Streifzüge, Heft 30
März
2004

Zwischen den Zähnen

Kant und der Kannibale: „Kritik der praktischen Vernunft“ als Praxis

In der Rechtstheorie ist das Muster seit langem geläufig, nach dem sich von der Ausnahme Grundlegendes für den Normfall ablesen lässt. Die Taten des Armin Meiwes, bekannt als „Kannibale von Rotenburg“, sind eine solche Ausnahme. Am 30. Januar wurde er wegen Totschlags zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Stein des Anstoßes, sein Kannibalismus, war nicht justitiabel. Wer über den Hinweis auf die Gesetzeslücke hinausgeht, begibt sich auf ein grundlegendes Feld der Rechtstheorie, das entscheidend von Immanuel Kant geprägt wurde. Kants Schriften gelten gemeinhin als Formulierung einer modernen Moral. Gleichzeitig analysieren sie aber die moderne Konstitution des Rechts. Sie lassen sich als Beschreibung eines Ausnahmezustandes charakterisieren – der „Selbstbestimmung des freien Willens“ –, der notwendig ein, gelinde gesagt, widersprüchliches Verhältnis zur Körperlichkeit hat. Womit sich der Kreis zu Meiwes und seinem „Opfer“ – einem Ingenieur aus Berlin – schließt. In der Beziehung der beiden manifestierte sich der Widerspruch von „freier“ Willensentscheidung und (grenzenloser) Verfügbarkeit über den menschlichen Körper. Der bürgerliche Alltagsverstand weist in der Regel jeden Einwand gegen die Freiheit seiner Willensäußerung als unzulässigen Eingriff in seine Selbstbestimmung zurück. Dass jeder über sein Leben selbst entscheiden könne, ohne Einmischung eines anderen oder des Staates, ist schließlich Inbegriff moderner Selbstverwirklichung. Jeder muss seinen Weg gehen. Warum nicht – als Ausdruck höchster Individualität sozusagen – auch „zwischen den Zähnen (eines anderen) hindurch“, wie es der Verspeiste gegenüber Meiwes ausdrückte? Die freie Selbstbestimmung führt zwar u. a. dazu, dass sich moderne Menschen mit oder ohne Gummiseil von Türmen stürzen; wenn aber einer von ihnen beschließt, seinen Leib schlachten und ausnehmen zu lassen, so befällt die bürgerliche Öffentlichkeit eine gewisse Unsicherheit. Wie bestimmt nun die philosophische Koryphäe und unumstrittene Instanz westlicher Aufklärung das Verhältnis des „freien“ Willens zur leiblichen und sinnlichen Existenz? Gesellschaftliche Geltung, dies macht Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ unmissverständlich deutlich, kann eine Person allein als Träger des „freien“ Willens beanspruchen. Die Quintessenz der (praktischen) Vernunft, der so genannte „gute Wille“ oder die „Würde eines vernünftigen Wesens“, besteht in der abstrakten Selbstbestimmung, unabhängig vom konkreten Inhalt sinnlicher Gegebenheiten oder Erfahrungen. Sofern sich menschliche Handlungen von sinnlichen Motiven – Leidenschaften, Neigungen etc. – bestimmen lassen, handelt es sich dem Königsberger Philosophen zufolge um „pathologische Triebfedern“ für den menschlichen Willen. Einzig die Orientierung an der Gesetzesform, die ohne konkreten Inhalt bleiben muss, führt zu einem unumschränkt „guten Willen“. Dieser Sachverhalt wird in den meisten Lobreden geflissentlich übersehen, obwohl oder weil er auf ein zentrales, gewaltförmiges Merkmal der Moderne verweist. „Das Wesentliche aller Bestimmung des Willens durchs sittliche Gesetz ist: dass er als freier Wille, mithin nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben, und mit Abbruch aller Neigungen, sofern sie jenem Gesetz zuwider sein könnten, bloß durchs Gesetz bestimmt werde.“ Kant formuliert also explizit das Ideal des „freien Willens“ unter Zurückweisung bzw. „Abbruch aller sinnlichen Neigungen“. Die praktische Vernunft, das heißt der „gute Wille“, soll nur durch „sinnenfreies Interesse“ bestimmt sein. Auf welchen konkreten Wunsch sich dieser Wille beziehe, sei in rechtlicher Hinsicht völlig zweitrangig. Für den gefeierten Jubilar drückt sich ein „unumschränkt guter Wille“ gerade in einer „Achtung für etwas ganz anderes als das Leben“ aus. Kants zweifelhaftes Verdienst war es im Gegensatz zum theoretischen Gehalt des derzeitigen Jubeldiskurses, ungeniert die inhaltslose und gewaltförmige Form (des Rechts) zu fordern, in der die sinnliche Wirklichkeit allenfalls als Material für den freien Willen vorkommt. Je weniger es der bürgerlichen Reflexion möglich ist, Kants Philosophie theoretisch adäquat in Beziehung zur bürgerlichen Vergesellschaftung zu setzen, desto mehr scheinen die Individuen praktisch über sie Bescheid zu wissen. Meiwes jedenfalls formulierte sehr präzise, worauf es bei zwischenmenschlichen Beziehungen in der modernen Rechtsform ankommt, nämlich einzig auf die Qualität, (männlicher) Träger eines freien Willens zu sein: „Jeder kann zu seinen Lebzeiten frei über die Verwendung seines Körpers entscheiden, und so könne er sich auch aufessen lassen“, lautete sein Argument beziehungsweise das der Verteidigung. „,Er wollte sterben und er wollte gegessen werden‘. Er habe sich ausschließlich nach dem Willen und den Wünschen B.s gerichtet. ,Ich habe auch immer seine Würde(!) und seine Ehre(!) als Mensch geachtet’“.

Wenn der Kern menschlicher Würde nach der „praktischen Vernunft“ ausschließlich die Geltung eines „sinnenfreien“ Interesses voraussetzt, so hätte auch Kant nur für einen Freispruch des Kannibalen plädieren können. Denn schließlich hat der Kannibale jederzeit die „Würde des vernünftigen Wesens“, den „freien Willen“ des Gegenübers anerkannt, auch wenn er es abgemetzgert, zerlegt und aufgegessen hat. „Meiwes und B. hatten“, argumentierte die Verteidigung konsequent „kantisch“, „einen Vertrag geschlossen, den beide erfüllen wollten.“

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