Wer die Wahl hat ...
Es ist der Morgen des 30. Januar, Wahltag im Irak. Seit 12 Stunden darf sich kein Privatfahrzeug mehr auf den Straßen bewegen. Jeder Polizist in der Region ist im Einsatz, die Wahllokale sind aus Angst vor Selbstmordattentaten hermetisch abgeriegelt.
Auch hier, im kurdischen Nordirak, der im Vergleich mit dem Rest des Landes als sicher gilt, wurden schärfste Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Am Abend vor der Wahl wurde deshalb Straße für Straße eine Ausgangssperre verhängt, bis sich kein Fahrzeug außer denen der Sicherheitskräfte mehr bewegen kann. Die Hauptstraßen Suleymanias, in denen in den Nächten zuvor die kommende Wahl mit Autokorsos bis in die frühen Morgenstunden gefeiert wurde, sind leer. Aber die Ausgangsperre hat nichts bedrohliches, die an jeder Straßenecke postierten kurdischen Polizisten dienen dem Schutz der Stadt und ihrer Bevölkerung. Noch Tage zuvor hatte Musab Abu Zarkawi im Namen der Al Qaida-Irak der „Demokratie den Krieg erklärt“ und angekündigt, am Wahltag würden seine Truppen die Straßen des Irak mit Blut waschen. Kurdistan könnte, so fürchtet man, ein vorrangiges Ziel von Anschlägen werden. Noch am Vortag warnte der kurdische Sicherheitsdienst Asayisch die wenigen internationalen Wahlbeobachter eindringlich vor möglichen Gefahren.
Die Stimmung am Abend vor der Wahl ist gespannt und festlich zugleich. Niemand weiß, wie der Irak in 24 Stunden aussehen wird, ob Tausende sterben werden müssen, ob die Wahlbeteiligung hoch oder niedrig sein wird. Die hysterische Stimmung, die in europäischen Medien geschürt wird, teilt allerdings niemand. „Warum berichten sie in Europa nur von Anschlägen und Toten?“, fragt Abdullah Sabir, Leiter einer lokalen Organisation, die Minen räumt. „Verfolgt man die BBC, dann entsteht der Eindruck, der ganze Irak versinke in Chaos. Menschen, die seit Tagen in Arbil und Suleymania feiern, werden dagegen nicht erwähnt.“
Zwar herrschte in Kurdistan nicht, wie im Süden des Landes, seit Monaten eine euphorische Stimmung, aber die letzten Tage des Januars wurden von den Parteien intensiv zum Wahlkampf genutzt. Seinen eigenen Beitrag hatte Zarkawi und der so genannte „irakische Widerstand“ zur Mobilisierung der Kurden geleistet. „Wenn Zarkawi der Demokratie den Krieg erklärt, gehe ich wählen, auch wenn ich die kurdischen Parteien nicht mag.“ Wie der Student Feridoon Amin denken viele: Zwar ist man der beiden großen Parteien Kurdische Demokratische Partei (KDP) und Patriotische Union Kurdistans (PUK), die Kurdistan seit 1991 regieren, überdrüssig, wünscht aber eine starke kurdische Präsenz in der neuen Bagdader Nationalversammlung. „Ich werde die kurdische Einheitsliste für Bagdad wählen, aber für den Stadtrat ungültig stimmen. Dies ist mein Protest.“ Drei Wahlscheine sollen die Kurden ausfüllen, den fast DIN A1 großen für das neue irakische Parlament, der äußerst unübersichtlich gestaltet, mehreren hundert Listen, Parteien und Kandidaten Platz bietet, den für das kurdische Regionalparlament in Arbil und schlussendlich den für die Parlamente in den Gouvernements. Nur hier treten die beiden kurdischen Parteien gegeneinander an, selbst für Arbil kandidieren sie auf einer Einheitsliste. „Diese Einheitsliste für das kurdische Regionalparlament ist ein Witz, ganz so als würden Kerry und Bush gemeinsam gegen Nader antreten“, meint dazu Akram Abdullah, der in einem kurdischen Ministerium arbeitet, „aber immerhin bekämpfen sie sich so nicht.“ Frisch sind noch die Erinnerungen an den jahrelangen innerkurdischen Parteienkrieg, dem Tausende zum Opfer gefallen sind und der Irakisch-Kurdistan Mitte der 90er Jahre paralysierte. Nun planen nach Jahren der Trennung beide Parteien ihre Verwaltungen zusammenzulegen und bislang ist es ihnen gelungen, zumindest nach Außen, also gegenüber den Amerikanern und den arabischen Parteien, weitgehend mit einer Stimme zu sprechen. Intern aber ist das Misstrauen weiter groß. Im Vorfeld der Wahlen berichtete die unabhängige Zeitung Hawlati mehrmals von Versuchen der Parteien, Stimmen zu kaufen und ihren Einfluss im Herrschaftsgebiet des jeweils anderen auszudehnen. Der Norden Irakisch-Kurdistans mit der Hauptstadt Arbil steht bislang unter Kontrolle der KDP, der Süden wird von der PUK kontrolliert. Alle Ministerien gibt es entsprechend in doppelter Ausführung, selbst zwei nach Parteilinien getrennte Mobilfunknetze sind in Betrieb.
Von Verlusten zu Gewinnen
Jetzt geht es darum, möglichst großen Einfluss in Bagdad zu gewinnen, nicht alte Rechnungen zu begleichen“, fährt Akram fort, „die Wahlen bieten uns eine einmalige Chance.“ Hat es die Geschichte bislang mit den irakischen Kurden selten gut gemeint, so sind sie die großen Gewinner des 3. Golfkrieges. Bislang Spielball regionaler Mächte und den Grausamkeiten der irakischen Regierung vergleichsweise wehrlos ausgeliefert, ist Kurdistan heute das in jeder Hinsicht am weitesten entwickelte Gebiet des Irak.
Das Städtchen Said Zadik am Wahltag mag dies verdeutlichen. Mit ungefähr 40.000 EinwohnerInnen eine kurdische Kleinstadt, in der drei Wahllokale eingerichtet wurden, vor denen schon morgens Hunderte in Schlangen anstehen, um ihre Stimme abzugeben, die wie tausende andere Ortschaften auch 1988 durch die irakische Armee ausgelöscht wurde; die Bewohnerinnen brachte man entweder um oder deportierte sie. Zwischen Suleymania und Halabja gelegen war Said Zadik militärisches Sperrgebiet, wer die Region ohne Erlaubnis der Ba’ath-Partei betrat, wurde erschossen. Nun drängeln sich, teils in festlichen Kleidern, Frauen und Männer vor den Wahllokalen, lassen eine intensive Sicherheitskontrolle über sich ergehen, um dann, oft erst nach Stunden, zu den Wahlurnen vorgelassen zu werden. Vor fünfzehn Jahren stand hier kein einziges Gebäude mehr, nur der Friedhof erinnerte daran, dass sich hier einst eine Stadt befunden hat.
Alle, die hier leben, haben Jahre der Unterdrückung und Verfolgung hinter sich. Ein Enkel trägt seine 90jährige Großmutter auf den Schultern, die seit Jahren ihr Haus nicht mehr verlassen hat. Sie wollte unbedingt noch ihre Stimme abgeben. Familienangehörige helfen ihren analphabetischen Verwandten bei der Stimmabgabe. Aus allen Städten Kurdistans wird ähnliches berichtet: ein alter Mann in Kirkuk starb nach der Stimmabgabe, in Rania wurde in einem Wahllokal sogar ein Kind entbunden. Wer kann, geht wählen: Es ist erst 10 Uhr morgens und Hamid Ameen, der Leiter des Wahllokales, erklärt stolz, schon fast die Hälfte aller registrierten Wähler hätten bereits ihre Kreuze gemacht. Auf dem Weg begegnen wir einer Gruppe aufgebrachter Dorfbewohner, die unseren Wagen anhalten und sich beschweren, bislang noch von keinem der Pendelbusse abgeholt worden zu sein. Sie fürchteten zu spät zu kommen und wir sollten ihre Beschwerde an die Wahlkommission weiterleiten. In diesem Moment kommt der Bus, die Logistik scheint vorbildlich organisiert, zumindest in der Provinz Suleymania.
Aus anderen Orten werden chaotischere Szenen berichtet, in einigen Gebieten des sunnitischen Dreiecks, wo der „Widerstand“ seine Hochburgen hat und die Parteien zum Boykott aufgerufen haben, wurden die Urnen zum Teil nicht ausgeliefert. Vor allem aus Mosul werden sich später VertreterInnen der assyrischen Minderheit bitter beklagen, dass sie am Wahlgang gehindert worden seien. Auch aus Kirkuk wird später berichtet, dass es zu groben Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Die KurdInnen, die die Stadt für sich beanspruchen, hätten dafür gesorgt, dass viele doppelt oder dreifach hätten wählen können.
Ein Zeichen an die Welt
Wer aber an diesem 30. Januar über Land fährt und überall die gleichen Szenen sieht: Menschen in langen disziplinierten Schlangen, die vor den Wahllokalen warten, trotz aller Drohungen durch den terroristischen Untergrund, Frauen, die nach Abgabe der Stimme stolz ihren mit blauer Tinte eingefärbten Finger zeigen, wer das sieht, der weiß, dass dieser Tag, trotz aller später registrierten Unregelmäßigkeiten das Gesicht des Nahen Ostens verändern wird, dass diese Wahl ein Erfolg sein wird. Entsprechend lässt überall die Anspannung schon am Morgen nach, Radiomeldungen zeigen, dass auch im Süden des Irak und in Bagdad, trotz einiger Anschläge, die Wahlbeteiligung hoch ist und es zu keinen größeren Zwischenfällen gekommen ist. Es scheint ganz so, als hätte der Ladeninhaber in Suleymania Recht behalten, der vor seinem Geschäft ein Plakat angebracht hatte mit der Aufschrift „Al Jazeera: Deine Terroristen werden diese Wahl verlieren.“ Und im Laufe des Tages ändert plötzlich auch dieser arabische Satellitensender, der hier als Sprachrohr der TerroristInnen verhasst ist, seine Berichterstattung. Hieß es am Morgen noch, einige Tausend IrakerInnen seien wählen gegangen, sind es jetzt bereits Millionen. Schon jetzt, lange vor dem amtlichen Wahlergebnis, ist klar, wer diese Wahl verloren hat. Es sind jene Gruppierungen, die sich „irakischer Widerstand“ nennen und mit blutigem Terror versuchten, den ersten freien Urnengang nach 30 Jahren Diktatur zu verhindern. Es sind dies die diktatorischen und autokratischen Nachbarländer des Irak, die diesen „Widerstand“ unterstützen. Und es sind all jene in Europa, die die Iraker nicht für fähig oder willens halten, diese Wahlen abzuhalten.
Dass diese Wahlen, allen Unkenrufen zum Trotz, landesweit erstaunlich professionell vorbereitet worden sind, zeigt sich in jedem Wahllokal, das wir in unserer Funktion als WahlbeobachterInnen besuchen. Stimmabgabe und Registrierung findet unter den Augen von Vertretern verschiedener Parteien und lokaler WahlbeobachterInnen statt. Dagegen haben sich nur wenige internationale BeobachterInnen registrieren lassen. Während die meisten europäischen Hilfsorganisationen, vor allem jene, die sich der Linken zurechnen, sich bewusst geweigert haben, diese Wahl auf diese Art und Weise zu legitimieren, hielten Sicherheitsbedenken viele andere ab.
So ist diese Wahl vor allem von Irakerinnen für Irakerinnen organisiert; auch wenn offiziell die UN für die Vorbereitung verantwortlich zeichnet, waren gerade einmal ein paar Dutzend UN-Mitarbeiterlnnen in Bagdad anwesend und wäre es nach Kofi Annan gegangen, die Wahl wäre abgesagt worden. Es war einzig der Koalition und der irakischen Übergangsregierung zu verdanken, dass der Termin trotz aller Bedenken nicht verschoben worden ist. Und das Risiko war entsprechend groß. Wäre es dem so genannten Widerstand gelungen, wie angekündigt, „Blutbäder“ anzurichten und weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten an den Urnen erschienen, wäre dies Bestätigung all jener gewesen, die im Vorfeld so lautstark erklärt hatten, die Irakerinnen seien weder willens noch in der Lage per Stimmzettel eine neue Regierung zu bestimmen. Darüber ist man sich auch in Kurdistan bewusst: Immer wieder erklären uns vor den Wahllokalen Leute, diese Wahl sei ein Zeichen an die Welt, dass man die Demokratie wolle und dem Terrorismus eine Absage erteile.
Beeindruckend sind vor diesem Hintergrund die Szenen aus Biara, einer kleinen Stadt an der iranischen Grenze, die jahrelang als Hauptquartier der islamistischen Terrororganisation Ansar al Islam unter Musab al Zarkawi diente. Diese Al Qaida nahe stehende Organisation hatte sich Ende der 90er Jahre in dieser unzugänglichen Bergregion festgesetzt und ein Taliban-ähnliches Regime errichtet. Frauen durften nur in Begleitung männlicher Familienangehöriger und tief verschleiert das Haus verlassen, außer dem Koran wurde in Schulen nichts mehr gelehrt. Von hier koordinierte Zarkawi seine terroristischen Aktionen, bis ihn im Frühjahr 2003 die US-Army gemeinsam mit kurdischen Milizen vertrieb. Wir erreichen Biara gegen Mittag, das Wahllokal ist verwaist, aber nicht weil sich die Menschen hier in die Vergangenheit zurücksehnen, sondern im Gegenteil fast alle der 2.000 Wahlberechtigten bis 12 Uhr ihre Stimme abgegeben haben. „Besonders hoch war die Beteiligung der Frauen“, erklärt Dilkwaz Ahmed, Wahlhelferin und Leiterin eines kleinen Frauenzentrums, das vergangenes Jahr eröffnet wurde. „Um 10 hatten sie bereits gewählt. Wir hoffen Zarkawi erfährt, was wir von ihm denken.“
Verwaist steht dagegen das Zelt der Referendumskampagne. Vor allen Wahllokalen ist diese Kampagne präsent und fordert die WählerInnen auf, sich für einen unabhängigen Staat Kurdistan oder einen Verbleib im Irak zu entscheiden. Besonderes Interesse wecken diese Zelte bei den WählerInnen nicht. Drei Tage später aber werden die OrganisatorInnen der Kampagne erklären, 2,1 Millionen Stimmen seien abgegeben worden und 98,5 Prozent hätten für Unabhängigkeit gestimmt. Die wenigsten allerdings schenken diesen Zahlen Glauben. „Jetzt ist nicht die Zeit über Unabhängigkeit nachzudenken. Wenn wir Kurden als gleichwertige Partner in einem demokratischen Irak akzeptiert werden, wozu brauchen wir dann Eigenstaatlichkeit?“, meint Abdullah Sabir. Ob allerdings, sollten die schiitischen Parteien auf eine stärkere Verankerung des Islam in der Verfassung bestehen und es zum Streit um die Erdölstadt Kirkuk kommen, die nationalistische Bewegung in Kurdistan nicht an Zulauf gewinnen könnte, bleibt abzuwarten.
Denn auch wenn die Wahlen ein weitgehender Erfolg gewesen sind, wie abends Mohammed Salim, Verantwortlicher für ein Wahllokal in Suleymania, erfreut feststellt, haben sie keines der drängenden Probleme des Irak gelöst. Sie haben aber gezeigt, dass mit dem Sturz Saddam Husseins 2003 ein Prozess im Nahen Osten
begonnen hat, den als irreversibel zu bezeichnen hoffentlich keine Übertreibung ist. Wenige Tage später versammeln sich in Beirut und Kairo Tausende im Protest gegen ihre eigenen Regierungen und auch der Ton der europäischen Medien ändert sich in den Tagen nach dem 30. Januar merklich. Um all die NahostexpertInnen, die zuvor erklärt hatten, warum im Irak Wahlen nicht möglich seien, ist es vorübergehend zumindest erfreulich still geworden.
Auf dem zeitgleich in Porto Allegre abgehaltenen Weltsozialforum dagegen demonstriert die Antiglobalisierungsbewegung am Wahltag tapfer gegen die „Wahlfarce“ im Irak und ruft zur Unterstützung des „irakischen Widerstandes“ auf.