart, 2005, ibidem-Verlag.

[1Vgl. Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main, 2001, 13. Auflage, S.199. „Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin.“ Der Paranoiker rezipiert seine Außenwelt nur, wie es seinen Zwecken entspricht.

[2Adorno, Theodor W.: Meinung Wahn Gesellschaft, in: Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt/Main, 2003, S.573-594, S.574.

[3Ebd., S.575.

[4Ebd., S.580.

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