Grundrisse, Nummer 4
Dezember
2002

Zum Verhältnis von Kommunikation und Gebrauchswert in der mexikanischen Marxismus-Diskussion

Die gegenwärtige sozialtheoretische Diskussion ist hierzulande, auch in Zeiten allseits beschworener Globalisierung, weitgehend unbedarft was theoretische Beiträge aus Ländern jenseits des Horizonts der hochindustrialisierten Gebiete betrifft. Der folgende Text stellt einen der relevantesten Vertreter der theoretischen Kapitalismus-Kritik in Lateinamerika anhand eines zentralen Themas, der kritischen Interpretation des Marxschen Gebrauchswertbegriffs in nicht-eurozentrischer Absicht, vor. Bolívar Echeverría ist Professor für Philosophie und Ökonomie an einer der wichtigsten Universitäten Lateinamerikas, der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM).

Geboren 1941 in Ecuador, studiert er 1962-1968 in Berlin, wo er sich mit Rudi Dutschke befreundet und Kontaktperson für Berliner SDS-Kreise nach Lateinamerika wird. In dieser Zeit Autor politischer Schriften und Mitherausgeber von Texten Che Guevaras in deutscher Sprache, befaßt sich Echeverría seit 1994 neben seinen philosophischen und ökonomischen Untersuchungen ebenso mit theoretischen Beiträgen für Veranstaltungen des Ejército Zapatista de Liberación Nacional. Heute ist Bolívar Echeverría, der seit seiner Ankunft 1968 in Mexiko dort als einer der innermarxistischen Kritiker des Dogmatismus sowjetischer Prägung auftritt, einer der wenigen Theoretiker, die weiterhin an einer marxistischen Analyse der gesellschaftlichen Realität arbeiten.

Dies ist in Mexiko, im Unterschied zur hierzulande herrschenden Marginalisierung marxistischer Wissenschaft, kein Hinderungsgrund für akademische und gesellschaftliche Anerkennung. Die UNAM zeichnete ihn im Jahr 2000 mit ihrer höchsten Auszeichnung, dem Premio Universidad Nacional aus. Seine Beiträge sind für die mexikanische und Teile der lateinamerikanischen Linken und andere KritikerInnen des herrschenden gesellschaftlichen Desasters zentraler Bezugspunkt. Seine Theorie zu kennen, könnte ungeachtet der hiesigen akademischen und wissenschaftlichen Selbstgenügsamkeit durchaus hilfreich sein.

Reproduktion und Kommunikation

Bolívar Echeverría hat sich im Rahmen seiner Theoriebildung eine nicht ohne weiteres zu lösende Aufgabe gestellt. Der aus der Tradition des westlichen Marxismus stammende Praxisbegriff, den er zwar als entscheidenden Beitrag, aber zugleich als zu abstrakt begreift, soll inhaltlich konkret gefüllt und dabei in seiner historischen Dimension gefaßt werden. Das Problem liegt dabei jedoch in Folgendem: Wie soll der Praxisbegriff, der untrennbar mit dem Begriff des (autonomen) Subjekts (als frei entscheidendes) verknüpft ist, als bestimmter, nicht beliebiger, inhaltlich konkret gefaßt werden? Wie soll dieses komplizierte Verhältnis von subjektiven Einzelentscheidungen in ein stimmiges Verhältnis gebracht werden zu einer theoretischen, begrifflichen – und damit notwendig nach Allgemeinheit trachtenden – historisch-konkreten Bestimmung dieser Praxis beziehungsweise dieser Praktiken?

Oder um es anders, der von Echeverría angestrebten materialistischen Kulturtheorie näher, zu formulieren: Wie kann eine gewisse kulturelle Determiniertheit der menschlichen, insbesondere produktiven (und konsumtiven) Praxis begriffen werden, ohne in ethnologisierende oder gar biologistische Festschreibungen der menschlichen Subjekte in ihrer jeweiligen alltäglichen Reproduktionsform zu verfallen? Dieser Autor, der, wie bereits erwähnt, die menschliche Kultur nicht an ihren sogenannten Hochformen wie z.B. der musealen Kunst, sondern in erster Linie an der genauen Art und Weise der materiellen Reproduktion (als Einheit von Produktion und Konsum) festmacht, findet ein passendes Bild für dieses Wechselspiel von Freiheit und Tradition, von Individualität und – historisch-geographisch bestimmter – Kollektivität, in der menschlichen Sprache und ihren unzähligen Sprechakten und eine Wissenschaft, die dieses Wechselverhältnis daraufhin untersucht, in der durch Ferdinand de Saussure begründeten Semiotik. Er bezieht sich dabei auf Autoren wie Roman Jakobson und Louis Hjelsmlev. [1]

Als Methode verwendet er dabei im hier diskutierten Aufsatz zur Naturalform der gesellschaftlichen Produktion nicht nur den fortlaufenden Text, sondern auch durchschnittlich alle zwei Seiten eine Grafik mit schematischen Darstellungen des Kommunikationsprozesses und des Reproduktionsprozesses, die wohl deren Ähnlichkeit bildlich faßbar machen sollen. Ihre Verwandtschaft zu Saussureschen Grafiken ist nicht zu übersehen, wenn auch diejenigen Echeverrías wesentlich komplexer und nur nach eingehender Lektüre des Haupttextes erschließbar sind. Entscheidend ist dabei, daß Echeverría diesen Rückgriff auf die Semiotik nicht machen will, um alle Realität als bloßes Zeichen und damit die Geschichte nur noch als „unabgeschlossenen Text“ zu fassen, sondern umgekehrt. Es geht ihm nicht nur um den Nachweis, daß das erste und grundlegende menschliche Zeichensystem dasjenige der je unterschiedlichen Formen der Produktion und des Konsums von Gebrauchswerten ist, sondern mehr noch: Der Kommunikationsprozeß ist für Echeverría eine Dimension des Reproduktionsprozeß.

„Ich mache sodann eine Parallele zwischen dem Produktionsprozeß und dem Kommunikationsprozeß sichtbar. (...) Das heißt, dieser (Kommunikationsprozeß) ist eine Dimension des Ersteren [das heißt, des Produktionsprozesses, S.G.].“ [2] Das heißt, der Reproduktionsprozeß kann nicht deshalb mit dem Kommunikationsprozeß verglichen werden, weil die Welt insgesamt nur als eine komplizierte Kombination von „Texten“ und deren „Lesarten“ zu fassen ist, sondern umgekehrt. Die Kommunikation ist, als Einheit von Produktion und Konsumtion von Bedeutungen, selbst einer unter vielen produktiven und konsumtiven Akten, welche die Menschen tun müssen, um ihr Leben organisieren und erhalten zu können, ist dabei mitnichten der fundamentale und hat die nicht hintergehbare Materialität immer selbst als Grundlage.

Das Sprachvermögen [lenguaje] ist in seiner grundlegenden Verwirklichung, der verbalen, auch ein Prozeß der Produktion/Konsumtion von Gegenständen. Der Sprechende übermittelt demjenigen, der ihm zuhört, eine Veränderung der Natur; seine Stimme verändert den akustischen Zustand der Atmosphäre, und diese Umwandlung, dieser Gegenstand, wird als solcher vom Ohr des anderen wahrgenommen oder konsumiert. [3]

Es ist Bolívar Echeverría um eine Erklärung des Prozesses der Produktion und des Konsums von Gebrauchswerten zu tun, die auf die Semiotik zurückgreift, ohne aber damit das Primat der Natur, das Primat des Materiellen als unabdingbare Grundlage des Ideellen zu leugnen. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu einer Reihe zeitgenössischer Ansätze, die sich im Kommunikationsbegriff (oder verwandten Konzeptionen, wie z.B. derjenigen der „Artikulation“) verschlingen und in ihren verschiedensten realen oder vorgestellten Formen die Erklärung und zugleich auch Errettung der Welt erblicken.

Während Saussure die Linguistik der von ihm eingeführten Semiotik (sémiologie) als bloßes Teilgebiet unterordnet [4] und feststellt, daß die Erkenntnis der „wahren Natur der Sprache“ nur möglich ist, wenn sie in das allgemeinere Feld „aller anderen Systeme ähnlicher Gestalt [tous les autres système du même ordre]“, [5] das von der Semiotik untersucht wird, richtig eingeordnet wird, ist es Echeverría wiederum darum zu tun, die Semiotik – verstanden von ihm als Produktion und Konsumtion von Zeichen – ins allgemeinere Feld der Produktion und Konsumtion überhaupt einzuordnen. Hierin unterscheiden sich offensichtlich Saussure und Echeverría beachtlich voneinander, denn Ersterer sieht die Semiotik ihrerseits wieder eingebettet in die Sozialpsychologie und diese wiederum in die Psychologie überhaupt, während Echeverría die Kritik der politischen Ökonomie zum Bezugssystem hat. [6] Eine Parallele besteht darin, daß beide zur Untersuchung des allgemeineren Gegenstandes, der notwendig ist, um die spezielleren zu verstehen, von dem komplexesten der speziellen Gegenstände ausgehen. So erklärt Saussure:

Man kann also sagen, dass völlig beliebige Zeichen besser als andere das Ideal des semeologischen Verfahrens verwirklichen; deshalb ist auch die Sprache, das reichhaltigste und verbreitetste Ausdruckssystem, zugleich das charakteristischste von allen; in diesem Sinn kann die Sprachwissenschaft Musterbeispiel und Hauptvertreterin der ganzen Semeologie werden, obwohl die Sprache nur ein System unter anderen ist. [7]

Hier fällt – trotz aller Unterschiede – eine gewisse Ähnlichkeit zu Marxens methodologischem Vorgehen auf, das anschaulich in dem Satz zusammen gefaßt ist, die „Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen.“ [8] Anders formuliert: die Saussuresche Methode erinnert an die Marxsche Unterscheidung des Gangs der Untersuchung vom Gang der Darstellung, die zum Beispiel im Falle des Kapital weitgehend gegenläufig ist. Echeverría, der – wie gesagt – Marx mit der Semiotik verbinden will, versucht eine ähnliche Methode ebenfalls in seinen Untersuchungen zu verwenden. Zur Analyse der allgemeinen Tatsache der Produktion und des Konsums von Gegenständen greift er in starkem Maße auf die Produktion/Konsumtion von Zeichen zurück. Dieses Vorgehen wählt er nicht, weil letztere wichtiger wären als andere Produktions-/Konsumtionsformen, sondern schlicht und einfach, weil an ihnen etwas Allgemeines verstanden werden kann und zudem in der Produktion/Konsumtion von jeglichem Ding, insbesondere wenn seine Gebrauchswertseite betrachtet wird, immer schon eine Produktion/Konsumtion von Zeichen mit enthalten ist.

Das einmal klargestellt, ist festzuhalten, daß es eine umfassende Gegenwart von kommunikativen Elementen in der materiellen Reproduktion selbst gibt. Man könnte nun an dieser Stelle versucht sein, schnell zu sagen: „Natürlich, denn zur Organisation des Reproduktionsprozesses muß kommuniziert werden, müssen Projekte besprochen werden, Probleme verbal gelöst und andere sprachliche Akte vollzogen werden.“ So sehr dies auch zutrifft, ist es nicht der zentrale Aspekt von Echeverrías Begriff der Ähnlichkeit und Verschränktheit von Reproduktion und Kommunikation. Vielmehr sieht er in Produktion und Konsum von Gebrauchswerten selber einen Akt der „Mitteilung“, möglicherweise den entscheidenden für das gesellschaftliche Leben überhaupt. Eine bestimmte Mahlzeit zum Beispiel herzustellen und sie sodann zu verspeisen, heißt zugleich, ein bestimmtes Zeichen herzustellen und es sodann zu interpretieren.

Gegenstände zu produzieren und zu konsumieren, heißt, Bedeutungen zu produzieren und zu konsumieren. Produzieren ist mitteilen, einem anderen einen Natur-Gebrauchswert vorzuschlagen; konsumieren ist auslegen, ist die Realisierung dieses Gebrauchswertes durch einen Anderen, der ihn auffindet. Die Natur sich anzueignen, heißt, sie in etwas Bedeutungsvolles zu verwandeln. [9]

Dafür, daß Echeverría dieses „Bedeutung geben“ nicht als willkürlichen Akt faßt, wie es in manchen Tendenzen der Diskurstheorie der Fall ist, spricht sein Beharren auf dem Primat der Materie. Für Echeverría ist dieses „Bedeutung geben“ ein höchst materieller Vorgang, der eben die Umwandlung eines Naturobjektes in einen für menschliche Bedürfnisse interessanten Gegenstand beinhaltet. Diese Umwandlung kann deshalb nicht als willkürlicher Akt stattfinden, weil sie die Naturbeschaffenheit des Objektes immer notwendigerweise berücksichtigen muß. Ein Koch, um bei diesem Beispiel zu bleiben, kann eben nur aus bestimmten Naturdingen eine Speise zubereiten. Trotz aller Freiheit, die er in dieser Handlung hat, ist der doch gezwungen, das Stück Fleisch und nicht die es heute meist umgebende Plastik-Verpackung zu verarbeiten, will er tatsächlich einen Gebrauchswertes schaffen.

Hierin liegt übrigens ein wichtiger Unterschied zur Wertproduktion, die tendenziell von der realen Befriedigung menschlicher Bedürfnisse absehen kann, wenn nur die Wert- und damit Mehrwertschöpfung garantiert ist. Der Haken dabei ist nur, daß letztlich die Wertproduktion nicht völlig auf die Gebrauchswertproduktion als deren „naturale“ Grundlage verzichten kann. Dieser Knackpunkt ist für Echeverría die Ansatzstelle für eine mögliche Überwindung der scheinbar sich verewigenden kapitalistischen Produktionsweise. Während Marx seine Hoffnungen auf ein Ende der herrschenden Verhältnisse – ohne ein Ende der sie tragenden Subjekte – in seiner Theorie darauf gründete, daß die gegenwärtige Gesellschaftsformation ohne das Proletariat nicht auskommt, diese sogar immer mehr brauchen wird, jene aber zugleich das potentiell revolutionäre Subjekt sind, hat Echeverría einen nicht so sehr auf die Produktion fixierten Ansatz. Er geht stärker von der Einheit von Produktion und Konsumtion und damit der Einheit von Wertproduktion und Gebrauchswertproduktion aus – denn erst im Konsum stellt sich heraus, ob ein Produkt tatsächlich einen Gebrauchswert und damit auch Wert hat (was Marx lapidar mit der Formulierung, daß ein Produkt seinen Wert erst auf dem Markt realisieren muß, umschreibt [10]). Nur der Gebrauchswert eines Produktes ermöglicht es, daß es wirklich konsumiert, also gekauft wird. Echeverría geht mit Marx also davon aus, daß die Wertproduktion zwar ohne die Gebrauchswertproduktion nicht auskommt, zugleich diese aber mit Notwendigkeit immer mehr kontrolliert, bedrängt und tendenziell zerstört. Dieser innere antagonistische Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise gibt ihm einen Hinweis auf einen möglichen Ausweg. Dieser Ausweg liegt demnach nicht, wie es der dogmatische Marxismus sowjetischer Prägung unterstellte, in einem einfachen Aufheben der Unterversorgung der arbeitenden Massen durch ein kontinuierliches quantitatives Steigern der Produktivkräfte, was theoretisch einen stupiden Produktivismus und Progressismus und praktisch brutalste Methoden der Produktivitätssteigerung im Stalinismus bedeutete, sondern er geht – mit den meisten Denkern des westlichen Marxismus – davon aus, daß, quantitativ gesehen, längst eine Versorgung aller Menschen mit verhältnismäßig wenig Arbeitsaufwand möglich ist. Das Problem liegt ihm zufolge nicht in der quantitativen Seite, sondern in der qualitativen: Was wird produziert und wie wird es produziert? Es dreht sich also um die Gebrauchswertseite der Produktion und somit auch des Konsums:

Nur die Rekonstruktion des kritisch-radikalen Begriffs des Gebrauchswertes kann die Unbegründetheit jener Identifikation des Marxismus mit dem westlichen Produktivismus, dem ökonomistischen Progressismus des Kapitalismus und der bürgerlich-politischen Staatsfixiertheit zur Anschauung bringen. [11]

In diesem Zitat klingt, wenn Echeverría die „Identifikation des Marxismus mit dem westlichen Produktivismus“ kritisiert, ein Doppeltes an: Zum ersten der Hinweis auf die Notwendigkeit der Kritik des Eurozentrismus, der in der Linken, einschließlich wichtiger Teile der undogmatischen, nicht-progressistischen, auch heute meist nicht überwunden ist. Allein schon die Terminologie der „entwickelten“ und „unterentwickelten“ Länder, die allzuoft naiv übernommen wird, drückt einen tiefsitzenden ökonomistischen Produktivismus aus, der die Produktivkräfte und ihre technisch-industrielle Perfektion (im Sinne einer so weit wie möglich gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit unter kapitalistischen Bedingungen) unter der Hand zum Merkmal von „Entwicklung“ überhaupt erhebt. Zugleich steckt hierin auch die Vorstellung einer „natürlichen“ Notwendigkeit der ständigen Weiterentwicklung der Produktivkräfte im obigen Sinne (zudem auf eine ganz bestimmte Art und Weise), was aber ausschließlich in den herrschenden Verhältnissen eine unumgängliche Notwendigkeit ist. Im Rahmen dieser Logik sind also manche Länder „entwickelter“ als andere, doch verselbständigt sich die hieraus hervorgehende Hierarchisierung der Welt, bekommt ein Eigenleben und wirkt auch in kapitalismuskritischen Köpfen fort. (In gewisser Weise ist der Eurozentrismus in der Linken noch problematischer als in konservativen Theorien. Für die Konservativen geht der Eurozentrismus notwendigerweise aus ihrem unkritischen Reflektieren der realen Machtverhältnisse hervor, bei der Linken hingegen ist er nur noch mit kulturchauvinistischen Denkresten zu erklären.) [12]

Zum zweiten ist in dem zitierten Satz Echeverrías auch eine unausgesprochene Antwort an einen Philosophen enthalten, dessen Werk unseren zweiten Autor viele Jugendjahre beschäftigt hat. Wenn Echeverría hier darauf beharrt, daß Marx nicht integrativer Teil des „westlichen“ Denkens ist, sondern der Begriff des Gebrauchswertes „notwendigerweise über die Metaphysik des Okzidents hinausgeht“, [13] so ist dies eine unzweideutige Zurückweisung der Behauptung Martin Heideggers, Karl Marx sei der letzte Repräsentant der Metaphysik des Westens.

Gebrauchswert und Zeichen

Bezüglich der Frage, wie das Verhältnis von Subjekt und Objekt als eines gedacht werden kann, das zugleich von Determiniertheit (z.B. durch die Naturgesetze) als auch von menschlicher Freiheit zutiefst geprägt ist, kann nun folgender Annäherungsversuch Echeverrías skizziert werden. Wie gezeigt wurde, kann eine Parallelisierung des Reproduktionsprozesses mit dem Kommunikationsprozeß vollzogen werden, ohne ersteren zu entmaterialisieren oder idealistisch umzudeuten. Im Kommunikationsprozeß finden wir aber die Besonderheit eben jener eigenartigen Koexistenz von Freiheit und Neuschöpfung in jedem Sprechakt und gleichzeitigen Determiniertheit durch die Sprache, in der jeweils kommuniziert wird. Nur weil in jedem Moment ein neuer Sprechakt mit einem gewissen Grad an Freiheit geschaffen wird, kann der oder die Sprechende jeder zu erfassenden Konstellation damit einigermaßen gerecht werden. Zugleich kann sie sich aber nur dem Anderen verständlich machen, weil sie sich innerhalb der jeweiligen Sprache bewegt und deren Regeln weitgehend akzeptiert.

Ähnlich verhält es sich auch im Prozeß der Produktion und Konsumtion von Gebrauchswerten. Der Produzent kann nicht einfach irgend etwas herstellen, wenn er will, daß es von anderen als Gebrauchswert erkannt und anerkannt, das heißt gekauft wird. Entscheidend ist dabei nicht einfach die biologische Fähigkeit des menschlichen Organismus, ein bestimmtes Produkt in irgendeiner Weise zu konsumieren. Hier liegt gerade der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier. Beim Menschen spielen bei der Unterscheidung zwischen nützlichem und nicht nützlichem Ding, also zwischen Gebrauchswert und Nicht-Gebrauchswert auch historische Faktoren in großem Maße mit. Darauf weist bereits Marx in der weiter oben bereits zitieren Passage hin: „(...) die mannigfachen Gebrauchsweisen der Dinge zu entdecken ist geschichtliche Tat.“ [14] In Echeverrías Weiterentwicklung von Marx’ Gebrauchswerttheorie beinhaltet der Begriff der Geschichte auch die geographischen „Ungleichzeitigkeiten“ (in dem Sinne, daß in die historischen Faktoren auch der Ort und nicht nur die Zeit eingehen).

Von großer Bedeutung bei dem Vergleich zwischen Reproduktionsprozeß und Kommunikationsprozeß ist, daß es in beiden die Instanzen gibt, die der Begründer der Semiotik als „Bezeichnetes“ und „Bezeichnendes“ unterscheidet, deren Einheit das Zeichen darstellt. Dabei stellt in der Sprache das erste den „Begriff“ und das zweite das „akustische Bild“ dar. Der reine Begriff enthält dabei aber genau so wenig wie das pure Bild, beide sind auf sich alleine gestellt verloren, oder um es genauer zu sagen, nicht vorstellbar. So weist zum Beispiel Saussure darauf hin, daß die Vorstellung eines reinen, bildlosen Begriffs den Gedanken beinhaltet, es gäbe Ideen, die vor ihrem sprachlichen Ausdruck bereits als ausgereifte existieren, [15] was er offensichtlich verwirft.

Bevor nun weiter in den Vergleich mit der Gebrauchswertproduktion eingestiegen werden kann, muß noch berücksichtigt werden, daß Echeverría, unter Bezugnahme auf Walter Benjamin, davon ausgeht, daß die Menschen sich nicht nur durch die Sprachen sondern in diesen ausdrücken und verständigen, was so zu verstehen ist, daß die Sprachen keine festen Systeme sind, die man schlicht als Mittel zur Kommunikation verwendet, sondern in jedem Kommunikationsakt neu geschaffen und dabei jeweils modifiziert werden. [16] Echeverría versteht diesen Benjaminschen Gedanken als einen, der für alle Zeichensysteme gültig ist. [17] So wie aber in jedem Sprechakt oder Sprechen („parole“ bei Saussure) die Sprache („langue“ bei Saussure) insgesamt aufs Spiel gesetzt wird, so geschieht es auch in der Produktion und der Konsumtion von Gebrauchswerten.

Wie bereits dargelegt, faßt Echeverría die Einheit von Produktion und Konsumtion von Gebrauchswerten als das, was in der Semiotik als langage, als Sprachvermögen gefaßt wird, also die Fähigkeit, sich auf eine zwar nicht chaotische aber dennoch freie Weise zu verständigen. Frei nicht in dem Sinne, jederzeit einfach völlig neue Zeichen aus dem Nichts erfinden zu können, weil dann schließlich das Funktionieren des Zeichensystems in Frage gestellt wäre, aber dennoch so frei, sich nicht bloß wie Tiere aufgrund weitgehend biologisch (in den Instinkten) festgelegter Reiz- und Reaktionsformen zu verständigen. [18]

Saussure sagt dazu:

Dann aber ist die Sprache nicht mehr frei, weil nun die Zeit die Moeglichkeit bietet, dass die auf die Sprache einwirkenden sozialen Kraefte auch Wirkungen hervorbringen, und so gelangt man zu der Grundtatsache der Fortdauer, welche die Freiheit aufhebt. Das Fortbestehen aber traegt notwendigerweise die Umgestaltung in sich, eine mehr oder weniger betraechtliche Verschiebung der Beziehungen. [19]

Das Moment der Unfreiheit, das Saussure besonders hervorhebt, gilt für die bestimmte Sprache, die langue, nicht aber für das Sprachvermögen insgesamt (langage, bzw. faculté du langage), was von großer Bedeutung für Echeverrías Überlegungen ist.

Im Akt der Produktion eines Gebrauchswerts findet also zugleich eine Zeichenproduktion statt und in seiner Konsumtion seine Interpretation. Es gibt auch hier ein bezeichnendes und ein bezeichnetes Element, die gemeinsam das Zeichen konstituieren. Echeverría läßt es den Leser, die Leserin nicht völlig eindeutig erkennen, was beim im Gebrauchswert enthaltenen Zeichen das Bezeichnende ist und was das Bezeichnete. Er bemerkt aber an einer Stelle, daß die Rohstoffe tendenziell näher am Bezeichneten sind und die verwendeten Arbeitsmittel näher am Bezeichnenden, ohne aber eine definitive Zuordnung zu vorzunehmen. [20] Es scheint, daß sowohl Rohmaterial als auch Arbeitsmittel beide Funktionen haben können, aber zweiteres bei der Zeichengebung eine hervorragende Stellung einnimmt:

Die entwickelteste Form des gesellschaftlichen Gegenstandes ist ohne Zweifel das Arbeitsmittel. Die beiden Pole, die jede gegenständliche Form bestimmen – der Formvorschlag für das Subjekt und dessen Bereitschaft, diesen sich anzueignen – befinden sich im Arbeitsmittel in einem Spannungszustand. Je nach Fall kann diese instabile Pattsituation ganz unterschiedlich entschieden werden. Das in der Werkzeugform als technischer Struktur eingeschriebene Vorhaben einer auf die Rohmaterialien gerichteten verändernden Tätigkeit erlaubt nicht nur – wie bei jedem gesellschaftlichem Gegenstand – sondern fordert, um wirksam zu sein, einen Willen zur verändernden Tätigkeit, der sich das Vorhaben zu eigen macht und es konkretisiert. Die allgemeine umformende Dynamik, welche das Arbeitsmittel in sich trägt, muß durch die Arbeit vollendet und hervorgehoben werden. [21]

Die Arbeitsmittel (Werkzeuge) zeichnen sich aber dadurch aus, daß ihre Wirksamkeit sich in den meisten Fällen nicht in einem einzigen produktiven/konsumtiven Gesamtakt erschöpft, wie es bei den Gebrauchswerten der Fall ist, die unmittelbar als Lebensmittel konsumiert werden. Diese tendenzielle Dauerhaftigkeit des Arbeitsmittels bringt uns nun dem Geheimnis schon wesentlich näher, denn hier wird die Parallele zu anderen Zeichensystemen, die bisher vielleicht noch etwas im Dunkeln lag, schon klarer. So wie wir nicht durch die Sprache sprechen, sondern in ihr, so produzieren wir nicht bloß durch ein Arbeitsmittel sondern auch in ihm. Dieses ist einerseits in vielen Fällen dauerhafter Natur, andererseits jedoch — zumeist der Möglichkeit nach — ständiger Veränderung ausgesetzt. Damit ist nicht nur die Abnutzung desselben gemeint, sondern die immer wieder auftretende Notwendigkeit oder auch der auftretende Wunsch des Subjektes, es zu verändern. Demnach kann die Parallele zur Saussureschen Semiotik in der Weise weiter ausgeführt werden, daß jeder einzelne Akt einer Produktion (und auch einer Konsumtion) eines Gebrauchswertes eine parole ist, also ein Sprechen, die Gesamtheit aller dieser Akte in einer bestimmten Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen und in einer bestimmten historischen Epoche aber kann als die langue, die Sprache angesehen werden.

Ungeklärt bliebt dabei jedoch bei Echeverría, ob es auch innerhalb einer Gesellschaft zum gleichen Zeitpunkt verschiedene Zeichensysteme geben kann. Echeverría spricht an anderer Stelle von einem „subjektiv-objektiven Wesen, das mit einer besonderen historisch-kulturellen Identität ausgestattet ist, (...) die historisch-konkrete Existenz der Produktiv- und Konsumtionskräfte, das heißt (...) die Substanz der Nation.“ [22]

Hiermit könnten diejenigen Subsysteme einer Gesellschaft gemeint sein, in denen jeweils mehr oder minder einheitliche Zeichensysteme vorherrschen. Da uns dieser Begriff der „Substanz der Nation“, der an anderer Stelle auch in den der „natürlichen Nation“ übergeht, aber suspekt ist, wollen wir ihn an dieser Stelle ohne kritische Einführung nicht verwenden. Es zeichnet sich auch hier wieder ein Problem ab, das ganz allgemein mit der Theorie Echeverrías besteht: Zum einen ist sie geeignet, auf die inneren Differenzen einer Gesellschaft und letztlich auch des heute geradezu weltweit organisierten Gesellschaftssystems hinzuweisen und diese zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, doch dies um den Preis, auf äußerst fragwürdige Begrifflichkeiten wie solche der „Substanz der Nation“ zurückzukommen, die tendenziell hinter den allgemeinen Gesellschaftsbegriff zurückfallen.

Begriff des konkreten Universalismus

Was aber wird mit der Konfrontation der Produktion und des Konsums von Gebrauchswerten mit der Semiotik klar, was anders nicht erklärt werden könnte? Auf diese Frage gibt es unseres Ermessens zwei mögliche Antworten: Zum einen ist Echeverrías Rückgriff auf Begrifflichkeiten der Semiotik als polemischer zu verstehen. Indem die Produktion und Konsumtion von Gebrauchswert als grundlegendstes semiotisches System gefaßt wird, soll theoretischen Strömungen der Wind aus den Segeln genommen werden, welche die gesprochene Sprache umstandslos zum wichtigsten menschlichen Zeichensystem erklären. Es soll also die Semiotik aus ihrer Versklavung durch die Linguistik (als deren bloße Zulieferin), in die sie nach Saussure zum Teil verfallen ist, befreit werden, wie folgende Passage aus einem Interview mit Echeverría zeigt:

(...) siehst Du es wie die ‘radikalen’ Diskurstheoretiker? Für sie ist das einzige, was existiert, der Diskurs. Nein, ganz im Gegenteil, es ist genau ein wenig gegen diese Tendenz, diejenige des radikalsten Strukturalismus, gerichtet. Gerade um diese, sagen wir, derartig radikale strukturalistische Tendenz zu bekämpfen, habe ich versucht, diese Verbindung herzustellen, also die Semiotik aus dem Strukturalismus auszugliedern und so weit wie möglich in den Begriffsapparat von Marx zu integrieren. [23]

Zum anderen gibt es folgende mögliche Antwort auf die formulierte Frage: Mit der Verbindung von Marxscher Theorie und Saussurescher Semiotik soll einer bestimmten Interpretation des Marxschen Werkes entgegengetreten werden. Nach dieser Interpretation ist das entscheidende an den Produktionsverhältnissen die Wertseite dieses Prozesses, von dieser aus läßt sich demnach alles andere erklären und bewerten, das heißt auch seine Gebrauchswertseite. Das hat zur Folge, daß diejenigen Gebrauchswerte, die im Rahmen einer Gesellschaft produziert werden, in der es einen besonders hohen Grad an Industrialisierung gibt, automatisch auch als „entwickeltere“ denn andere aufgefaßt werden. Da es aber zugleich ein Wissen darum gibt, daß die Gebrauchswerte mit der jeweiligen kulturellen Verfaßtheit eines Landes zusammenhängen, folgt letztlich daraus der Schluß, daß bestimmte Kulturformen nur deshalb „entwickelter“ sind als andere, weil sie sich in einer Gegend befinden, in der auch ein höherer Industrialisierungsgrad als in anderen Gegenden herrscht. Auch wenn es immer weniger Theorien gibt, die dies so offensiv vertreten, ist dies doch implizit das allgemein herrschende Denken, im Alltag wie in der Wissenschaft.

Ein Beispiel aus dem mexikanischen Alltag wäre die Vorliebe der städtischen Mittelklasse für Weißbrot, am besten abgepacktes Toastbrot („Pan Bimbo“). Aus ernährungsmedizinischer Sicht hat dieses einen unvergleichlich niedrigeren Gebrauchswert als die in der ärmeren Bevölkerung zum gleichen Zweck — als Beilage zum Mittagsmahl — üblichen Mais-Tortillas. Da aber das Weißbrot identifiziert wird mit einer Kultur, die zu dominanten geworden ist, weil sie einherging mit einer stärkeren Entwicklung der Produktivkräfte (und damit auch der Waffentechnik) und deren Imperien damit in der Lage waren, mehr als einen Kontinent zu kontrollieren, geht die Mittelklasse davon aus, daß nichts vortrefflicher ist als Weißbrot. Daß die für die Vorliebe offen formulierten Gründe ganz andere sind ändert nichts an deren Hintergrund. [24]

Aber auch auf theoretischer und politischer Ebene ist genau der gleiche Mechanismus zu beobachten. Nachdem das Wort von der „unterentwickelten Ländern“ kritisiert wurde, werden sie eben „Entwicklungsländer“genannt, oder ganz schick — „Schwellenländer“. Klar ist jedoch immer, wohin die Fahrt geht, und was das Anzustrebende ist, welche Schwelle da schnellstmöglichst überschritten werden soll: die in die „erste Welt“, was immer auch mit dort herrschenden kulturellen Formen konnotiert ist. Alle diese Vorstellungen sind keine typisch marxistischen, aber existieren auch in großem Maße innerhalb der marxistischen Diskussion. Auf diese – leicht versteckte – Art herrscht also die Vorstellung vor, früher oder später müßten alle Menschen so leben, wie es heute in Europa und den USA üblich ist; das sei die wahre „Entwicklung“. Eine Fixierung auf die Wertseite der Produktion und Konsumtion, kombiniert mit einem naiven Progressismus bilden einen ideologischen Nährboden, in dem der Eurozentrismus blüht und gedeiht.

Auch sich noch so darüber erhaben fühlende politische Gruppierungen stecken oft bis zum Hals in diesen Vorstellungen, ohne es aber selbst zu bemerken. Offensichtlich wird es aber, wenn ihre Vertreter und Vertreterinnen in Länder der scheinbaren und wirklichen Peripherie kommen und dort sofort aufschreien, wenn in dortigen linken Organisationen etwas anders läuft als im Mutterland und sofort vermuten, daß der Diskussionsstand dort eben noch nicht so weit gediehen ist wie im Hort der Wahrheit – Europa. Umgekehrt gilt das gleiche z.B. in Lateinamerika, wo viele Linke sich nichts sehnlicher wünschen, als nach Europa zu fahren, um die dortigen Projekte, Theorien und Diskussionen etc. hautnah mitzubekommen. Zugleich versucht beispielsweise die mexikanische Linke, wie alle anderen dortigen politischen Strömungen auch, die ihnen politisch ähnlichen Tendenzen in Europa so perfekt wie möglich nachzuahmen, bestenfalls deren Projekte und Ideologien auf Mexiko „anzuwenden“. [25]

Die Gelassenheit, mit der Saussure dagegen die verschiedenen existierenden Sprachen nebeneinander stellt, ohne den Versuch der Hierarchisierung zu unternehmen, ist wohl das, was Echeverría an ihm gefällt. Das gleiche schwebt Echeverría für die Gebrauchswerte vor: eine Art der Analyse, die nicht sofort einige für höherwertiger als andere hält, nur weil sie im Rahmen einer weiter zugespitzten Form der Wertschöpfung entstanden sind. In diesem Zusammenhang geht es dann darum, auch die existierenden, regional unterschiedlichen, Formen, den kapitalistischen Alltag zu leben und sich gedanklich darin zu bewegen, nicht-hierachisierend zu untersuchen.

Die Anwendung der Saussureschen Semiotik auf die Gebrauchswerttheorie sieht dann folgendermaßen aus: Neben der langue (Sprache), also der Gesamtheit von vielen Produktionen und Konsumtionen des Gebrauchswerts in einer bestimmten historischen Konstellation, gibt es noch die langage, oder faculté de langage, das Sprachvermögen. Dies ist der springenden Punkt: Das spezifisch menschliche, wonach sich Echeverría mehrfach im Text La „forma natural” de la reproducción social fragt, ist nicht die langue, also eine bestimmte Sprache, sondern die langage, das Sprachvermögen überhaupt. Nicht eine spezifische Form von hergestellten und verwendeten Gebrauchswerten ist das, was den Menschen und seine Selbsterzeugung auszeichnet, sondern seine Fähigkeit, dies überhaupt zu tun.

Mit der Unterscheidung von Sprache und Sprachvermögen, angewandt auf die Sphäre der Reproduktion, kann nun nicht mehr so leicht von einer bestimmten Konstellation von Gebrauchswert auf eine „höhere“ oder „niedrigere“ Entwicklungsstufe geschlossen werden, so wie auch, wenn wir z.B. das Französische mit dem Deutschen vergleichen, vernünftigerweise nicht sagen können, das eine sei „höher“ als das andere. Es werden also in Saussures Theorie Dinge thematisiert, die in den marxistischen Diskussionen weitgehend ausgespart bleiben. So redet der Schweizer Saussure mit einer kaum zu überbietenden Selbstverständlichkeit von „die Verschiedenheiten unter den Sprachen und schon das Vorhandensein verschiedener Sprachen“. [26]

Es gibt für ihn nicht einmal den geringsten Platz für die Möglichkeit einer Diskussion darüber, ob eine Sprache höherwertig sei als die andere oder ähnliches. Diese Problem ist für ihn schlicht inexistent. Dies ist es vor allem, was uns die Semiotik und Linguistik Saussures lehren kann: Das Verbindende zwischen den Menschen ist nicht ihre gemeinsame Sprache, sondern das ihnen gemeinsame Sprachvermögen, oder um es besser zu sagen, ihre Fähigkeit zur Verständigung mittels Zeichen, wobei die Sprache nur eine von vielen Formen darstellt und die grundlegende diejenige der Produktion und des Konsums von Gebrauchswerten ist.

Echeverrías Interesse an der durch Saussure begründeten Semiotik kann damit folgendermaßen verstanden werden: Sie soll ihm als theoretisches Hilfsmittel dienen, um den „falschen Universalismus“, der nichts anderes ist als die Selbsterhebung einer der existierenden Partikularitäten zum „Allgemeinen“ (z.B. der europäischen Kultur zur allgemein menschlichen) zu bekämpfen, ohne in Beliebigkeit zu verfallen. Es ist nicht einfach so, daß es „gar nichts Universelles“ gibt, wie heute gerne behauptet wird, [27] sondern es liegt durchaus ein universelles Moment vor, das die Menschen verbindet; aber es ist eines, das in sich verschiedenste Ausformungen zuläßt, also das Sprachvermögen im obigen weitesten Sinne mit der darin gegebenen (und realisierten) Möglichkeit zur Ausformung unterschiedlichster Zeichensysteme — mit anderen Worten: unterschiedlichster Arten, den Alltag zu organisieren, die Reproduktion mittels verschiedenartigster Gebrauchswerte zu sichern und so weiter.

An anderer Stelle, im jüngeren Text zu La identidad evanescente formuliert Echeverría einen ähnlichen Gedanken bezüglich der nicht-eurozentrischen Ansätze Wilhelm von Humboldts, dem Begründer der vergleichenden Sprachwissenschaft, in der Weise, daß es neben dem falschen, eurozentrischen, abstrakten Universalismus auch einen „konkreten Universalismus“ geben kann, in dem die individuellen wie kollektiven Subjekte sich der Notwendigkeit des „Anderen“, sowohl in sich selber als auch außerhalb, voll bewußt sind. Der „konkrete Universalismus einer zugleich einheitlichen und bedingungslos pluralen Menschheit“, [28] der prinzipiell in der Moderne möglich ist, wird aber — durch die kapitalistische Art und Weise der bisherigen Ausformung der Moderne und der darin notwendigerweise produzierten „künstlichen Knappheit“ — verunmöglicht. [29] Dieser konkrete Universalismus ist in der europäischen Theoriegeschichte zwar schon angelegt, aber nur in der „selbstkritischen Dimension der europäischen Kultur“.

Echeverría formuliert: „(...) die Sprachphilosophie Humboldts (...) suchte das allgemein-Menschliche mehr in der Fähigkeit selbst zur Symbolisierung oder ‚Kodifizierung‘ (...) als in einem bestimmten Ergebnis von einer der besonderen Symbolisierungen“. [30] An dieser Stelle wird die große Distanz zwischen Bolívar Echeverría und den Haupttendenzen der sogenannten postmodernen Theorien deutlich: Es geht ihm nicht um ein schlichtes Verwerfen des Universalismusbegriffes, sondern um eine Kritik des vorherrschenden falschen, abstrakten Universalismus, zugunsten eines „konkreten Universalismus“, der von einer Gemeinsamkeit aller Menschen und damit Möglichkeit ihres Zusammenlebens ausgeht, bei gleichzeitiger Anerkennung der unterschiedlichen Kulturen und Lebensformen, ohne diese falsch (das heißt abstrakt) universalistisch zu hierarchisieren — im Sinne von mehr oder weniger entwickelten Formen einer menschlichen Allgemeinkultur, die selbstredend immer diejenige der Sieger ist.

Freilich könnte hier die Frage gestellt werden, warum Echeverría zur Kritik des falschen Universalismus (ohne in allgemeine Beliebigkeit zu verfallen) nicht Marx selbst heranzieht. Kann den eurozentrischen Interpretationen von Marxens Werk, sosehr sie auch innerhalb des Marxismus dominierend sind, nicht auch von Marx selbst her begegnet werden, wenn wir bedenken, daß seine Kritik der kapitalistischen Produktionsweise gerade auch eine Kritik der falschen Universalisierung ist, die diese zur Grundlage hat? Einerseits werden alle Menschen in der Gleichsetzung (zwecks freier Austauschbarkeit) ihrer Produkte selber gleichgesetzt, um dann doch dies zur Grundlage der größten Ungleichheit zu machen, derjenigen zwischen Eigentümern an Produktionsmitteln und denjenigen, die nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. [31]

Das Problem ist hier folgendes: So sehr Marx der Eurozentrismus auch in der „bürgerlichen Dummheit“ [32] aufstößt, so sehr sind doch er und Engels selber nicht immer davon frei, wie z.B. in den erwähnten Vorstellungen, daß Ländern wie Mexiko nichts besseres geschehen könne, als von den USA besetzt zu werden, um endlich einer gewissen (und gemeint sein kann nur „allgemein menschlichen“) Entwicklung teilhaftig werden zu können. Wie auch beim Problem des Antisemitismus liegt hier ein innerer Widerspruch in Marxens Werk vor. Von seiner Grundanlage her ist es gegenüber bürgerlich-abstrakten Gleichheitsvorstellungen äußerst kritisch, analysiert nicht nur die Verlogenheit, die sich in der bürgerlichen Gleichheitsideologie ausdrückt, sondern auch die Problematik der Gleichheitsvorstellung überhaupt (was sich auch in seinen wenigen Formulierungen zu Kommunismus ausdrückt, wo eine emanzipierte Gesellschaft gerade als die gedacht wird, wo jeder nach seinen Bedürfnissen empfängt und nach seinen Fähigkeiten gibt, womit die Idee der menschlichen Gleichheit hinfällig wird). In seinen Einzeläußerungen tauchen aber doch immer wieder bürgerliche Denkreste, unter anderem eurozentrischer Couleur, auf.

Wie beim Antisemitismus ist auch hier beachtenswert, mit welcher Zielsicherheit gewisse Teile der Linken, insbesondere der dogmatischen, gerade die bürgerlichen Denkreste, die dem Marxschen Grundansatz ankleben, wie dem geschlüpften Küken die Eischalenreste, zusammengeklaubt haben, um ihr eigenes Denken damit „marxistisch“ zu rechtfertigen. Marx war wohl doch für viele Marxisten eine Nummer zu groß, sein Denken zu radikal dem herrschenden entgegengesetzt, als daß man es nach der Lektüre eines vierzigseitigen Lehrbuchs schon hätte wirklich erfassen können, oder: war zu radikal, um außerhalb einer revolutionären Situation ohne weiteres einzuleuchten. Um aus dieser unguten Tradition auszubrechen, so unsere zweite Erklärung, versucht es Bolívar Echeverría mit der Hinzunahme anderer Theorien, zum Beispiel der Semiotik.

Kritik der realexistierenden Moderne und Kritik des realexistierenden postmodernen Denkens

Echeverrías Distanz zur sogenannten Postmoderne besteht nicht nur darin, daß er den „konkreten Universalismus“ im Unterschied zu dieser (begrifflich und letztlich auch praktisch) anstrebt, sondern auch in etwas anderem. Trotz des ersten Anscheins, den die Predigt vom Aufheben der Moderne und des damit einhergehenden Universalismus geben mag, alles sei nunmehr möglich nichts mehr verboten, „anything goes“, was einen großen Teil der Anziehungskraft dieser Tendenz ausmacht, meint Echeverría genau das Gegenteil darin zu erkennen. Da mit der Moderne auch ihre (selbst-) kritischen Aspekte, sosehr sie in dieser auch oft unterdrückt oder verschüttet gewesen sein mögen, verabschiedet werden, endet das „postmoderne Denken“ in nichts besserem als dem uralten Eurozentrismus, was auch in gewisser Weise naheliegend ist, da diese bloß in der Theorie das nachredet, was in der Realität sich tagtäglich mehr oder minder gewaltsam durchsetzt: „Es könnte gesagt werden, daß auf den ‚Niedergang der großen Erzählungen‘, in der Lyotard eine der prinzipiellen Charakteristiken dieser ‚postmodernen Verfaßtheit [condición]‘ erblickte, der real existierende postmoderne Geist immer mehr mit einem (Rück-)Fall in die großen Vorurteile antwortet.“ [33] Kurz zuvor stellt Echeverría klar, an welches Vorurteil dabei insbesondere zu denken sei, dieses ist zugleich „einer der am meisten charakteristischen Züge der realexistierenden Moderne: ihr Eurozentrismus“. [34]

Auch über den Eurozentrismus hinaus sieht Echeverría in der sogenannten Postmoderne alles andere sich anbahnen als die versprochene Aufhebung der „modernen“, durch den „abstrakten Universalismus“ gezeitigten, Widrigkeiten. Vielmehr sieht er in ihr eine zunehmende Tendenz zu etwas, was nicht nach einer anzustrebenden Überwindung der Widersprüche der „realexistierenden Moderne“ aussieht, sondern Echeverría gar zu einer vergleichenden Anspielung auf die dunkelste Institution anstachelt, die der Moderne immer als das genaue Gegenbild ihres eigenen lichterfüllten Projektes galt: die heilige Inquisition. Entgegen allem Gerede von neuer Unübersichtlichkeit, stetig wachsender Pluralität etc., diagnostiziert er eine zutiefst dogmatische Neigung in der Postmoderne, die sich insbesondere auch gegen entscheidende Schriften zur Kritik der „realexistierenden Moderne“ richtet:

Welcher Widerspruch muß insbesondere in der modernen Epoche aufgelöst werden? Wovor muß man ‘sich in Sicherheit bringen’, gegen was muß man ‘sich bewaffnen’ in der Moderne? Es ist unmöglich, darauf eine Antwort zu versuchen, ohne eines der ersten Werke zu Rate zu ziehen, das diese Moderne kritisiert (auch wenn es an erster Stelle des postmodernen und neoliberalen Index librorum prohibitorum steht): Das Kapital von Marx. [35]

Zusammenfassend könnte Echeverrías theoretisches Projekt also in Abgrenzung zu postmodernen Ansätzen folgendermaßen formuliert werden: Es geht ihm um eine radikale Kritik der „realexistierenden Moderne“, wie er sie offensichtlich in ironisierender Anspielung auf die Selbstbezeichnung des gesellschaftlichen Systems in der Sowjetunion und der von ihr abhängigen Staaten bezeichnet (deren gesellschaftliches System er als „Staatskapitalismus“ faßt, der „nichts weiter war als eine brutale Karikatur des liberalen Kapitalismus“), [36] eine Kritik die aber keine unbestimmte, abstrakte Negation, sondern eine konkrete Negation dieser realexistierenden Moderne ist. Dies ist nicht als Abflachung der Kritik der herrschenden Moderne, sondern vielmehr als Radikalisierung derselben zu verstehen. Eine Überwindung der Fehler der herrschenden Moderne ist nur möglich nach genauer Analyse ihres Inhaltes. Diese Analyse führt Echeverría aber, wie hier kurz angedeutet, zu einem doppelten Ergebnis. Demnach sind die beiden grundsätzlichen Hauptfehler der herrschenden Moderne nicht allgemein ihr Universalismus, sondern es ist zum einen der ihre „europäischen“ Maßstäbe, Traditionen, Kulturen etc. abstrakt, das heißt falsch, universalisierender Eurozentrismus, zum anderen ist die abstrakte Universalisierung der gegenwärtigen Form gesellschaftlicher Reproduktion, also der kapitalistischen, als heute einzig denkbare ebenfalls falsch und daher zu überwinden.

Daß Echeverría diese Kritiken formuliert als solche an der herrschenden Moderne, ist aber mehr als ein bloßes Wiederholen bestimmter terminologischer Modeerscheinungen. Vielmehr geht es ihm darum, die tiefe Verflochtenheit bestimmter ökonomischer Strukturen mit kulturellen Prozessen unter die Lupe zu nehmen, um damit die Schwierigkeit eines Ausbruches aus dieser Moderne zu begreifen und zugleich Ansätze zu deren möglicher Überwindung zu suchen. Er will nicht in den Fehler verfallen, den er bei Lukács zu sehen meint: Aus dessen radikaler Analyse der Schwierigkeiten bei der Bewußtseinsbildung aufgrund tief sitzender Erkenntnisprobleme in den herrschenden Verhältnissen, resultiert demnach „theoretische Hoffnungslosigkeit“, die nur noch in messianischen Rettungsvisionen überwunden werden kann. Bei Lukács, den er wegen seiner radikalen Kritik am dogmatischen Marxismus schätzt, wird das Problem der „modernen Welt“ nach Echeverría folgendermaßen gefaßt und falsch zu lösen versucht:

Die moderne Welt als Totalität, als gegenseitige Durchdringung der qualitativen oder konkreten Dynamik mit der quantitativen oder abstrakten Logik ist letztlich nicht zu durchschauen. Ihre Totalisierung könnte bloß punktuell und momenthaft sein: diejenige des Augenblicks der Revolution, diejenige der erlösenden Tat, in welcher der Proletarier, sich seine synthetisierende Tätigkeit wieder aneignend, die auf verdinglichte, abstrakte Art im Kapital fortexistierte, seine Fähigkeit zur konkreten Synthese aufs neue wiedergewinnt. [37]

Zum Terminus der „realexistierenden Moderne“

Echeverrías Ausdruck der „realexistierenden Moderne [modernidad realmente existente]“ [38] spielt eine zentrale Rolle in seiner Theorie. Es existiert neben der erwähnten augenfälligen polemisch-ironisierenden Bedeutung, die eine Anspielung auf die Sowjetunion und deren gescheiterten „Realismus“ beinhaltet – womit das übriggebliebene gesellschaftliche System auf das mögliche eigene Scheitern hingewiesen werden soll – noch eine weitere.

Dieser zweite Sinn reicht tiefer und wird im Fortgang der Diskussion des theoretischen Ansatzes von Bolívar Echeverría an Bedeutung gewinnen. Auch er ist in der Konfrontation mit dem gescheiterten Versuch in den genannten Ländern zu begreifen. So wie der dortige „realexistierende Sozialismus“ von sich behauptete, die einzige mögliche Version einer sozialistischen Gesellschaft zu sein und davon sowohl die Mehrzahl der Anhänger als auch der Gegnerinnen überzeugen konnte, so behauptet auch die realexistierende Moderne, die einzig mögliche zu sein, und überzeugt ebenfalls ihre Freunde wie Kritikerinnen. War und ist es also die Aufgabe des undogmatischen Marxismus und der undogmatischen Linken, auf der Möglichkeit einer anderen sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft als derjenigen, die sich so im Brustton der Überzeugung [39] „realexistierend“ nannte, hinzuweisen, so sieht es Echeverría als seine Aufgabe an, theoretisch die Möglichkeit und sogar – wenn auch unterdrückt, überlagert oder verdrängt – Wirklichkeit anderer Modernen aufzuzeigen. Die „realexistierende Moderne“ ist in seiner Perspektive nicht die einzige, die wirklich besteht, sondern diejenige, die dominiert und welche die Anwesenheit und Möglichkeit anderer Modernen nicht nur ungern sieht, sondern schlicht leugnet und die sie in der Praxis zurückzudrängen versucht.

Im Falle des Realsozialismus ist es sogar so, daß er nicht nur nicht die einzige Version des Sozialismus, sondern eigentlich gar keine war. Wie bereits oben erwähnt, faßt Echeverría dieses vergangene gesellschaftliche System als „Staatskapitalismus“. Wie immer man auch zu diesem Begriff stehen mag, bleibt klar, daß er es nicht als Sozialismus faßt. An anderer Stelle drückt er dies in einer Suggestivfrage folgendermaßen aus: „Oder bestand (...) der Realsozialismus in einer systematischen Repression derselben [der revolutionären (marxistischen) Version des Sozialismus] und bedeutet sein heutiges débâcle für diese eine Befreiung?“ [40]

Insofern kann wohl Echeverrías Formulierung von der „realexistierenden Moderne“ auch so interpretiert werden, daß der Ausdruck der „Realexistenz“ nicht nur die Möglichkeit anderer Existenzformen verschleiern soll oder verschleiert, sondern die „Realexistenz“ in Abgrenzung zur Wirklichkeit (im Hegelschen Sinne) zu verstehen ist. Oder anders gesagt: Könnte der Begriff der „Realexistenz“ nur die momentane Erscheinungsform einer Sache beschreiben und nicht die in ihr enthaltenen Entwicklungsmöglichkeiten?

Für diese, weit über das explizit in den Texten unseres Autors hinausgehende, Interpretation des Begriffs der real existierenden Moderne spricht der Umstand, daß er – wie oben dargestellt – als ein wichtiges Merkmal der heutigen, dominierenden Moderne deren falschen, abstrakten Universalismus erblickt und dagegen die Möglichkeit eines konkreten Universalismus setzt. Diese Begrifflichkeiten erinnern ebenso an Hegels Philosophie, in der gleichfalls die gegenwärtige Erscheinung einer Sache als abstrakt bleibend und dagegen ihre Wirklichkeit – im genannten Sinne – als konkret begriffen wird. Weiter spricht für diese „hegelianisierende Interpretation“ von Echeverrías Begrifflichkeit folgender expliziter Bezug des ekuadorianisch-mexikanischen auf den schwäbisch-preußischen Philosophen: „(...) um wirklich eine zu sein, muß die Revolution, eine, wie Hegel es ausdrückte, ‚bestimmte Negation‘ des Existierenden sein“. [41]

Hier wird ganz offensichtlich, daß Echeverría den Anspruch hat, an die dialektische Methode Hegels anzuknüpfen, was unsere gegebene Deutung des Begriffs der Realexistenz bei Bolívar Echeverría als gegenständliche Erscheinung stützt. Die bestimmte Negation des abstrakten Universalismus ist dann in seiner Terminologie das Anstreben eines konkreten Universalismus, und die unbestimmte Negation ist das naive postmoderne Verwerfen allen Universalismus’, mit der leichtgläubigen Vorstellung, damit das schwierige Problem der Versöhnung von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem auf immer gelöst zu haben. [42]

Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Moderne-Diskussion. Wird die „realexistierende Moderne“ als bloße momentane Erscheinungsform der wirklichen Moderne gefaßt, dann heißt dies, daß diese in sich Entwicklungsmöglichkeiten trägt, die bis heute nicht genutzt wurden. Dabei ist aber nicht zu vergessen, daß wir hier versuchen, den dialektischen Gehalt in Echeverrías Denken herauszuarbeiten. Wenn ein Ausschöpfen der Entwicklungsmöglichkeiten der wirklichen Moderne theoretisch wie praktisch angestrebt wird, so bedeutet dies nicht, daß die heutige Moderne (oder wie Echeverría auch sagt, Modernen) ein „unvollendetes Projekt“ ist (sind) und diese nur noch etwas weiter, Schritt für Schritt, zu ihrer Vollendung getrieben werden muß (müssen). Es kann durchaus sein, daß der Übergang von der abstrakten Erscheinungsform einer Sache zu ihrer Verwirklichung im Hegelschen Sinne durch große Brüche hindurchgehen muß. Diese Brüche mögen sogar so groß sein, daß man sie, ohne zu übertreiben, als Revolution bezeichnen kann.

Aber, und das ist entscheidend für den Ansatz Bolívar Echeverrías, so tief diese Brüche auch sein mögen, so können sie doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen dem was vor und dem was nach ihnen liegt. Die abstrakte, „realexistierende“ Moderne ist einerseits weit entfernt, durch einen tiefen, schier unüberwindbaren Abgrund geschieden von der konkreten, wirklichen Moderne (wo also die alten modernen Postulate verwirklicht sind) und zugleich ist sie der einzige handgreifliche Hinweis, die einzige materielle Basis, die es gibt für diese „wirkliche Moderne“. So ist das Ende des gerade zitierten Satzes Echeverrías über Hegel (im Zusammenhang mit dem oben zitierten ersten Teil) zu verstehen: „(...) um wirklich eine zu sein, muß die Revolution, eine, wie Hegel es ausdrückte, ‚bestimmte Negation‘ des Existierenden sein, dem was sie negiert verpflichtet, von ihm abhängig im Hinblick auf ihren konkreten Veränderungsentwurf.“ [43]

Aus dem dialektischen Verhältnis der momentanen Erscheinungsformen der Moderne zu ihrer anzustrebenden, prinzipiell möglichen Wirklichkeit (im obigen Sinne), das nach dem Skizzierten – verkürzt gesagt – in der Einheit von Kontinuität und Bruch besteht, kann auch das widersprüchliche Verhältnis von Reform und Revolution verstanden werden, womit wir endgültig von der ausholenden Interpretation [44] wieder auf den Boden des Originaltextes zurückkehren. An verschiedenen Stellen seines Gesamtwerkes macht Echeverría Bemerkungen zum Verhältnis von Reform und Revolution, die alle in die soeben skizzierte Richtung weisen und das Verständnis von Echeverrías Konzeption der realexistierenden und der anzustrebenden (wirklichen) Moderne und ihrem Verhältnis zueinander von dieser Blickrichtung her beleuchten können. So z.B. im zuletzt mehrfach zitierten Text A la izquierda [An die Linke]:

Es ist richtig, daß es keine Kontinuität zwischen dem revolutionären Ausweg und der reformistischen Lösung gibt. Wie es Rosa Luxemburg beliebte wiederholt zu sagen, ist die Revolution keine beschleunigte Zuspitzung von Reformen wie auch die Reform keine dosierte Revolution ist. (...) Aber trotz allem, auch wenn sie völlig unterschiedlich – sogar feindlich entgegengesetzt – sind, brauchen sich doch die revolutionäre und die reformistische Perspektive gegenseitig innerhalb des politischen Horizonts der Linken. [45]

Im Text Postmoderne und Zynismus äußert sich Echeverría folgendermaßen zur gleichen Thematik:

Wenn eine politische Theorie, die vom Begriff der ‘Verdinglichung’ ausgeht, akzeptiert, daß es die Möglichkeit einer Politik innerhalb der Entfremdung gibt, daß die Gesellschaft – auch wenn ihrer möglichen Souveränität beraubt – weder politisch demobilisiert oder gelähmt noch dazu verurteilt ist, den messianischen Moment zu erwarten, in dem ihr ihre Freiheit zurückgegeben wird, so besteht das Problem darin, die Kontaktpunkte zu bestimmen, an denen sich die reformistische Suche nach einem demokratischen Spiel, das sich für die Verwandlung der Interessen der Bevölkerung in den Willen der Staatsbürger eignet, berührt mit der revolutionären Suche nach einer substantiellen Erweiterung der Skala, innerhalb derer die Gesellschaft fähig ist, Entscheidungen über ihre eigene Geschichte zu treffen. [46]

Dem geneigten Leser, der geneigten Leserin mögen diese Ausführungen etwas reformistisch erscheinen, jedoch sind sie im gegenwärtigen mexikanischen Kontext eher das Gegenteil und sind durch den Aufstand der Zapatisten, der zu einem nicht unwichtigen Teil deshalb die völlige militärische Gewalt der mexikanischen Bundesarmee im Moment nicht zu spüren bekommt, weil reformistische Kräfte mit den ihnen eigenen Methoden dagegen protestieren und vorgehen, – zumindest aus jetziger Sicht – bestätigt worden. [47] Allerdings muß hier angefügt werden, daß der Umstand, daß Echeverrías politische Positionen, die sich mit dem theoretischen Werk durchaus in einem kongruenten Verhältnis befinden, im gegenwärtigen Kontext des Landes, in dem sie entwickelt werden, zu den kritischsten gehören, die es gibt, noch nicht unbedingt bedeuten muß, daß seine Theorie auch über jeder weitergehenden Kritik steht. Eine solche Sichtweise seines theoretischen Werkes dürfte auch dem Autor selbst nicht gefallen, [48] da er doch immer wieder auf die Notwendigkeit kritischen Denkens hinweist.

Die realexistierenden Modernen als Grundlage der wirklichen, der nicht-kapitalistischen

Versuchen wir nunmehr den Kreis zu schließen. Wie gezeigt wurde, sind die realexistierenden Modernen notwendigerweise die Grundlage für eine andere, nicht-kapitalistische Moderne. Um also die erwähnte notwendige bestimmte Negation der kapitalistischen Moderne oder Modernen auf theoretischem Gebiet voranzutreiben, bedarf es einer genauer Analyse dieser bestehenden Modernen mit dem Versuch, dabei ein Auge auf das zu werfen, was auf keinen Fall in eine nicht-kapitalistische Moderne mit hinüber gerettet werden soll und das, was erste Anknüpfungspunkte für diese andere, wirkliche, konkrete Moderne sein könnten. Dieser letzte Punkt ist nicht als philosophische Spekulation zu verstehen, sondern als materialistische Suche nach Elementen, die in der kapitalistischen Moderne existieren, obwohl sie nicht ganz in deren destruktive Haupttendenz passen. Der konkreten Suche nach diesen Elementen geht bei Echeverría die Entwicklung einer Methode zu ihrer Suche voran.

Diese Methode findet sich in dem beschriebenen Versuch, die Marxsche Analyse der kapitalistischen Reproduktion durch Erkenntnisse der Semiotik zu bereichern. Über diese Methode kommt Echeverría sodann zu der Analyse der verschiedenen gegenwärtigen kapitalistischen Modernen, die trotz des „Alleinvertretungsanspruchs“ für „das Moderne“ seitens einer ihrer Varianten mit ihr koexistieren. Zu diesem Zwecke führt er den Begriff des modernen Ethos oder genauer gesagt der modernen Ethen ein. (Auf welche ich aus Platzgründen hier nicht näher eingehen kann.)

An dieser Stelle ist nochmals auf die Verbindung von Echeverría und Hegel einzugehen, wobei auch Walter Benjamin ins Spiel kommt, um endgültig klarzumachen, daß diese Verbindung vor allem im kritischen Impuls präsent ist, der sich bei Echeverría unter anderem gegen das positivistische Element stellt, welches im Eurozentrismus jeder politischer Couleur enthalten ist. [49] Das nach Echeverría dominierende Ethos ist das „realistische“. Diese Bezeichnung hat etwas äußerst ironisch-polemisches und erinnert somit nicht ohne Grund an den diskutierten Terminus der „realexistierenden Moderne“. Echeverría geht es bei seiner Kritik dieses dominierenden Ethos zugleich um die oben angedeutete einer angsterstarrten Fixierung auf das „Faktische“, das naiv gleichgesetzt wird mit dem „einzig Wirklichen“, im Sinne von „einzig wirklich Möglichen“. Es geht ihm darum, „den Respekt vor dem Faktischen zu verlieren“, wobei immer bedacht werden muß, das Echeverría mit dem „Faktischen“ die kapitalistische Moderne meint, mit dem Eurozentrismus als einem Hauptgesichtszug. Dieser Eurozentrismus ist nicht nur zu verwerfen, weil er in Vergangenheit und Gegenwart untrennbar mit unsäglichem Leid in den sogenannten unterentwickelten Ländern einher ging und geht, sondern auch, weil er den Zugriff auf mögliche Hinweise auf andere Formen die Moderne zu gestalten verstellt. Um diese anderen Möglichkeiten, die in versteckten „Narben“ der Geschichte bei ganz genauem Hinsehen oder Betasten wahrgenommen werden können, trotz der vorherrschenden eilfertigen ethnozentristischen Ignoranz nicht völlig zu übergehen, ist es notwendig, „den Rücken der historische Kontinuität (...) gegen den Strich“ zu betasten oder zu betrachten, wie es Echeverría offensichtlich in Anspielung auf die oben erwähnte Formulierung Walter Benjamins ausdrückt.

Der Rücken der historischen Kontinuität bietet dem Tastsinn und dem Blick eine tadellose Linie; aber er verbirgt Narben, Reste von verstümmelten Gliedmaßen und sogar noch blutende Wunden, die sich nur zeigen, wenn die Hand oder der Blick, die über ihn fahren, dies gegen den Strich tun. Es ist daher angeraten, den Respekt vor dem Faktischen zu verlieren; an derjenigen Rationalität zu zweifeln, die sich vor der ‘realexistierenden Welt’, nicht nur als der besten (angesichts ihrer Realität), sondern auch als der einzigen möglichen Welt, verbeugt, und in eine andere, eine weniger ‘realistische’ und offiziöse, die nicht mit der Freiheit in Zwietracht steht, zu vertrauen. Es ist angebracht aufzuzeigen, daß dasjenige, was ist, nicht mehr ‘Existenzrecht’ hat als dasjenige, was noch nicht war, aber sein könnte; daß im Untergrund des etablierten Projekts der Moderne die Möglichkeiten für ein alternatives (...) Projekt noch nicht versiegt sind. [50]

Die Methode aber, um diese „im Untergrund des etablierten Projekts der Moderne“ verborgenen „Möglichkeiten für ein alternatives (...) Projekt“, eine andere, nicht-kapitalistische Moderne zu entdecken, ist genau diejenige der zuvor beschriebenen vergleichenden Untersuchung von Gebrauchswert und Zeichen. Zu diesem Thema ist nochmals festzuhalten, daß durch die Einführung der semiotischen Methode in Gebiete, die gewöhnlich der Ökonomie oder den Gesellschaftswissenschaften vorbehalten sind, Echeverría es mitnichten darum geht, die Bedeutung der Sprache zu überhöhen, sondern vielmehr, das gesamte gesellschaftliche Leben als ein durch eine komplexe Verbindung verschiedener Zeichensysteme mit ermöglichtes zu begreifen, wobei das grundlegende, oder wie Marx sagen würde, die Basis, das Zeichensystem ist, das in der Produktion und Konsumtion von Gebrauchswerten, der Naturalform der gesellschaftlichen Reproduktion, seinen Ort hat. Diese Zeichensysteme sind untereinander höchst unterschiedlich, doch zugleich sind zwischen ihnen keine unüberwindbaren Grenzen gesetzt, und es gibt auch keinerlei Grund, auf eine vorgebliche „Reinheit“ derselben bedacht zu sein. Im Gegenteil, es ist vielmehr die gemeinsame Fähigkeit aller Menschen zur Zeichengebung (bzw. zur Entwicklung von Zeichensystemen oder Sprachen, langues), das Sprachvermögen im weiten Sinne Saussures, die langage, die prinzipiell eine Verständigung unter allen möglich macht und eine Verbindung, Kombination, Vermischung und gegenseitige Bereicherung u.s.w. der verschiedenen Zeichensysteme – und das heißt für Echeverría letztlich: materielle Kulturen – untereinander ermöglicht.

Echeverría nennt einen bestimmten Teilaspekt dieser Zeichensysteme, welcher die Alltagsorganisation und Reproduktion überhaupt erst ermöglicht, „Ethos“. In seiner Theorie wird diese Suche nach den „verborgenen Möglichkeiten“ darauf stoßen, daß eines der vier von Echeverría ausgemachten „Ethen“ der kapitalistischen Moderne, und zwar das in Lateinamerika vorhandene „barocke Ethos“, sich unter anderem dadurch positiv von den anderen abhebt, daß die gegenseitige Bereicherung von solchen gesellschaftlichen Zeichensystemen (bei denen wie gesagt ein Hauptaspekt die Gebrauchswertproduktion und -konsumtion ist) mit ihm in besonders hohem Maße historisch verbunden ist. Bei der Diskussion dieses „barocken Ethos“ sollte dann endgültig klar werden, warum Echeverría sich um die Verbindung von Marx und Semiotik bemüht. Diese Verbindung, dies sollte hier zum Schluß deutlich geworden sein, ist notwendig, um die Begrenztheiten, die Echeverría im Marxschen Begriff des Gebrauchswertes ausgemacht hat, zu überwinden, oder zumindest um dies zu versuchen – nicht, um noch einen Begriff mehr in die akademische Diskussion zu werfen, sondern um Marx ein für alle Mal einem der dunkelsten Aspekte der bisherigen Moderne zu entreißen und ihm zugleich entgegen zu schleudern: ihrem Eurozentrismus.

[1Echeverría stützt sich auf folgende Texte: Roman Jakobson, Closing statement. Linguistics and Poetics, in: Style and language. New York: Wiley, 1960. S. 353ff.; ders., Two Aspects of Languages and Two Types of Aphasic Disturbances, in: ders., Selected Writings, II: World and Language, ‘s‑Gravenhage, 1971, S. 243 und: Louis Hjelmslev, La stratification du langage, in: ders., Essais linguistiques, Paris 1971, S.55. (Vgl. Bolívar Echeverría, La “forma natural” de la reproducción social. In: Cuadernos Políticos, México, D.F.,0 Juli – Dez. 1984, Nr. 41, S. 33-46, hier: S. 40-42.)

[2Interview des Verfassers mit Bolívar Echeverría, 11. September 1996, Mexiko-Stadt.

[3Bolívar Echeverría, La “forma natural” de la reproducción social, a.a.O. S. 45. Echeverría bezieht sich hier auf Nikolaj S. Trubetzkoy, Principes de Phonologie, Paris: Klincksieck, 1970. S. 38.

[4„La linguistique n’est qu’une partie de cette science générale, les lois que découvrira la sémiologie seront applicables à la linguistique, et celle-ci se trouvera ainsi rattachée à un domaine bien défini dans l’ensemble des faits humains.“ (Saussure, Ferdinand de, Cours de linguistique générale. Paris: Payot, 1979, S. 33.)

[5Vgl.: „Pour nous (...), le problème linguistique est avant tout sémiologique, et tous nos développements empruntent leur signification à ce fait important. Si l’on veut découvrir la véritable nature de la langue, il faut la prendre d’abord dans que ce qu’elle a de commun avec tous les autres systèmes du même ordre.“ (Ebd. 34f.)

[6„On peut donc concevoir une science qui étudie la vie des signes au sein de la vie sociale; elle formerait une partie de la psychologie sociale, et par conséquent de la psychologie générale; nous la nommerons sémiologie (du grec sēmeîon, ‚signe‘).“ (Ebd. S. 33.)

[7Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin : Walter de Gruyter, 1967, § 2. Orig.: „On peut donc dire que les signes entièrement arbitraires réalisent mieux que les autres l’idéal du procédé sémiologique; c’est pourquoi la langue, le plus complexe et le plus répandu des systèmes d’expression, est aussi le plus caractéristique de tous; en ce sens la linguistique peut devenir le patron général de toute sémiologie, bien que la langue ne soit qu’un système particulier.“ (Saussure, Cours de linguistique générale, a.a.O. S. 101.)

[8Karl Marx, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie. In: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke. Band 13. Berlin (DDR): Dietz, 1985. S. 615-642, hier: S. 636.

[9Bolívar Echeverría, La “forma natural” de la reproducción social, a.a.O. S. 42. Echeverría weist an dieser Stelle auf folgende Schrift hin: A. Leroi-Gourhan, Le geste et la parole, I: Technique et langage, Paris: A. Michel, 1964. S. 163.

[10Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Nach der vierten, von Friedrich Engels durchgesehenen und herausgegebenen Auflage (Hamburg 1890): Karl Marx, Friedrich Engels. Werke, Band 23, Berlin (DDR): Dietz, 1975, Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Nach der vierten, von Friedrich Engels durchgesehenen und herausgegebenen Auflage (Hamburg 1890): Karl Marx, Friedrich Engels. Werke, Band 23, Berlin (DDR): Dietz, 1975, S. 100f.

[11Bolívar Echeverría, La “forma natural” de la reproducción social, a.a.O. S. 34, Note 4. Der zitierte Satz geht weiter: „(eine Gleichsetzung, S.G.) welche K. Korsch 1950 (...) dazu brachte, das Thema der Ungeeignetheit des marxistischen Diskurses für die Erfordernisse der neuen historischen Gestalt der Revolution in Bezug auf die zweite Hälfte des Jahrhunderts neu aufzuwerfen, ein Thema, das in den siebziger Jahren vulgarisiert wurde.“ (Ebd. Echeverría bezieht sich hier auf folgenden Text von Karl Korsch: 10 Thesen über Marxismus heute, in: Alternative, Nr.41, Berlin (West) 1965.)

[12Hierin unterscheidet sich Echeverría – trotz aller Parallelen – von den Autoren des westlichen Marxismus und der diesen aufgreifenden Frankfurter Schule. So wird zum Beispiel in der Kritik und Analyse der Dialektik der Aufklärung zwar erwähnt, daß darin in der Hauptsache die „europäische Zivilisation“ Gegenstand der Untersuchung ist, doch wird deren ethnozentristischer Charakter nicht thematisiert. (Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften hrsg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 5: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940-1950, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main: Fischer, 1987, S. 35.)

[13Bolívar Echeverría, La “forma natural” de la reproducción social, a.a.O. S. 35, Note 4.

[14Karl Marx, Das Kapital, Bd.I, a.a.O. S. 49f.

[15Bolívar Echeverría, La “forma natural” de la reproducción social, a.a.O. S. 97.

[16Echeverría bezieht sich hier auf folgenden Text Walter Benjamins: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: ders., Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1966. S. 9-26, hier: S. 10 f. (Vgl.: Bolívar Echeverría, La “forma natural” de la reproducción social, a.a.O. S. 44, Note 31.)

[17Bolívar Echeverría, La “forma natural” de la reproducción social, a.a.O. S. 44. Vgl. auch: Bolívar Echeverría, La identidad evanescente, in: ders., Las ilusiones de la modernidad, México, D.F.: UNAM und Ed. El Equilibrista, 1995, S. 55-74, insb. S. 60.)

[18Für den Produktionsprozeß formuliert Marx diesen Unterschied zwischen Tier und Menschen in der folgenden berühmten Passage: „ Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.“ (Karl Marx, Das Kapital, Bd.I, a.a.O. S. 193.)

[19Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., § 2.3. Orig : „Dès lors la langue n’est pas libre, parce que le temps permettra aux forces sociales s’exerçant sur elle de développer leurs effets, et on arrive au principe de continuité, qui annule la liberté. Mais la continuité implique nécessairement l’altération, le déplacement plus ou moins considérable des rapports.“ (Saussure, Cours de linguistique générale, a.a.O. S. 113.)

[20Vgl.: „Von den Mitteln, die in die produktive Konsumtion eingehen, gibt es einige, die dieser ausschließlich einen Formgebungshinweis angedeihen lassen: die Rohmaterialien oder Arbeitsgegenstände; es gibt dagegen andere, die der Arbeit selbst eine Vielzahl von Formgebungsmöglichkeiten darbieten, unter denen diese aussuchen kann um die Rohmaterialien zu verändern: die Werkzeuge. (Bolívar Echeverría, La „forma natural“ de la reproducción social, a.a.O. S. 40f., Hervorhebung S.G.)

[21Ebd. S. 41. Echeverría bezieht sich hier auf folgende Passage im Kapital: „Die lebendige Arbeit muß diese ergreifen, sie von den Toten erwecken, sie aus nur möglichen in wirkliche und wirkende Gebrauchswerte verwandeln.“ (Karl Marx, Das Kapital, Bd.I, a.a.O. S. 198.)

[22Bolívar Echeverría, El problema de la nación desde la „Crítica de la economía política“, in: ders., El discurso crítico de Marx, . México, D.F.: Era, 1986, S. 179-195, hier: S. 192f.

[23Interview des Verfassers mit Bolívar Echeverría, 11. September 1996, Mexiko-Stadt.

[24„Das Weißbrot schmeckt eben besser“, heißt es, was auch irgendwie stimmt, vieles schmeckt besser in der Nähe der Herrschenden.

[25Der Umstand, daß verschiedenste politische Tendenzen den „Nationalismus“ auf ihre Fahnen geschrieben haben, ändert nichts an ihrer Nachahmung der Politikmuster aus der sogenannten Ersten Welt. Der Nationalismus selbst ist eine typisch europäische Erfindung.

[26Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., § 2. Orig. : „les différences entre les langues et l’existence même de langues différentes“. (Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale, a.a.O. S. 100.)

[27Dieses so „plural“ scheinende Argument ist beizeiten die Grundlage für das, was die neuere Rassimusforschung den differenziellen Rassismus nennt. (Vgl.: Jost Müller, Rassismus und die Fallstricke des gewöhnlichen Antirassismuss. In: diskus. Frankfurter StudentInnenzeitung, Frankfurt am Main, Mai 1990, Jg. 39, Nr. 2, S. 38-45.)

[28Bolívar Echeverría, La identidad evanescente, a.a.O. S. 59.

[29Ebd. Echeverría bezieht sich hier explizit auf Marx und schreibt z.B.: „aus einem Werkzeug des Überflusses, wird die technische Revolution in den Händen des Kapitalismus zu einer Erzeugerin von Knappheit.“ (Ebd.) Dies ist notwendig zum Erhalt der kapitalistischen Produktionsweise, da diese nur auf der Ausbeutung fremder Arbeit basierend funktioniert und diese wiederum einer (allgemeinen) Knappheit bedarf, die nach Marx, dem ihn darin folgenden Echeverría und anderen seriösen Ökonomen unter modernen technischen Bedingungen nur noch künstlich zu gewährleisten ist. (Vgl. ebd.) Vgl. dazu Karl Marx, Das Kapital, Bd.I, a.a.O. z.B.: 13. Kapitel: Maschinerie und große Industrie.

[30Bolívar Echeverría, La identidad evanescente, a.a.O. S. 57.

[31Vgl.: „Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. (...) Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (Karl Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei. In: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke, Band 19, Berlin (DDR): Dietz, 1969. S. 15-32.)

[32Vgl.: „Bentham macht kein Federlesens. Mit der naivsten Trockenheit unterstellt er den modernen Spießbürger, speziell den englischen Spießbürger, als den Normalmenschen. Was diesem Kauz von Normalmensch und seiner Welt nützlich, ist an und für sich nützlich. An diesem Maßstab beurteilt er dann die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ (Karl Marx, Das Kapital, Bd.I, a.a.O. S. 636 und S. 637, Note 63.)

[33Bolívar Echeverría, La identidad evanescente, a.a.O. S. 63.

[34Ebd. S.62. Siehe: „Die Postmoderne ist über die Unmöglichkeit gestolpert, einen der charakteristischsten Züge der realexistierenden Moderne in Frage zu stellen: ihr Eurozentrismus – und die dadurch verursachte Kraftanstrengung erschöpft die Postmoderne und macht sie liederlich.“ (Ebd.)

[35Bolívar Echeverría, El Ethos Barroco, in: ders. (Hrsg.), Modernidad, mestizaje cultural, ethos barroco. México, D.F. UNAM und El Equilibrista, 1994, S. 13-36, hier: S. 18. Hervorhebungen nach Originaltext.

[36Ebd. S.16. Die Frage, ob der Begriff des „Staatskapitalismus“ nicht eine „contradictio in adjecto“ ist, wie es beispielsweise Franz Neumann im Rahmen von Diskussionen um den Nationalsozialismus darlegt, ist bei anderer Gelegenheit zu thematisieren. „Der Begriff des Staatskapitalismus selbst ist eine contradictio in adjecto“ sagt Neumann und fährt Rudolf Hilferding zitierend fort: „‚Der Begriff des Staatskapitalismus ist unter ökonomischen Gesichtspunkt zur Analyse ungeeignet. Wenn der Staat einmal zum einzigen Eigentümer der Produktionsmittel wurde, kann eine kapitalistische Ökonomie nicht mehr funktionieren, da gerade der Mechanismus beseitigt wurde, der den ökonomischen Zirkulationsprozeß aufrecht erhält.‘ Ein solcher Staat ist deshalb nicht mehr kapitalistisch. Er mag als Sklavenstaat, als Diktatur der Manager, oder als das System des bürokratischen Kollektivismus bezeichnet werden – das heißt, er muß mit politischen, nicht aber mit ökonomischen Kategorien beschrieben werden.“ (Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Übers. Hedda Wagner und Gert Schäfer, Frankfurt am Main: Fischer, 1988. (Deutsche Erstauflage Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1977. Titel des us-amerikanischen Originals: Behemoth. New York 1942, erweiterte Fassung 1944.) S. 274f. Neumann zitiert hier Hilferding nach: Dwight Macdonald, The End of Capitalism in Germany, in: Partisan review, Mai – Juni 1941, S. 198-220, hier: S. 213.)

[37Bolívar Echeverría, Lukács y la revolución como salvación, In: ders., Las ilusiones de la modernidad, a.a.O. S. 97-110, hier: S. 109. Eine frühere Version dieses Textes hielt Echeverría auf einem internationalen Lukács-Symposium in Mexiko Stadt, der in einer Sammlung der Vorträge der Veranstaltung veröffentlicht wurde: El concepto de fetichismo en Marx y Lukács. In: Gabriela Borja Sarmiento (Hrsg.): Memoria del Simposio internacional György Lukács y su época. México, D.F.: Universidad Autónoma Metropolitana – Xochimilco, Departamento de Política y Cultura, 1988, S. 209-222. Auf Lukács’ Interpretation des Marxschen Fetischbegriffs und Echeverrías Kritik an Lukács gehen wir im Kapitel Ethos und Ideologie näher ein.

[38Bolívar Echeverría, La identidad evanescente, a.a.O. S. 62, und: ders., Modernidad y capitalismo, in: ders., Las ilusiones de la modernidad, a.a.O. S. 143. Daneben spricht Echeverría des öfteren im Zusammenhang mit der kapitalistischen Moderne von „der ‘realexistierenden’ Welt [el mundo ‘realmente existente’]“ (ebd. S.144 und S.164). An anderer Stelle spricht Echeverría vom „espíritu postmoderno realmente existente“, dem „real existierenden postmodernen Geist“ (ders., La identidad evanescente, a.a.O. S. 63).

[39Wobei natürlich der Selbstzweifel in der Verdopplung, die der Ausdruck in sich birgt schon enthalten ist. Welche Realität ist nicht existent und welche Existenz nicht real? Auf mögliche philosophische Differenzierungen dieses Begriffs bezieht sich dieser propagandistische Terminus technicus sicherlich nicht.

[40Bolívar Echeverría, A la izquierda, in: ders., Las ilusiones de la modernidad, a.a.O. S. 25-37, hier: S. 35.

[41Bolívar Echeverría, A la izquierda, a.a.O. S. 37. Auch im diskutierten Text La „forma natural“ de la reproducción social macht Bolívar Echeverría eine affirmative Bezugnahme auf: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Zweiter Teil, Die Naturphilosophie. Auf Grundlage der Werke von 1832-1845 neu editierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Band 9 der Werke in 20 Bänden. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, §§ 255-259, S. 44-55. (Bolívar Echeverría, La „forma natural“ de la reproducción social, a.a.O. S. 35, Note 6.) Eines der wenigen Marx-Zitate, das Echeverría in diesen Text integriert, verweist durch die synonyme Verwendung der Ausdrücke „wirklich“ und „wirkend“ auf Hegels Wirklichkeitsbegriff.

[42Viele „postmoderne“ Denker übersehen dabei, daß der Universalismus nicht aus den Köpfen der Philosophen sondern der Wirklichkeit selbst stammt. In den herrschenden Verhältnissen ist die Gleichsetzung aller menschlichen Arbeitskräfte konstitutive, unhintergehbare Bedingung, die offensichtlich eine reale universalistische (im Sinne eines abstrakten Universalismus) Setzung ist. Daß damit die Differenzen der Menschen praktisch geleugnet werden, ist nicht zu übersehen, doch liegt es nicht in der Verantwortung der Theorie, die darauf reflektiert. Der Universalismus und seine zum Teil niederträchtigen Folgen sind letztlich nur in der Praxis selbst abzuschaffen, das heißt, durch die Herstellung einer Gesellschaft in der die Freiheit der Menschen garantiert ist ohne des bürgerlichen realen und begrifflichen Konstrukts der Gleichheit zu bedürfen. Daß bedeutende Teile der Linken in dem Moment, als die bürgerliche Gesellschaft sich selbst nicht mehr glaubte und die Gleichheit nur noch als kapitalistische „Gleichheit der Exploitationsbedingungen“ faßte, dieses Motto auf die eigenen Fahnen schrieb, ändert nichts an der (theoretischen) Problemlage.

[43Bolívar Echeverría, A la izquierda, a.a.O. S. 37, Hervorhebung S.G.

[44Die Notwendigkeit solch „ausholender“ Interpretationen ist dem Umstand geschuldet, daß Echeverrías Werk auf den ersten Blick bisweilen etwas dunkel bleibt und einer weitreichenden Interpretation bedarf, um greifbar zu werden.

[45Ebd. S. 36.

[46Bolívar Echeverría, Postmoderne und Zynismus, Übers. Stefan Gandler. In: Die Beute. Politik und Verbrechen. Berlin, Herbst 1996, Nr. 11, S. 80-94, hier: S. 94.

[47Als praktisches Werkzeug zum einfacheren Finden der „Kontakpunkte“ von reformistischer und revolutionärer Politik schlägt Echeverría die Fähigkeit zur Selbstironie und eine kritischere Haltung gegenüber dem „Geist der Ernsthaftigkeit“ (im Sinne von Humorlosigkeit) vor, da dieser zu Dogmatismus und Zensur führe: „(...) es gibt etwas, das die beiden verfeindeten Brüder, die die Linke bilden, lernen könnten: wenige Dinge sind heilsamer als etwas Ironie auf die eigene Sicherheit zu kippen. Der Geist der Ernsthaftigkeit, der dazu führt, zu absolutieren und zu dogmatisieren, seien es die revolutionären oder die reformistischen Wahrheiten, führt auch zur Notwendigkeit der Zensur, der Diskriminierung und der Unterdrückung der einen durch die anderen.“ (Bolívar Echeverría, A la izquierda, a.a.O. S. 37.)

[48Echeverría berichtete, in Gesprächen mit dem Verfasser wie sehr es ihn abstieß, als eine bestimmte Gruppe an der Universidad Nacional Autónoma de México versuchte, ihn zu ihrem theoretischen „Guru“ zu machen.

[49Selbstredend findet sich diese positivistische Festschreibung eurozentrischer Stereotypen und Realitäten auch im Hegelschen Werk, wie es sich überhaupt im Werk fast aller (auch der kritischsten und dialektischsten) Geister der sogenannten Ersten Welt findet, denn – so würde ihnen Brechts Seeräuberjenny (wenn sie an Echeverrías Stelle wäre) lächelnd entgegen, wenn sie lachen darüber, daß ausgerechnet aus dem letzten Winkel der real aufgeteilten Erde ein praktischer Ansatz und die zugehörige Reflexion auf diesen zu einer anderen Moderne kommen soll – sie wissen nicht, mit wem sie reden.

[50Bolívar Echeverría, Modernidad y capitalismo, a.a.O. S. 143f.

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