FORVM, No. 112
April
1963

Was ist eine Tageszeitung?

Ein Beitrag zur Theorie der politischen Publizistik

René Marcic, Dozent der Staatswissenschaften an der Universität Wien, hielt an der Universität Nürnberg-Erlangen eine Probevorlesung „Politische Tageszeitung und öffentliche Meinung“, und zwar wie stets völlig frei sprechend. Der nachfolgende Text ist, ergänzt um Quellenhinweise, die Niederschrift. Wir freuen uns, daß der Vorsitzende des Österreichischen Presserates und Chefredakteur der „Salzburger Nachrichten“ — sowie langjährige Mitarbeiter des FORVM — hiemit erstmalig in seiner Eigenschaft als neugewonnenes Mitglied unseres Redaktionskollegiums zu Wort kommt.

Standort und Funktion der Zeitung in der Gesellschaft sind nichts Selbstverständliches, unausgesetzt Währendes. Sie sind vielmehr unbestimmt, ungewiß, Gegenstand eines Experimentes, das jeden Tag aufs neue gewagt werden muß. [1] Der Schein trügt, wenn er die Annahme auslöst, sagt Montesquieu an einer selten zitierten Stelle der „Gesetze“, [2] daß die Natur des Menschen sich immerzu aufbäume wider Willkür- und Gewaltherrschaft; die Völker unterwürfen sich ihr nur allzugern, was einleuchte, wenn man bedenke, wie anstrengend und beschwerlich jede Art gemäßigter Herrschaftsform sei. Die Fragwürdigkeit ist mithin nicht bloß aktuell, sie ist strukturell.

Die Gedanken, die es zu entfalten gilt, sind in ein sogenanntes Und-Schema gefaßt. Jedes Und zeigt eine gewisse Verbindung an, sei es als Gefüge von Begriffen, die einander ergänzen: senatus populusque romanus, sei es als Gegenüberstellung von Unterschiedenem, doch Zusammengehörigem. Politische Tageszeitung und öffentliche Meinung sind formalobjektiv verschieden, gehören aber materialobjektiv, im Grunde und im Wesen, zusammen.

Kein Massenmedium

Was eine Tageszeitung sei, darf als offenkundig vorausgesetzt werden. Verschlungener werden die Wege, wenn man der Frage folgt, was denn eine politische Tageszeitung sei.

Es sei vorweggenommen, daß der Begriff sich beiläufig mit dem deckt, was der Wortgebrauch des Alltags mit „seriöser Presse“ ausdrücken will. Diese Kennzeichnung taugt allerdings nicht; denn jedes Presse-Erzeugnis ist unter einem Gesichtspunkt, wenn auch jeweils unter einem anderen, seriös, viel seriöser, als es einem lieb sein kann.

Zeitungen werden den Oberbegriffen „Massenmedien“ und „Massenkommunikationsmittel“ eingeordnet. Diese Einordnung schickt sich für alle Arten von Zeitungen; bloß einen Typ trifft sie nicht: ausgerechnet die politische Tageszeitung, die von vornherein darauf angelegt ist oder es zumindest in Kauf nehmen muß, eine Auslese anzusprechen, einen verhältnismäßig ausgesuchten Kreis politisch engagierter und interessierter Menschen zu erfassen. Sie ist wohl ein Kommunikationsmittel, sogar, wie zu erweisen sein wird, das Kommunikationsmittel; allein — sie ist kein Massenmittel.

Wie die Abgeordneten als Personen und das Abgeordnetenhaus als Institution, so gehören die Zeitung als Institution und die Menschen, die sie verlegen, herausgeben und gestalten, das sind die Verleger, Herausgeber und die Journalisten, als Personen zu den repräsentativen Elementen des Gegenwartsstaates, namentlich der Gegenwartsdemokratie. Ihrer Struktur nach hat die politische Zeitung wenig Verwandtschaft mit der Unterhaltungspresse, den Reportageblättern, den Nachrichtenmagazinen, den Illustrierten; ebensowenig mit Rundfunk, Fernsehen oder Film; eher mit Theater und Kabarett. Die politische Tageszeitung ist eine Erscheinungsform jener repräsentativen Zwischenstufen, welche die repräsentative Funktion des Parlaments und des Staatsoberhauptes (wo dieses plebiszitär berufen wird) ergänzen. — Das ist die erste Charakteristik.

Die zweite Charakteristik äußert sich in der politischen Eigenschaft im thematischen Sinn. Was ist gemeint? Es gilt zunächst, das vorweg gesichtete Bild der politischen Tageszeitung in den Blick zu bringen, jenes Inbild, von dem die Wirklichkeit sich herleitet: In dem Maße, in dem eine Zeitung diesem vorgehenden Bild sich nähert, ist sie wirklich eine politische Zeitung. Allein, welchen Gehalt birgt das Eigenschaftswort „politisch“? Es sei der ursprüngliche Wortsinn freigelegt, wie die Griechen und Römer, wie das christliche Mittelalter ihn begreifen, namentlich Aristoteles, Cicero und Thomas von Aquin, in welchem Gebrauch er in England bis Mitte des 15. Jahrhunderts steht, etwa bei Sir John Fortescue. Danach decken „politisch“ und „staatlich“ einander, wobei jedoch zu erwägen ist, daß die politische Gemeinschaft, die πόλις, die res publica, die civitas je und je die vollkommene Form (τέλος) des Gemeinschaftslebens ist: die κοινωνία τέλειος, die societas perfecta, in der die Existenz des Menschen in die Fülle ihres Wesens sich entfalten kann.

Dem Grundentwurf nach ist der politische Raum fundamental, total, universal: er umgreift schlechthin das ganze Dasein des Menschen, als da sind: die Staatsgeschäfte im engeren Sinn, Kultur, Kunst, Dichtung, Wissenschaft, Forschung, Sport, Kultus und Religion. Erst das Christentum, als es in den römischen Staat einbricht, nimmt dem Staat den Kultus weg und übereignet ihn der Kirche.

Allein, darin erschöpft das Politische sich nicht; den Ausschlag gibt, daß „politisch“ dasselbe meint wie „rechtlich“, das Rechtmäßige als die Norm des Zweckmäßigen. Politische Herrschaft meint Herrschaft des Rechts (ἰσονομία): Rechtsstaat. Sie wird in Gegensatz zu allen möglichen Erscheinungsformen der Machtherrschaft, der Willkür- als Gewaltherrschaft gestellt (μοναρχία, βασιλεία, παμβασιλεία, τυραννίς; regimen politicum seu legale contra regimen regale). „Politisch“ drückt der Sache nach aus, was wir Heutigen „rechtsstaatlich“ heißen, wofür das Gemeinwohl, das bonum commune seu publicum, das τὸ κοινόν, das erste Richtmaß liefert. Was den Staat unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls angeht, das trägt die Auszeichnung „politisch“ zu Recht.

Eine Zeitung, die unter dem umrissenen Gesichtspunkt wirkt, ist eine politische Zeitung. Daraus folgt: die Presseleute, die Publizisten und Journalisten, Herausgeber und Verleger, handeln als Presseleute nicht in ihrer Eigenschaft als Individuen, als Privatpersonen, vielmehr stets in ihrer Eigenschaft als aktive politische Bürger, deren Handeln sich auf das Gemeinwohl bezieht. Wie konkret der Unterschied zu fassen ist, enthüllt ein Vergleich mit dem Arzt. Der Arzt kann die Heilkunst unter drei Gesichtspunkten ausüben, wobei es jeweils auf den Hauptakzent ankommt, der freilich die Nebenakzente nicht ausschließt: entweder unter dem Gesichtspunkt des Honorars oder der Fortbildung seiner Praxis oder unter dem Gesichtspunkt, daß der Patient so bald wie möglich und so gründlich wie möglich geheilt werde. [3] Nur im dritten Fall ist der Arzt wirklich Arzt. Nur eine Zeitung, die auf das Gemeinwohl hinarbeitet, ist wirklich eine politische Zeitung. Helmut K. J. Ridder trifft den Kern der Sache, wenn er die Strukturverwandtschaft der politischen Zeitung mit der politischen Partei enthüllt, woraus er Folgerungen für den verfassungsrechtlichen Standort der Presse im Gegenwartsstaat zieht.

Ein gelassenes Gesicht

Gewiß, man kann weder in das Herz noch in den Kopf der Menschen leuchten, die die Zeitung machen. Doch nicht der subjektive Sinn, vielmehr der offenkundige, erkennbare objektive Sinn einer Zeitung bietet sich als rationales Kriterium an: Wenn der Eindruck, den eine Zeitung bei den Lesern hinterläßt, primär auf politisches Interesse und auf politisches Engagement hindeutet, dann ist sie eine politische Zeitung.

Solche Struktur der Zeitung prägt von innen her ein bestimmtes Gesicht, ja selbst das Satzbild. Der Leitartikel, die Glossen, die Kommentare und die Berichte der Inlands- und Auslandskorrespondenten beherrschen das Gesicht des Blattes: es ist ruhig, gelassen, manche schimpfen es fad; Bilder sind selten, verstecken sich im Inneren, oder schmücken das Feuilleton, welches heute nur mehr von der politischen Zeitung gepflegt wird. Der Inseratenteil folgt auf den redaktionellen Teil, dieser wird gegen jenen säuberlich abgehoben.

Weil die Zeitung in der Gegenwart nicht mehr das einzige Kommunikationsmittel ist; weil sie nicht mehr die Aufgaben der Massenmedien zu besorgen braucht: deshalb kann sie, soll sie und muß sie — will sie im Wettbewerb mit den Massenmedien (dem Fernsehen, dem Rundfunk, dem Film und der Unterhaltungspresse) bestehen —, sich ganz auf die eigentliche Funktion einstellen und diese differentia specifica um so trefflicher behaupten: die Meinungsbildung, den Meinungsempfang und das transformatorische Wirken überhaupt.

Meinung ist der Ausdruck eines Gedankens, Zeichen des Geistes. Die Zeitung als Meinungskundgebung ist der äußeren Gestalt nach jüngeren Datums; sie besteht erst seit der Entdeckung der Druckerkunst. Der Sache nach ist sie nur eine der Erscheinungsformen des Gedankenausdrucks und folglich ganz und gar mit der Redefreiheit verwandt, die in Athen als das Fundament des demokratischen Rechtsstaates erlebt wurde. Die ἰσηγορία ist das Mittel, mit dessen Hilfe das Volk an der Staatsgewalt teilnimmt. Das Wort bedeutet ursprünglich Waffengleichheit auf der Agora, auf dem Markt, wo Bürger über Bürger zu Gericht saßen. Es schließt den Sinn der Rechtsgleichheit und der politischen Freiheit vollkommen ein. Aber ἰσηγορία bezieht sich immer nur auf die in Worte gefaßte Meinung, die der Bürger als aktives Glied der politischen Gemeinschaft in einer öffentlichen Versammlung und in einer öffentlichen Angelegenheit äußert, also in der Absicht, das Gemeinwohl anzusprechen. Die Beteiligung an einer öffentlichen Diskussion über Sachen, die alle Mitglieder der Gemeinschaft gleichermaßen unmittelbar angehen, ergibt den Sinn der ἰσηγορία. Damit ist zumal das Wesen des Staates als einer Redegesellschaft, einer Wort- und infolgedessen Wertgemeinschaft, zur Sprache gekommen. Nichts anderes meint „res publica“.

Neben der politischen, öffentlichen Redefreiheit gibt es das individuelle Grundrecht auf Meinungsäußerung, gleichsam die private Redefreiheit, von der man als einzelner, als Träger der Intimsphäre, Gebrauch macht, und zwar um seiner privaten Interessen willen, einerlei, ob man das Wort bloß für sich selbst gebraucht, wie man etwa die Faust in der Tasche ballt, oder am Stammtisch oder gar in einer öffentlichen Diskussion. Diese Redefreiheit ist nichts Besseres noch etwas Schlechteres als jene Redefreiheit, aber sie ist etwas wesentlich Anderes. Sie kann erhabener sein als die politische; nehmen wir das Zwiegespräch, das der Mensch mit Gott hält. Solche Redefreiheit wird παρρησία genannt (πᾶν ῥῆσις: alles in Freimut sagen); der Begriff findet sich z.B. im Neuen Testament. [4] Sie ist gemeint, wenn wir im Kommentar des Aquinaten zum Buche Hiob als Antwort auf die Frage, ob Hiob gesündigt habe, als er zu Gott, sein Leid klagend, die Wahrheit gesagt hatte, lesen: „Die Wahrheit ändert sich nicht nach der hohen Würde dessen, zu dem sie gesprochen wird; die Wahrheit siegt, wer immer mit wem immer im Streit liegen mag.“

Thematisch spielen jedoch diese Redefreiheit und das Grundrecht des Einzelnen auf die freie Meinungsäußerung eine geringe oder gar keine Rolle.

Das Wesen der Zeitung kann nur von der politischen Redefreiheit her bestimmt werden. Die Zeitung ist die der Gegenwart angemessene Abwandlung der ursprünglichen politischen Redefreiheit, die letztlich in der Freiheit des Geistes gründet, Gedanken zu bilden und sie zu äußern.

Weil die beiden verschiedenen, wenn auch ein und demselben Grund entspringenden Erscheinungsformen der Redefreiheit; weil ἰσηγορία und παρρησία vermengt werden: deshalb stockt so heillos der Versuch, das Pressewesen im Staat sachgerecht zu ordnen. [5]

Zur Klärung des Begriffes der Meinung, die die Zeitung ausdrückt, muß noch eines hervorgekehrt werden. Meinung, δόξα, ist etwas anderes als Wissen, ἐπιστήμη, welches sich als das Ergebnis eines rationalen Verfahrens auf Grund objektiv-rationaler Kriterien vorstellt. Es kann nur ein Wissen eines Sachverhaltes oder eines Tatbestandes geben. Dieses Wissen kann ein Teilwissen sein. Der Gegensatz ist Unwissen. Wissen ist strukturell auf Wahrheit bezogen: Meinungen hingegen können verschieden sein, richtig oder falsch, und es kann deren ungezählte geben. Die Verfassung als Grund der Rechtsordnung eines Staates schützt bloß die Freiheit der Meinungen, sie stattet nicht diese oder jene Meinung von Rechts wegen mit Wahrheitsgehalt aus. Wir können und sollen uns rechtens auf das Recht auf freie Meinungsäußerung berufen; wir können uns niemals darauf berufen, daß wir im Recht seien, weil wir die Wahrheit besäßen.

Ein Werkzeug der Wahrheit

Als Kommunikationsmittel wurzelt die Zeitung in der transzendentalen Ordnung. Sie gehört zu den Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erfahrung: des Wahrseins, des Gutseins und des Freiseins.

Wenn es heißt, der Mensch sei ein soziales und politisches Wesen (Aristoteles, Thomas) dann ist dies ursprünglich keine soziologische Aussage, vielmehr eine metaphysische und erkenntnistheoretische: der Mensch ist bei der Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung auf seine Mitmenschen angewiesen, er ist schon in der existentialen Fundamentalstruktur auf den anderen angelegt. Konkreter: der Mensch gelangt zur Wahrheit nicht unmittelbar, sondern mittelbar, das ist auf dem Umweg der Gesellschaft und der organisierten politischen Gemeinschaft. [6] Die politische Gemeinschaft ist, lehrt Aristoteles, der einzige Ort, wo das Dasein des Menschen zur Wirklichkeit kommt: selbst die Ethik hat hier ihren Sitz. Jede Wahrheitserkenntnis des Menschen ist Teilerkenntnis. Immer sind es Bruchstücke, deren der eine oder andere Mensch sich bemächtigt; allein: die Summe ergibt das Ganze, zumindest jenen Teil der Wahrheit, der dem Menschen überhaupt zugänglich ist. Mit anderen Worten: Die Wahrheit kommt gleichsam in dem Maße zustande, in dem die Menschen die Bruchstücke, die sie besitzen, einander mitteilen. Eines der Werkzeuge solcher Mitteilung ist aber die Zeitung. An dieser Stelle erkennt man neuerdings, daß das Wesen dessen, was heute Presse genannt wird, nicht erst besteht, seitdem die Druckerpresse funktioniert: Die Zeitung ist eine arteigene Gestalt des Urrechtes und der Urpflicht aller Menschen, einander die Wahrheit mitzuteilen. Man erkennt in ihr eine Weise der natürlichen Arbeitsteilung in der menschlichen Gesellschaft.

Neben diesem transzendentalen Bezug der Zeitung zur Wahrheit wirkt ihr transzendentaler Zusammenhang mit dem Gutsein, der Kehrseite des Wahrseins. Bonum est diffusivum sui: das Gute erschöpft sich darin, daß es sich mitteilt. Was in sich selbst verweilt, die Wände der Geschlossenheit nicht durchbricht, das ist nicht gut. Man wird nicht umhin können, das Wesen der Zeitung unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten und wahrzuhaben, daß sie zwar ein sehr bescheidenes, brüchiges und weltliches Zeichen, aber ein Zeichen der ewigen transzendentalen Ordnung ist, die stets neue Mittel und Wege sucht, um sich zu manifestieren.

Das dritte transzendentale Element im Wesen der Zeitung ist die Freiheit. Doch daß die Zeitung eine der Grunderscheinungsformen menschlicher Freiheit ist, darf hier thematisch vorausgesetzt werden.

Die Zeitung ist noch in einem weiteren, speziell kantianischen Sinne eine „transcendentale Formel“. Im 2. Anhang des Traktats „Zum ewigen Frieden“ sagt Kant: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht“ Die Publizität braucht aber ein Mittel, um sich auszudrücken: eine Offenkundigkeit, solange sie bloß an sich offenkundig ist, erfüllt nicht ihren Sinn. Die Zeitung ist ein typisches und klassisches Kundmachungsmittel im weitesten Sinn.

Was ist eigentlich Öffentlichkeit? Wie andere mannigfaltige, belangreiche Ausdrücke der deutschen Wissenschaft — „Sollen“, „Wert“, „Ontologie“ usw. —, ist das Wort „Öffentlichkeit“ erst etwa eineinhalb Jahrhunderte alt. Sein Begriff hat hierzulande noch keine bündige Bestimmung erfahren. Einerseits meint man mit „Öffentlichkeit“ den Gegensatz zur Privat- oder Intimsphäre. Anderseits ist „Öffentlichkeit“ strukturell konzipiert: als Modus essendi, als Seinsweise, gedacht im Sinne des Gegenstückes zum Geheimsein, zum „arcanum“ und „clandestinum“. Freilich, beide Gegensatzpaare decken einander zum Teil; zum Teil überschneiden sie einander und schaffen erhebliche Distinktionen und Differenzen. [7]

Die vierte Gewalt

Welche „Öffentlichkeit“ wird gedacht, wenn man von der Zeitung redet? Im Falle der politischen Zeitung geht es um die „politische“ Öffentlichkeit, um die zweite, die eigentliche und ursprüngliche Wortbedeutung, die gleichermaßen den Sinn von Demokratie, Rechtsstaat und Verfassung in sich trägt. Öffentlich, demokratisch, verfassungsmäßig, auf Gemeinwohl bezogen und politisch — das alles sind Synonyma: im Griechischen, im Lateinischen, im Englischen und im Französischen; denn es wird damit stets der consensus populi intendiert (selbst im Bereich der Kirche gilt dies). Jede politische Tageszeitung ist eine öffentliche Institution und besorgt, strukturbedingt, eine öffentliche Aufgabe, was mit der Zucht in Aussagen über Dinge der Intimsphäre zunächst und unmittelbar nichts gemein hat. [8]

Die öffentliche Meinung ist gleichsam die vierte Gewalt im Staate, neben dem Gesetzgeber, neben der Regierung und der ihr nachgeordneten Verwaltung, neben der Rechtsprechung. Sie ist der Aufpasser, der eifersüchtig darüber wacht, daß das Recht, namentlich die Verfassung, nicht verletzt werde. Das Charakteristische daran ist, daß diese öffentliche Meinung als vierte Staatsgewalt immer ungeformt, diffus, amorph, unorganisiert, nicht faßbar, nicht sichtbar, infolgedessen unkontrollierbar ist. Die Frage: quis custodiet custodes? findet keine Antwort; das ist das Risiko einer freien politischen Gemeinschaft.

Es ist eine durch nichts widerlegbare Tatsache der geschichtlichen Erfahrung, daß bei Abwägung der Gefahr, die der Mißbrauch der politischen Freiheit mit sich führt, gegen die Gefahr, die der Mißbrauch der politischen Gewalt heraufbeschwört, diese unverhältnismäßig schwerer wiegt als jene.

In der allgemeinen Staatslehre ist die öffentliche Meinung der Kurzausdruck für den Tatbestand, daß das Volk, von dem in einer demokratischen Republik das Recht und als Folge der Rechtsgewalt ebenso die Staatsgewalt ausgehen, nicht nur bei Wahlen zum Parlament oder bei Volksabstimmungen, durch die der Bundespräsident bestellt wird, in Erscheinung tritt, sondern daß dieses Volk immer präsent ist. Als immerwährend anwesendes Subjekt der Souveränität herrscht es auf eine unorganisierte Weise im Staat und wirkt auf die von ihm selbst bestellten und berufenen Herrschenden ein. Auf dem Umweg der öffentlichen Meinung herrscht also das Volk auch in der Zwischenzeit, die sich von einer zur anderen Wahl ergibt. Folglich ist es richtig, wenn es heißt: democracy is government by public opinion.

Das unorganisierte Volk

Demokratie ist jene Form der politischen Gemeinschaft, in der die öffentliche Meinung herrscht. Das in einem Staat auf Grund der Rechtseinheit versammelte Volk, das Staatsvolk, der populus, kommt in der politischen Organisation und in den Institutionen zur Geltung. Aber die politische Existenz eines Volkes erschöpft sich nicht in der Artikulierung. Der Überhang, der sich ergibt bei der Abhebung gegen den unorganisierten, zerstreuten, unartikulierten Teil des Volksdaseins: dieser Überhang kann unter dem Gesichtspunkt des Freistaates nicht als Manko ausgewiesen werden; im Gegenteil, dieser Überhang, diese Differenz gehört zur Struktur einer im vollen Sinn politischen und das heißt rechtsstaatlich-freien, demokratischen Gemeinschaft, die das Gegenstück zum Totalstaat abgibt.

Wenn aber dieser Überhang vorausgesetzt wird; wenn er ein präpositives Strukturelement der positiven Ordnung ist; wenn er die Qualität eines Konstituens hat: dann genießt der Überhang, das unorganisierte und unartikulierte Volk, das ist die öffentliche Meinung, institutionelle Eigenständigkeit. [9] Wie das organisierte, so braucht auch das unorganisierte Volk Repräsentanten, die die Präsenz des Volkes zur Geltung bringen. Die politische Tageszeitung ist solch ein Repräsentant, und zwar der tauglichste und wirksamste.

Das Wesen der politischen Zeitung äußert sich darin, daß sie die gleichsam unartikulierte öffentliche Meinung artikuliert: Was in der öffentlichen Meinung sozusagen ohne Zusammenhang, ohne Gestalt, ohne Form umherschwirrt; was unausgesprochen gedacht wird, das wird von den Tageszeitungen eingefangen, in eine bestimmte Form gegossen, ins Wort gefaßt. Das Unausgesprochene wird ausgesprochen.

Die Aufgabe der Journalisten besteht darin, das, was der Leser im Inneren fühlt, wünscht, denkt, aber nicht so recht ins Wort bringen kann, herauszufinden und zu formulieren. Zwischen dem Leser als Glied der öffentlichen Meinung und dem Journalisten waltet eine Art Telepathie. Die Journalisten sind Antennen; sie fangen die Wellen auf, die von den Dingen ausgehen, die „in der Luft liegen“.

Allerdings, die Zeitung ist nicht bloß Antenne, sondern zumal Therapeut; sie sucht den Leser von seinen Sorgen zu befreien, ihm das Ventil zu verschaffen für die angestaute Wut, das angesammelte Unbehagen. Die Zeitung trachtet, an dieses Gefühlsnetz Kanäle anzuschließen, wodurch Unbehagen, Wut und Sorge entweichen können. Da fällt dem Leserbrief eine gewichtige Rolle zu. In England und Amerika kann er schwerer wiegen als der Leitartikel.

Das ist die Artikulierungs- und die mit ihr verwandte Ventilfunktion der Zeitung, die zugleich das Problem aufwirft: Bildet die Zeitung die öffentliche Meinung, oder wird diese von jener gebildet? Wer formt wen?

Die Frage läßt von der Theorie her beide Hypothesen zu. Die Praxis zeigt, daß das Verhältnis nur als rege Wechselbeziehung auszuweisen ist. Auf die Dauer kann keine Zeitung sich gegen jenen Teil der öffentlichen Meinung stemmen, der ihre Leserschaft ausmacht: als Wirtschaftsunternehmen — wodurch sie weder mit dem Rundfunk noch mit dem Fernsehen Vergleiche leidet, die in ihrer Struktur niemals jene Streuung haben können, die dem Zeitungswesen eignet. Gewiß, auch das Zeitungswesen kann Monopolbildungen zum Opfer fallen — trotzdem ist die Zeitung stets weitaus mehr auf den Adressaten angewiesen als Rundfunk oder Fernsehen, die echte Massenmedien sind. Solchermaßen enthüllt sich die Zeitung als Anzeiger des Wertniveaus ihrer Leserschaft, sie ist die Visitkarte des Lesers. Sage mir, mit welcher Zeitung du aufstehst oder zu Bett gehst, so sage ich dir, wer du bist.

Die moderne Zeitungssoziologie hat den Zusammenhang zwischen der Presse und der intellektuellen und ästhetischen Qualität der Leser aufgedeckt. [10] Eine Zeitung, für sich genommen, ein Journalist, für sich genommen, sind keine berechenbare, keine sichtbare Größe. Doch alle Zeitungen eines Landes, zusammen genommen, die politische Presse, die Publizisten, sie zeigen den Grundriß der Zeit an, in der sie wirken, sie spiegeln das Gesellschafts- und Gemeinschaftsleben getreu wider. Es gilt als gesichertes Forschungsergebnis der Zeitungssoziologie, daß die Presse eine entscheidende Komponente der Gegenwartskultur ist, entscheidender als der Rundfunk, das Fernsehen, der Film, so versichert die Gesellschaftswissenschaft.

Es ist kein Widerspruch zu den ephemeren und anonymen Zügen des Journalismus, wenn Zeiten, Zeitabschnitte, Landstriche und Regionen durch ein oder zwei Zeitungen, durch einen, zwei oder mehrere Journalisten besonders gekennzeichnet werden, so daß man sagen kann, daß diese Zeitungen und diese Journalisten einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit repräsentieren. Die politische Tageszeitung ist die Ausdrucksformel der geistigen Verfassung jener Menschen, die die öffentliche Meinung ausmachen.

Die Seite der Wechselbeziehung, die soeben besprochen wurde: die Zeitung als Sprachrohr und Spiegel der öffentlichen Meinung, gibt den Raum an, innerhalb dessen die Zeitung der Faktor ist, der die öffentliche Meinung formt. Die Zeitung bildet, gestaltet die öffentliche Meinung. Die Funktionen, die sie besorgt, sind:

  1. Die kritische Funktion, die Anleitung des Lesers zum eigenständigen Denken — von sich aus neigt der Mensch in der Regel zur Denkträgheit —, der Anhub zum Unterscheiden (κρίνειν) zwischen Ranghöherem und Rangniederem, zwischen Fug und Unfug, Recht und Unrecht, Gut und Böse usf. Solches Unterscheiden ist die Voraussetzung für das Entscheiden, den existentiellen Vollzug des Menschen. Mit der Wirkkraft der Zeitung auf diesem Feld kann kein anderes Kommunikationsmittel sich messen: ὅ γέγραφα γέγραφα, quod scripsi, scripsi. Das geschriebene Wort ist immer die beste, sicherste und unmittelbarste Herausforderung des Geistes; was schwarz auf weiß zu lesen steht, kann sorgfältig gewogen und erwogen, geprüft, kann nicht mehr verrückt, kann wieder und wieder nachgelesen werden. Auch kann man — was, wie oben erwiesen wurde, für die Existenz des Menschen von größter Bedeutung ist — seine Mitmenschen auf das in der Zeitung geschriebene Wort aufmerksam machen, ihnen beibringen, daß sie eine bestimmte Meldung oder einen Kommentar nachlesen. Beim Rundfunk oder Fernsehen ist das in solcher Weise unmöglich. In diesem Sinne ist ausschließlich die Zeitung ein echtes Kommunikationsmittel.
  2. Die Ordnungs- und Orientierungsfunktion, die in einer Zeit, da das Erfahrungs- und Anschauungsmaterial den Menschen erdrückt, eine entscheidende gesellschaftliche und politische Aufgabe leistet. Es gilt, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen. Der prägende chinesische Theoretiker der Politik, Konfuzius, erklärt für das erste Erfordernis einer dauerhaften Gemeinschaftsordnung die „Richtigstellung der Namen“. Der Zeitung obliegt es heute, zu verhindern, daß Signalworten der Zeit ein falscher Sinn unterschoben wird. Auf die Gefahr der Sinnunterschiebung machen der Zürcher Staatsrechtslehrer Werner Kägi, der Philosoph Karl Jaspers und der führende Sowjetologe J.-M. Bochenski aufmerksam. Der selben Bedrohung wirkt die Selektivfunktion der politischen Zeitung entgegen.
  3. Die Kontrollfunktion, die die Zeitung als Organ der öffentlichen Meinung verrichtet, weist der politischen Presse den systematischen Platz unter den wirksamen Mitteln an, die den Mißbrauch der Staatsgewalt verhüten oder abwehren. Solchermaßen tritt die Zeitung in die Nähe der Gewaltenteilung und der Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie ist ein Bestandteil der aufsehenden Gewalt im Staat, eine arteigene Erscheinungsform der sozialen und politischen Aufsicht.
  4. Jede kritische Funktion ist gewissermaßen negativ. Die politische Zeitung aber besorgt zudem eine integrierende Funktion; nach der Art einer Klammer hält sie die Gesellschaft und die politische Gemeinschaft zusammen, indem sie jede Staatsferne bekämpft und den Staat aus der Staatsnähe kontrolliert und kritisiert. In der offenen, pluralistischen Gesellschaft, in der wir leben und die verbandsförmig aufgebaut ist, findet in der Zeitung das Zeitgespräch der Gesellschaft statt, das in dem Maße an Bedeutung zunimmt, in dem die Integrationskraft des Staates im Zeitalter des Pluralismus und Internationalismus nachläßt.

Anwalt und Richter

  1. Endlich fällt der Zeitung heute die Aufgabe zu, Anwalt des Gemeinwohls zu sein. Denn, wie paradox dies auch klingen mag, je allgemeiner der Charakter eines Interesses ist, desto schwerer stellt sich im politischen Raum ein Anwalt ein, der es durchzufechten bereit ist. In der verbandsförmigen Gesellschaft gewinnen Spezialinteressen am leichtesten ihre volle Verwirklichung. Wer soll die Sorge um die Reinheit der Gewässer und der Luft; um den Naturschutz; um die Freiheit von Lärm; um einwandfreie Nahrungsmittel und Medikamente wahrnehmen? Wer sonst als die Zeitung?

Die Zeitungssoziologie erkennt in der Zeitung eine Art Richterin in Öffentlichen Angelegenheiten. [11] Und in der Tat ist die Strukturverwandtschaft zwischen dem Richteramt und der Zeitung verblüffend eng. Denn alles bisher Ausgeführte gilt allein unter der Voraussetzung, daß die Zeitung unabhängig, daß der Journalist frei sei. Wie der Richter aufhört, Richter zu sein, wenn er gezwungen ist, Weisungen entgegenzunehmen, so hört die Zeitung auf, Zeitung zu sein, wo sie irgendeinem Diktat anheimfällt. Allein, wie der Richter unabhängig ist von individuellen Normen, von Weisungen und Einzelbefehlen, doch ganz und gar abhängt vom Gesetz und der Verfassung; wie der Richter um so unabhängiger in der Normenvollziehung ist, je straffer Gesetz und Verfassung ihn binden: so ist die Zeitung, namentlich der Journalist, unabhängig von jeglicher Einzelweisung und hängt doch ganz und gar ab von der Idee, der die Zeitung sich verschrieben hat. Diese Idee ist das Gesetz der Zeitung. Die Verfassung der Zeitung aber ist das Gemeinwohl, die Herrschaft des Rechts als Garantie für die Freiheit des Menschen und die Freiheit der politischen Gemeinschaft, in der wir leben.

[1Ernst Fraenkel, Öffentliche Meinung und internationale Politik, Tübingen, 1962, S. 17.

[2„De l’esprit des lois“, V, 14, letzter Absatz. — Vgl. Werner Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, Beitrag zur Festschrift für Hans Huber, Bern, 1961, S. 156 f.

[3Das Beispiel, als Vergleich für das Gemeinwohl, gebraucht Aristoteles (der Sohn eines Arztes) in seiner Theorie der Politik.

[4Apostelgeschichte: IV/31, XIX/8; Paulus: 2 Kor. III/12; Eph. VI/20; der Sache nach vgl. Römer VIII/15; Gal. IV/6.

[5Die Differenzierung tritt klar zutage bei Ridder, Meinungsfreiheit, in: Neumann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte II, Berlin, 1954, S. 243 ff.; vgl. dens. Meinungsfreiheit, Staatslexikon, Freiburg, 1960, V. Bd., Sp. 647 ff. Andeutungsweise auch bei Fraenkel, a.a.O., S. 15.

[6Vgl. Thomas, De regimine principum I/I (Anfang); siehe auch des Aquinaten Summa contra gentiles III/129 ff. Sein Konzept deckt sich völlig mit dem Konzept des Aristoteles.

[7Darauf macht dankenswerterweise auch Fraenkel, a.a.O., S. 5 ff., nachdrücklich aufmerksam.

[8Zum Problem neben Fraenkel eine Auswahl des neueren Schrifttums: Joseph H. Kaiser, Die Wahrnehmung öffentlicher Publizitätsinteressen, Sonderdruck aus dem „Frankfurter Publizitätsgespräch“ in Königstein, Frankfurt, 1962, S. 88-105; Rudolf Smend, Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit, Beitrag zur Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, „Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht“, Bd. 6, München, 1955, S. 11-20; Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied, 1962; Wilhelm Hennis, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, Tübingen, 1957 (H. 200/201 „Recht und Staat“); Johannes Binkowski, Die Massenmedien im modernen Staat, „Stimmen der Zeit“, Februar 1963, S. 329-340; Paul Roth, Die öffentliche Meinung, „Stimmen der Zeit“, Juli 1952, S. 275-286; Otto Bernhard Roegele, Kirche und öffentliche Meinung, Nr. 4 der „Beiträge zur Begegnung von Kirche und Welt“, Rottenburg am Neckar, 1953.

[9Das ist der eigentliche Sinn der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, wenn es von der institutionellen Eigenständigkeit der Presse (als Organ der öffentlichen Meinung) spricht: BVerfGE 10, 121. Das Schrifttum ist schon so angeschwollen, daß man es nicht mehr überschauen kann. vgl. jüngstens: Heinrich Jagusch, Pressefreiheit, Redaktionsgeheimnis, Bekanntmachen von Staatsgeheimnissen, „Neue Juristische Wochenschrift“, München, 1963.

[10Vgl. U. de Volder, Soziologie der Zeitung, Stuttgart, 1959.

[11De Volder, a.a.O., S. 155.

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