Wem gehören die Gagausen?
Um die bulgarische Minderheit der türkischsprachigen Gagausen wird ein Streit zwischen bulgarischem, türkischem und gagausischem Nationalismus wegen ihrer „nationalen Identität“ geführt. Während die widersprüchlichsten Theorien kursieren, verringert sich die Anzahl der aktiven SprecherInnen stetig.
Wer die touristischen Strände nördlich von Varna hinter sich gelassen hat und über kleine Landstraßen in Richtung Rumänien fährt, kommt in eine der einsamsten Ecken Bulgariens: die Dobrudscha, zugleich Kornkammer des Landes und, so scheint es, das Ende der Welt.
In dieser Region, vor allem rund um die Kleinstadt Kavarna, lebt die Volksgruppe der Gagausen, orthodoxe BulgarInnen, die untereinander das türkische Gagausisch sprechen.
Allerdings ist schon die Zahl der Gagausisch sprechenden BulgarInnen schwierig zu ermitteln. Die Angaben variieren von 400 aktiven SprecherInnen bis zu 12.000 Angehörigen der gagausischen Minderheit. [1] Bei der Volkszählung von 1992 haben sich wiederum 1.478 Personen als „Gagausen“ bezeichnet. [2] Die unterschiedlichen Angaben verweisen auf ein Problem: Wer ist als SprecherIn des Gagausischen zu definieren? Nur Personen, die im Alltag auch Gagausisch verwenden? Oder auch solche, die es zwar verstehen, aber nicht mehr sprechen können? Und was ist mit Personen, die zwar Gagausisch sprechen, bei der Volkszählung aber doch „bulgarisch“ als Identitätskategorie angeben?
Bei der Frage, was denn dieses Gagausisch nun ist, scheiden sich erneut die Geister. Ist es ein Dialekt des Türkischen bzw. Osmanischen, eine eigene Sprache oder ein vom Osmanischen überlagertes Bulgarisch? Tatsächlich sind die meisten Wörter und die Grammatik eindeutig turksprachigen Ursprungs. Wie diese Menschen jedoch dazu kamen, Gagausisch zu sprechen, ist Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen zwischen bulgarischen, türkischen und gagausischen Nationalisten.
Nach einer der bulgarischen Lesarten [3] sind die GagausInnen schlicht und einfach NachfahrInnen von Bulgaren, die zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert, also zur Zeit der osmanischen Herrschaft auf dem heutigen bulgarischen Territorium, osmanisiert wurden. Aufgrund des Assimilationsdrucks hätten manche BulgarInnen ihre Muttersprache verloren, dafür aber zumindest den christlichen Glauben bewahrt. Eine andere Interpretation besagt wiederum, dass die GagausInnen direkte NachfahrInnen der so genannten „Proto-Bulgaren“ sind. Dieses „Turkvolk“ bildet in der offiziellen Nationalgeschichtsschreibung eine der drei Gruppen des bulgarischen ethnischen „Substrats“, welches eine Synthese aus ThrakerInnen, SlawInnen und besagten ProtobulgarInnen sein soll. Ähnlich gelagert ist die These von der Abstammung aus einem anderen Turkvolk (Petschengen, Usen, Kumanen). Da die Bildung des bulgarischen Ethnos schon im Mittelalter abgeschlossen gewesen sei, wären die GagausInnen unwiderruflich ein Teil davon.
Türkische NationalistInnen sehen dies völlig anders. Zwar ist auch auf der Website von Öz Türkler, einer turanistisch orientierten Website zur türkischen Geschichte [4] von unterschiedlichsten Theorien über die Herkunft der GagausInnen zu lesen. Allerdings wird hier die Theorie von der Abstammung von seldschukischen TürkInnen als „tarihleri hakknda“, [5] also als „historische Realität“ bezeichnet. Aus Sicht der türkischen TuranistInnen leisteten die GagausInnen Widerstand gegen den kulturellen, religiösen und linguistischen Assimilationsdruck von Seiten der SlawInnen. Die GagausInnen stünden demnach in einer langen historischen Tradition des Widerstands von Turkvölkern wie den Petschengen gegen die christlichen Byzantiner und wären dann unter russischem Einfluss zum Christentum konvertiert.
Aber nicht nur die TuranistInnen, auch der kemalistische Mainstream des türkischen Nationalismus sieht in den GagausInnen christliche TürkInnen, die dem „Türk Ortodoks Patrikhanesi“, [6] also dem türkisch-orthodoxen Patriarchat unterstanden hätten. Dieses „türkisch-orthodoxe Patriarchat“ hatte sich jedoch erst unter dem Einfluss des Kemalismus nach dem Ersten Weltkrieg als eigene „türkisch-orthodoxe“ Kirche vom (griechischen) ökumenischen Patriarchat in Istanbul abgespalten. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die GagausInnen längst unter bulgarischer Herrschaft. Selcuk Erenerol, der 2002 verstorbene Patriarch dieser türkisch-orthodoxen Kirche, erklärte immer wieder, dass die türkischen ChristInnen als ethnische TürkInnen Nachkommen der Seldschuken wären, die nicht den Islam, sondern das Christentum angenommen hätten. [7] Nach kemalistischer Lesart sind auch die GagausInnen in Bulgarien und Moldawien nichts anderes als solche türkischsprachigen ChristInnen.
Andere wissenschaftliche Theorien gehen davon aus, dass es sich bei den GagausInnen entweder um Nachkommen der Kumanen, Polovcer, Torken, Uzen oder Karakalpaken handelt, die bis zum 13. Jahrhundert in der südrussischen Steppe wohnten oder dass die Urahnen der heutigen Gagausen in türkischen Oguzen bzw. Seldschuken zu suchen sind, denen der byzantinische Patriarch Michael VIII Palaeologus 1261 die späteren Siedlungsgebiete der Gagausen überschrieben hatte. [8]
Historisch belegt ist hingegen, dass die Mehrheit der christlich-orthodoxen aber türkisch sprechenden GagausInnen seit 1750 das osmanische Reich in Richtung Russland verließen und sich dort in Bessarabien, im Süden der heutigen Republik Moldawien ansiedelten. Im November 1989 riefen die moldawischen GagausInnen eine eigene „Gagausische SSR“ aus. Im Dezember 1994 wurde den GagausInnen nach jahrelangen Konflikten vom moldawischen Parlament eine weitgehende Territorialautonomie zugestanden. „Gagauz Yeri“ wird seither durch ein eigenes Parlament und einen Gouverneur (Bajkan) regiert und hat etwa 150.000 EinwohnerInnen. Gagausisch, Rumänisch und Russisch sind gleichberechtigte Amtssprachen.
Die moldawischen GagausInnen fühlten sich jedoch sogleich berufen, ihr neu gewonnenes nationales Selbstbewusstsein auch zu ihren in Bulgarien verbliebenen Brüdern und Schwestern zu tragen. „Die kommen immer wieder mit ganzen Reisebussen und führen dann Volkstänze und Theater bei uns auf“, erzählt Schorsch, der im Gagausendorf Balgarevo lebt und dort 35 Jahre lang Vizepräsident der lokalen DKSS, die bulgarische Variante der LPG war. Die Kulturmissionare aus Gagauz Yeri erklären den bulgarischen GagausInnen immer wieder, dass sie sich zu sehr an die slawischen BulgarInnen assimiliert hätten und wieder zum „echten Gagausentum“ zurückkehren sollten. Die BewohnerInnen von Balgarevo reagieren jedoch anders auf die „Gagausischen Brüder“ aus Moldawien, als es sich diese wünschen würden. Schorsch ist eher amüsiert über deren kulturelles Engagement, als dass er die Volkstänze und verteilten Zeitschriften ernst nehmen würde.
Identität?
Die ethnischen Identitäten sind jedoch nicht das primäre Problem für die BewohnerInnen von Balgarevo. Vielmehr geht es 15 Jahre nach dem Niedergang der sozialistischen Staatswirtschaft nach wie vor darum, das tägliche Auskommen zu sichern. Und das ist schwierig genug. Das Dorf, das einst durch den Tabakanbau ein sicheres Einkommen hatte, ist wie viele bulgarischen Dörfer nach der Wende verarmt. Die Genossenschaft existiert nicht mehr. Maja, Schorschs Tochter, muss sich im nahe gelegenen Nobeltouristenclub Rusalka für 140 Leva, etwa 70 Euro, im Monat als Zimmermädchen verdingen. Außerhalb der Saison, die von Mai bis Oktober läuft, ist sie wie die meisten DorfbewohnerInnen arbeitslos. Auch Schorschs Frau muss zur Aufbesserung der spärlichen Pension in den Sommermonaten in der Anlage arbeiten. Der Mann der zweiten Tochter Stefka arbeitet seit drei Jahren in Berlin. Ansonsten wird jeder Quadratmeter des Gartens für den Anbau von Obst und Gemüse oder für die Haltung von Hühnern und Truthähnen genutzt. Schorschs Enkelsohn spricht kein Gagausisch mehr. Mit seinen FreundInnen unterhält er sich auf Bulgarisch. Damit liegt er im Trend: Die Zahl der aktiven SprecherInnen nimmt stetig ab. „Es steht zu befürchten, dass von den Balkangagausen [...] wenn überhaupt nur noch die ältere Generationen die Sprache beherrschen“, [9] äußert sich etwa ein Sprachforscher besorgt.
Dass das Interesse an der Erhaltung der Minderheit erwacht, wenn diese gerade im Begriff ist, sich aufzulösen, ist wohl das größte Paradox des Streites um die ethnokulturelle Zugehörigkeit der GagausInnen.
[1] Beide Angaben siehe Walter Schulze (2002): Gagausisch, in: Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens, Band 10: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens, Klagenfurt, S. 781-786: S. 781, S. 785.
[2] http://www.omda.bg/bulg/NAROD/gagauzi.html, siehe auch: Pan, Christoph/Pfeil, Beate Sybille: National Minorities in Europe Handbook, Wien 2003, S. 61.
[3] Vergleiche in Folge: Ivan Gradeschliev: Gagauzite, Biblioteka „Dobrudscha“ Nr. 5, 2. Auflage, Dobritch 1994, S. 76ff.
[4] Der Turanismus ist jene Strömung des türkischen Nationalismus, die eine Vereinigung aller turksprachigen „Völker“ in einem pantürkischen Nationalstaat anstrebt und sich auf ein mythisches gesamttürkisches „Vaterland“ namens Turan bezieht. Im 19. Jahrhundert organisierte sich diese Strömung des türk. Nationalismus in der Turanischen Gesellschaft, die eng mit den Jungtürken zusammenarbeitete. Als politisch bedeutendster Vertreter des Turanismus trat bis in die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts Enver Pascha, einer der Hauptverantwortlichen des Genozids an den ArmenierInnen des osmanischen Reiches in Erscheinung, der nach der Errichtung der türkischen Republik und der Durchsetzung des „linken“ Flügels innerhalb des türk. Nationalismus (Kemalismus) mit Hilfe der Basmatschi-Rebellen in Zentralasien versuchte, einen pantürkischen Staat zu errichten.
[7] The secret heroes of Turkish history — Christian Turkish Nationalists. in: Turkish Daily News, 10. August 1996.
[8] Hendrik Fenz: Die Gagausen: Europas christliche Türken, in: Hamburgische Orient-Blätter, Nr. 1, Sommer 2003, S.13-2: S. 16
[9] Schulze, a.a.O., S. 785.