FORVM, No. 196/I
April
1970

Warum die SPÖ siegte

I.

Der Sieg der SPÖ am 1. März 1970 war nicht nur ein Schock für die ÖVP. Er traf die SPÖ so unvorbereitet wie die absolute Mehrheit die ÖVP am 6. März 1966.

Beide Parteien hatten sich im Wahlkampf verbal zum Ziel der absoluten Mehrheit bekannt. Wie de Gaulle seine Plebiszite stets unter dem Motto „Ich oder das Chaos“ geführt hatte, drohte Klaus mit der Alternative „Ich oder die Koalition“. Das Motto zeugte von Prinzipientreue, nicht aber von Realismus, das heißt Kenntnis des Wählerwillens. Meinungsumfragen hatten ergeben, daß die Österreicher nach wie vor, trotz Koalitionsverteufelung durch den Großteil der österreichischen Presse, die große Koalition als bestes Regierungsmodell für ihr Land ansehen.

Kreisky präsentierte demgemäß sein Ziel der absoluten Mehrheit von vornherein so zurückhaltend, daß niemand an dessen Realisierung glaubte.

Meinungsforscher aller Couleurs prognostizierten ein Kopf-an-Kopf-Rennen und gaben der ÖVP die besseren Chancen auf die relative Mehrheit an Stimmen und Mandaten.

Eine Chancengleichheit von ÖVP und SPÖ hatten sich die Meinungsforscher auf Grund der sozio-ökonomischen Strukturveränderungen errechnet (vgl. Karl Blecha, Veränderungen der Wählerstruktur, „Die Zukunft“, Heft 4, Mitte Februar 1970).

Die wichtigste Verschiebung der sozialen Struktur ist das Anwachsen des „tertiären Sektors“, das heißt die Zunahme der in Dienstleistungsberufen Tätigen auf Kosten der iin der Produktion Beschäftigten. Parallel dazu wächst auch auf dem „sekundären Sektor“ die Zahl der Angestellten gegenüber der Zahl der Arbeiter. Die Gesamtzahl der Angestellten beträgt 1970 nahezu eine Million (996.000) und nähert sich damit immer mehr der Gesamtzahl der Arbeiter.

Beide Entwicklungen begünstigen an sich noch nicht die SPÖ — Klassenbewußtsein und gewerkschaftlicher Organisationsgrad sind bei Angestellten geringer als bei Arbeitern.

Beide Entwicklungen wären an sich durchaus geeignet, der „bürgerlichen“ ÖVP neue Wählerschichten zu erschließen.

Ebenso sind die regionalen Verschiebungen in der Wählerstruktur noch kein Indiz zugunsten der SPÖ. In den letzten elf Jahren hat sich die Zahl der Wahlberechtigten in Österreich um 7,4 Prozent erhöht, wobei der Prozentsatz regional stark variiert. Im Osten Österreichs liegt der Zuwachs deutlich unter dem Durchschnitt (in Wien 2,6, in Niederösterreich 3,1, im Burgenland 3,8 Prozent). Im Westen liegen die Prozentzahlen weit über dem Durchschnitt (in Kärnten 12,7, in Salzburg 19,1 in Tirol 17,5, in Vorarlberg 18,8 Prozent). Die Zunahme der Wählerzahl ist in den Bundesländern, wo die ÖVP (mit Ausnahme von Kärnten) über solide Mehrheiten verfügt, besonders hoch, sie ist niedriger im „roten“ Wien und im ebenfalls sozialistisch geführten Burgenland.

Zu diesen sozio-ökonomischen und demographischen Verschiebungen kommen Wanderungsbewegungen aus den ländlichen in die städtischen Gebiete, aus dem Dorf in die mittleren und größeren Städte. Dieser Faktor des Urbanisierungsprozesses ist der einzige, der „nach der Papierform“ für die SPÖ wirkt. Der Wechsel vom Dorf in die Stadt, der Statuswechsel von der Landwirtschaft in die Industrie, die Entstehung von einander überschneidenden Mehrfachbindungen (Familientradition und Einflüsse des neuen Milieus) bringen, wie Umfragedaten erhärten, in den meisten Fällen auch einen Wechsel der Parteipräferenz mit sich, oder zumindest die Bereitschaft zu solchem Wechsel.

Die Indexwerte der einzelnen Wahlkreise zeigen, daß das Wahlergebnis vom 1. März 1970 die Folge enorm starker Wählerbewegungen im Westen ist, während der Osten Österreichs weitaus weniger mobil war. Den größten Zuwachs verzeichnete die SPÖ in Vorarlberg und Tirol.

Die These, daß der Westen Österreichs nun den Anschluß an den industrialisierten Osten gefunden habe, ist nicht stichhaltig. Die Entwicklung der Industrie stagnierte in den letzten vier Jahren eher, zugenommen haben nur die reinen Fremdenverkehrsgemeinden und damit die Zahl der im „tertiären Sektor“ Beschäftigten.

Der jetzige rasante Zuwachs der SPÖ ist Folge eines psychologischen Verzögerungseffektes, politisches Nachziehverfahren gegenüber der sozioökonomischen Entwicklung. Die SPÖ hätte in Vorarlberg und Tirol auf Grund der sozialen Struktur schon längst mehr Stimmen erreicht, wenn eine kurzsichtige Führungsgarnitur ihre potentiellen Wähler nicht durch gravierende politische Fehler in die Arme der ÖVP getrieben hätte. Fußach, das 1966 Probst eine kräftige Abfuhr erteilt hatte, hat 1970 eine absolute SPÖ-Mehrheit.

Anders liegen die Dinge im Mühlviertel und in der Oststeiermark, in denen die SPÖ ebenfalls überdurchschnittlich zunahm — Gebiete, die weder wachsende Industrialisierungsraten noch Fremdenverkehrsattraktionen aufzuweisen haben. Beide Gebiete gehören eher zu den unterprivilegierten Regionen Österreichs, in beiden Gebieten gibt es starke Wanderungsbewegungen vom Land in die Stadt sowie eine große Zahl von Pendlern.

Der von Kreisky in der Wahlnacht geprägte Slogan vom „Durchbruch ins Dorf“ ist also eher mit Vorsicht zu genießen. Die Bauern haben 1970 weder ihre Liebe zum Sozialismus noch zu Kreisky entdeckt. Die ÖVP hat in bäuerlichen Regionen noch immer 70 Prozent der Stimmen. Zwar ist der Anteil der ausgesprochenen Präferenzen für die ÖVP seit 1965 laufend zurückgegangen (auf die Frage, welche Partei sie wählen würden, wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre, antworteten im Mai 1967 76 Prozent mit ÖVP und 3 Prozent mit SPÖ, im Dezember 1969 66 Prozent mit ÖVP und 6 Prozent mit SPÖ), die freiwerdenden Stimmen gehen jedoch nicht ohne weiteres auf das Konto der SPÖ.

Eine Ausnahme bilden die Weinbauern, von deren Unzufriedenheit die SPÖ deutlich profitierte.

Die Gewinne der SPÖ in „bürgerlichen“ Bezirken Wiens, in den mittleren und größeren Städten hatten sich bereits in Zwischenwahlzeiten abgezeichnet. Daten von Repräsentativumfragen ergeben, daß die SPÖ bei Privatangestellten deutlich gegenüber der ÖVP aufgeholt hat. (Während im Mai 1967 noch 39 Prozent der Privatangestellten zur ÖVP, 25 Prozent zur SPÖ und 4 Prozent zur FPÖ tendierten, bevorzugten im Dezember 1969 nur noch 23 Prozent die ÖVP, 37 Prozent die SPÖ und, gleichbleibend, 4 Prozent die FPÖ).

Ebenso deutlich ist der Sympathiegewinn der SPÖ bei den Freischaffenden: während die ÖVP-Sympathien vom Mai 1967 bis Dezember 1969 relativ stabil blieben, stiegen die SPÖ-Sympathien von 6 auf 28 Prozent. Die Freischaffenden stellen zwar nur einen geringen Prozentsatz des Wählerpotentials. Unter ihnen finden sich jedoch viele „Opinion-leaders“, die die Stimmung für oder gegen eine Partei prägen und damit unentschiedene Wähler nach sich ziehen.

Statussymbol des Opinion-leaders ist der „Spiegel“, dessen Auflage in Österreich in den letzten Jahren stark gestiegen ist. Seine sanftrosa Linie und die Regierungsübernahme durch die SPD in Deutschland haben dem Sozialismus in bürgerlichen Kreisen zu Ansehen verholfen. Die Sozialdemokratie ist salonfähig geworden.

Die Herabsetzung des Wahlalters durch die ÖVP-Alleinregierung wurde von den früher zum Wahlrecht Gelangten nicht honoriert. 1966 gelang es der ÖVP, sich als die jüngere, dynamischere, zukunftsorientierte Partei zu präsentieren und die Mehrheit der Jungwähler für sich zu gewinnen. 1970 ist das gleiche der SPÖ gelungen. Insbesondere in Wien, aber auch in Westösterreich hat sich ein hoher Jungwähleranteil in hohen SPÖ-Stimmengewinnen niedergeschlagen.

II.

Die sozio-ökonomischen und demographischen Entwicklungen reichen nicht aus, um den Anstieg der SPÖ von 42,6 auf 48,2 Prozent der abgegebenen Stimmen zu erklären (ein Prozentsatz, der 1966 fast ausreichte, um der ÖVP die absolute Mehrheit zu verschaffen!).

Das Zurückfließen von Olah-Wählerstimmen hat der SPÖ ebenso einen nicht unbeträchtlichen Stimmenzuwachs erbracht (wenn auch, wie die Analysen 1966 zeigten, nicht alle DFP-Wähler frühere SPÖ-Wähler waren) wie die weitere Schrumpfung der Kommunisten. Diese Entwicklung war 1966 verfälscht worden, als die KPÖ nur in einem einzigen Wahlkreis kandidierte und in den übrigen eine Wahlempfehlung für die SPÖ abgab.

In den alten Industriegebieten hat die SPÖ nur unterdurchschnittliche Erfolge verzeichnen können. Gleichzeitig gelang es den Kommunisten dort (zum Beispiel in der Obersteiermark), 2 bis 3 Prozent der Stimmen zu erreichen (1962 erzielte die KPÖ noch 6 Prozent). Das heißt, daß in den Gebieten, die über kurz oder lang auf Grund der strukturellen Umschichtungen zu Notstandsgebieten werden, die KPÖ die Unruhe der Arbeiterschaft, die Sorge um zukünftige Arbeitsplätze, für sich zu Buche schlagen konnte.

Die FPÖ, die von 1959 bis 1966 eine kontinuierliche Schrumpfungsrate pro Wahl aufweist, konnte bei den Zwischenwahlen einen prozentuellen Anstieg von nahezu 30 Prozent erreichen. Bei Landtags- und Gemeinderatswahlen machte sich der Unmut „bürgerlicher Protestwähler“ zugunsten der FPÖ Luft. Die Erklärung vom 16. Jänner 1970 mußte gerade diese Wähler verärgern. Die Partei, die zum Unmutsventil der „Bürgerlichen“ geworden war, erklärte, daß sie nur mit der ÖVP koalieren wolle.

Über das Verhalten der früheren FPÖ-Wähler gibt es zwei Hypothesen:

  1. die These des ÖVP-Generalsekretärss Pisa, wonach sämtliche früheren, von der ÖVP abgesprungenen FPÖ-Wähler diesmal SPÖ gewählt hätten und die FPÖ zum „Durchhaus“ geworden sei;
  2. die These, wonach Stammwähler der FPÖ eine links-liberale SPÖ einer rechts-konservativen ÖVP vorzogen, die FPÖ dagegen von der ÖVP unzufriedene „Bürgerliche“ gewann.

Für die Entwicklung der österreichischen Demokratie interessanter als diese Spekulationen über die Verhaltensweise des „dritten Lagers“ ist die ständig wachsende Zahl der Wechselwähler, und zwar Wähler, die nicht nur über das Medium der FPÖ, sondern direkt zwischen ÖVP und SPÖ wechseln. Die überraschend angestiegene Zahl der Wechselwähler hat schon 1966 den Erdrutsch zugunsten der ÖVP bewirkt. Der erneut angestiegene Prozentsatz der Wechselwähler bewirkte vier Jahre später die Trendumkehr zugunsten der SPÖ.

Die Meinungsforschung charakterisiert die Wechselwähler durch ihre Mehrfachbindungen, die durch den Wechsel des Wirtschaftssektors (von der Landwirtschaft in die Industrie), der sozialen Schicht (vom Arbeiter zum Angestellten), der Familientradition zustande kommen. Die eingangs erwähnten Entwicklungsprozesse fördern die Entstehung solcher Mehrfachbindungen und damit die Lockerung der politischen Lager, die in Österreich zum Grundbestand des politischen Systems gehörten.

Der solideste Kitt, der das „konservativ-bürgerliche“ Lager bisher zusammenhielt, der Katholizismus, hat seine diesbezügliche Rolle ausgespielt. Die raschen Umwälzungen in der Weltkirche und die nachhinkenden, zähen Veränderungen in der österreichischen Kirche haben die Funktion der Religion als Bestandteil der konservativen Ideologie obsolet werden lassen.

Theoretisch war diese Entwicklung in Österreich schon lange abgeschlossen, praktisch-psychologisch wirkte die Tradition der Kirche als Stütze der bürgerlichen Ordnung noch fort. Viele Katholiken, vor allem die jüngeren, haben am 1. März die SPÖ gewählt. Diese Hypothese ist zwar bis jetzt nicht durch Umfragedaten verifiziert, wird aber von jedermann angenommen.

Die SPÖ profitierte überdies von den politischen Fehlern der ÖVP. Die Regierung Klaus hatte 1966 die Erwartungen ihrer Wähler hochgeschraubt, sie hatte die neue Ära der „Sachlichkeit“, der „Zusammenarbeit von Politik und Wissenschaft“ groß angekündigt. Die „Aktion 20“ erwies sich jedoch sehr bald als das, was sie von Anfang an war: als Seifenblase, die der Wähler zu Wahlzeiten vorgeblasen bekommt und die sich in Nachwahlzeiten in nichts auflöst. Der „wissenschaftliche“ Anstrich der ÖVP bröckelte so schnell ab, wie er fabriziert worden war. Hinter der wissenschaftlichen Fassade kam die Honoratiorenpartei alten Stils hervor, Klaus pflegte des öfteren den „Mut zur unpopulären Politik“ zu zitieren. Wie unpopulär diese Politik wirklich war, haben jedoch erst die Wahlen gezeigt. Zumindest einer der drei Bünde der ÖVP hätte diese Unpopularität schon früher erkennen müssen — der ÖAAB, der sich als Interessenvertretung der Arbeiter und Angestellten in der Partei versteht, und, vor Jahren, sogar als „linker“ Flügel der ÖVP verstand. Vermutungen, die Politik der ÖVP sei „zu weit rechts“ gewesen, regten sich im ÖAAB erst nach der Wahl. Vor der Wahl wurde die Politik der Industriellenvereinigung stillschweigend als Politik der ÖVP akzeptiert.

Der Wahlkampf, aggressiv im Ton, wiederholte die seit 25 Jahren für den politischen Gegner geprägten Klischees. Angstparolen und Diffamierung der Sozialisten als gefährliche Revoluzzer zogen jedoch nicht mehr. Kreisky ist kein Bürgerschreck. Im Gegenteil.

Der Antisemitismus, mit dem in Westösterreich eine emotionelle Aufladung der Wahlkampagne versucht worden war, erwies sich als Blindgänger. Nicht daß der Antisemitismus in Österreich vielleicht schon ausgestorben wäre; es gilt jedoch als nicht fein, ihn offen als politisches Argument zu verwenden. „Antisemitismus ist Privatsache.“ Wieviel Anteil Österreichs kollektive Schuldgefühle an Kreiskys Sieg haben, können Compuüter nicht errechnen.

Die Wahlkampfstrategen der ÖVP haben Österreich für konservativer gehalten, als es ist. Der Vorwurf, „die Sozialisten wollen alles anders machen“, erwies sich als Bumerang. Die wahlentscheidenden Wechselwähler lehnten die ÖVP-These „Keine Experimente“ ab. Umfragedaten zeigen, daß in den letzten Jahren die Bereitschaft zu „neuen Wegen“ in der Politik zugenommen hat, die Konservative Scheu vor Experimenten zurückging.

Die Welle der Demokratisierung, die in Europa seit zwei bis drei Jahren im Wachsen ist, hat — mit Verspätung und noch sehr zaghaft — auch Österreich erreicht. Die Kritik am „traditionellen Parteiensystem“, an der „bürgerlich-parlamentarischen Demokratie“ ist bis in Leitartikel der bürgerlich-konservativen „Presse“ gedrungen (vgl. Otto Schulmeister, Der Zug nach links, 14. März 1970). Die Ära der Vaterfiguren in der Politik ist passe. Die Vaterfigur Klaus hat sich nur etwas länger gehalten als die großen Vorbilder Adenauer und de Gaulle.

Die ÖVP-Propaganda blieb von solchen Problemen unberührt. Sie trommelte wie eh und je, daß in Österreich die beste aller denkbaren Welten unter der besten aller denkbaren Regierungen ausgebrochen sei.

Die SPÖ-Propaganda war unaggressiv. Ihre ferienprospektbunte Harmlosigkeit deckte alle Assoziationen von Klassenkampf und Dogmatismus zu. Es war ein Wahlkampf des „Leisetretens“.

Zielgruppen der SPÖ-Propaganda waren in exakter Befolgung der eingangs skizzierten sozio-ökonomischen Entwicklungen die jungen Angestellten, deren Hunger nach Konsum, Aufstieg und Prestige von der ÖVP-Regierung nicht gestillt wurde. Je jünger diese Bevölkerungsschicht ist, um so aufstiegsorientierter denkt sie. Die Wahlplakate offerierten Computer als Symbol technischen und beruflichen Fortschritts, technikolorierte Ferienparadiese als Symbol für Sozialprestige.

Die zweite Zielgruppe der SPÖ-Propaganda waren die nicht berufstätigen Frauen, deren Stimmen sich die ÖVP so sicher war, daß sie sie in der Werbung total vernachlässigte. Die SPÖ brachte nicht ungeschickt die Frage des Familienrechts (als juristischer Konservierung der patriarchalischen Familienstruktur) in die Diskussion.

Die dritte Gruppe waren die Jungwähler, insbesondere die jüngsten Jahrgänge, deren politische Ansichten bisher als stark vom Elternhaus vorgeprägt galten. In den gehobenen Einkommensschichten, in traditionellen ÖVP-Wählerkreisen, wurde es unter den Jungen jedoch „schick“, sozialistisch zu wählen. Auch wenn die SPÖ in den Augen der Jungen weit entfernt ist von einer ihnen gemäßen Partei, so ist sie doch noch immer akzeptabler als die ÖVP, die die österreichischen Plakatwände mit Patriarchalismus und Sicherheit, Angst und charismatischen Führern überzog.

Die Bedeutung des Bundesheeres als Wahlkampfthema hatte die SPÖ früher erkannt als die ÖVP. Obwohl in ihren Programmen ein Wehrprogramm fehlte, brachte ihr der Vorschlag auf Wehrdienstzeitverkürzung mit Sicherheit zahlreiche Jungwählerstimmen; ihr Prozentsatz läßt sich allerdings nicht quantifizieren.

III.

Kreisky präsentierte sich als abgeklärter, welterfahrener Staatsmann. Seine Beliebtheit nahm in der Wahlkampfzeit stetig zu und holte die Popularitätsquote Klaus’ ein. Gehobene Bildungsschichten, fast zur Gänze ÖVP-Wähler, stuften Kreisky auf der Popularitätsskala so gut ein wie Klaus.

Die Rechnung Kreiskys, seine Energien nicht auf die Umkrempelung der SPÖ zu verwenden, sondern für die Gewinnung der bürgerlichen Randwählerschichten, ist aufgegangen.

Der Sieg geht auf sein Konto.

Er hat es verstanden, die SPÖ zu dem Sieg zu führen, der ihr nach den Daten der Sozialstruktur längst zugestanden wäre.

Die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung wurde bisher gebremst durch eine Garnitur von Politikern, die am Konzept der traditionellen Arbeiterpartei festhielten. Und diese Politiker bilden nach wie vor den harten, schwer verdaulichen Kern der SPÖ.

Kreisky hat sich neben der Alt-SPÖ eine Jung-SPÖ aufgebaut. Das in allen Wahlreden zitierte „Team der 1400 Fachleute“ und die von ihnen ausgearbeitete Serie von Programmen haben der SPÖ mit Erfolg das Image einer „linken Volkspartei“ verschafft. Neben der Partei der altgedienten Funktionäre gibt es heute die Partei der jungen Technokraten; die SPÖ als die bessere ÖVP.

Diese Entwicklung, die sich im übrigen Europa bereits einige Jahre früher vollzogen hat (Chiffre hierfür ist das SPD-Programm von Bad Godesberg), bringt die SPÖ in eine ideologische Scherenbewegung. Auf dem Weg zur Volkspartei blieb der Sozialismus auf der Strecke. Die totale Integration der sozialistischen Parteien in ein System, das sie in ihren Anfängen, wenn nicht beseitigen, so doch radikal verändern wollten, ließ auf der äußersten Linken Bewegungen entstehen, die die Rettung des Sozialismus vor den sozialistischen Parteien auf ihre Fahnen schrieben.

Kreisky selbst ist austromarxistisch geschulter Dialektiker genug, in seiner eigenen Person die Widersprüche eines Volksparteikonzepts und, eines linken Konzepts der Gesellschaftsänderung zu vereinen. Wird er auch Diplomat genug sein, die SPÖ auf diesen Weg mitzuziehen?

Die Wähler haben ihm einen Vertrauensvorschuß gewährt — insbesondere die Jungen, insbesondere die Katholiken. Nicht die derzeitige SPÖ hat den Wahlsieg errungen, sondern die SPÖ, die Kreisky versprach.

Er hat diesen Vorschuß erhalten, weil sein persönlicher politischer Stil nicht nur Hoffnungen auf eine Erneuerung der SPÖ weckte, sondern auch Hoffnungen auf eine Neubelebung der politischen Szenerie Österreichs, Hoffnungen auf das Ende des provinziellen Miefs, der dieses Land der Jugend, den Intellektuellen, den Künstlern manchmal so unerträglich macht.

SPÖ-Gewinne gereiht nach ihrer Größe in den Wahlkreisen

Wahlkreis (1966 = 100)
1. 19 Vorarlberg 140,1
2. 18 Tirol 127,6
3. 22 Oststeier 123,9
4. 16 Mühlviertel 123,2
5. 4 Wien Nordost 121,9
6. 2 Wien Innen-West 121,2
7. 13 Innviertel 120,7
8. 1 Wien Innen-Ost 118,3
9. 17 Salzburg 117,7
10. 3 Wien Nordwest 116,4
11. 14 Hausruckviertel 116,2
12. 10 Viertel oberm Manhartsberg 114,6
13. 12 Linz und Umgebung 114,2
14. 21 Mittel- und Untersteier 113,3
15. 11 Viertel unterm Manhartsberg 112,8
16. 7 Wien West 112,3
17. 6 Wien Südwest 111,5
18. 20 Graz und Umgebung 111,4
19. 5 Wien Südost 111,2
20. 15 Traunviertel 110,6
21. 8 Viertel oberm Wienerwald 109,5
22. 24 Kärnten 107,4
23. 25 Burgenland 107,4
24. 9 Viertel unterm Wienerwald 105,7
25. 23 Obersteier 103,4
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