Café Critique, Jahr 2004
März
2004

Bewegung für eine gesinnungsethische Zurichtung der Welt

Die Linke als Avantgarde Deutsch-Europas

Die Abschlusserklärung des Weltsozialforums in Porto Alegre liest sich wie ein Manifest, in dem in sehr komprimierter Form, alles anzutreffen ist, was die Bewegung der Antiglobalisierer ausmacht: fetischistischer und personifizierender gesinnungsethischer Antikapitalismus, der alles Übel der bestehenden Verhältnisse als Resultat der „Ökonomie eines ,Freudenhauses’“ und der „Korruptheit von Geschäftsleuten und Politikern“ versteht und die Verschuldung der Länder der Peripherie als „illegitime(s), ungerechte(s) und betrügerische(s) (...) Herrschaftsinstrument“ halluziniert, das „die Völker ihrer fundamentalen Menschenrechte“ beraubt und „nur das eine Ziel (hat), die internationale Wucherei zu steigern.“ Dass das „neoliberale ökonomische Modell“, welches „die Rechte, die Lebensbedingungen und den Lebensstandard der Völker“ zerstöre, letzten Endes als US-amerikanisches verstanden wird, wird nicht zuletzt deutlich, wenn die Verfasser der Erklärung abschließend darlegen, wofür sie kämpfen und was dabei ihr Gegenmodell zu „Neoliberalismus und Krieg“ ist: „Für eine demokratische und soziale Europäische Union, die sich an den Bedürfnissen, der Arbeiterinnen und Arbeiter orientiert sowie der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit und der Solidarität mit den Völkern des Ostens und des Südens.“ [1] In Nachfolge dessen heißt es in der Abschlusserklärung des Europäischen Sozialforums, das im November 2003 in Paris stattfand: „Um zu einem Europa zu gelangen, das auf der Anerkennung der sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Rechte – individueller wie kollektiver Natur, der Männer wie der Frauen – beruht, verpflichten wir uns, überall Initiativen zu ergreifen.“ [2]

Die Europäische Union wird also als Gegenmodell zu den USA gesehen, auf das im Kampf gegen den ‚neoliberalen Imperialismus’ gesetzt werden soll. Indem die USA zur Ursache aller negativ empfundenen Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft erklärt werden, drücken die Antiglobalisierer eben darin das grundsätzliche Einverständnis mit eben dieser Gesellschaft und den aus ihrem Verlauf sich entwickelnden barbarischen Tendenzen aus. Dies manifestiert sich u.a. darin, dass in der Beschwörung eines „sozialen Europas“ nichts als das Selbstverständnis ebendieses affirmiert wird und die Globalisierungsgegner also als das Sprachrohr und die Avantgarde Deutsch-Europas fungieren, sosehr sie auch subjektiv sich als oppositionell und revolutionär dünken. Das von Donald Rumsfeld als „Old Europe“ bezeichnete Europa präsentiert sich selbst als Alternative zum ‚amerikanischen Imperialismus’, die auf ‚kritischen Dialog’ mit den „Völkern des Südens und Ostens“ setzt – insbesondere mit den Ländern der arabischen und islamischen Welt – und als Vorstreiter für „kollektive kulturelle Rechte“, sprich: die Durchsetzung des völkischen Rechts auf nationale Selbstbestimmung agiert.

Die USA dagegen werden als die ‚globale Macht’ projiziert, die jeder Ausbeutung auf der Welt zu Grunde liegt; es wird ihnen ein Imperialismus vorgeworfen, der nur als blanker Raub von Rohstoffen verstanden werden kann ebenso wie als Zerstörung autochthoner Kulturen. Mit ihrem Universalismus würden sie die ganze Welt in eine Sauce amerikanischer Unkultur verwandeln und den Völkern ihre Eigenheiten rauben. Dagegen wird die völkische Selbstbestimmung gesetzt, die als Selbstverteidigungskampf gegen die ‚neoliberale Globalisierung’ propagiert wird. Der deutschen Ideologie ist die Einrichtung der Welt kein objektiver gesellschaftlicher Zustand, sonder eine bewusst intendierte Gewalttat und aus dieser Subjektivierung wird unmittelbar ein Notwehrrecht gegen die halluzinierten Personifikationen, die als Verursacher der krisenhaften Wertvergesellschaftung verantwortlich gemacht werden, abgeleitet.

Wenn die No-Globals diese Position der EU „von links“ kritisieren, dann ist ihre Kritik nichts anderes als ein Anlegen des antiimperialistischen Weltbildes auch an Deutschland und das von ihm dominierte Europa. Diesem wird vorgeworfen, es mit seiner Proklamierung als „Friedensmacht“ nicht ernst zu meinen und dieselben imperialistischen Zwecke nur mit anderen Mitteln zu verfolgen – diese Argumentation prägte etwa die gesamte Mobilisierung gegen die NATO-Sicherheitskonferenz in München. [3] Die „Kritik“ besteht darin, den Deutschen Verschleierungstaktik vorzuwerfen, hinter der ihre ‚eigentlichen Interessen’ verborgen seien. De facto sei Europa nicht anders als die USA: Auch ihm ginge es nur um die Jagd nach geostrategischer Macht, Rohstoffen und Absatzmärkten. In diesem Vorwurf an Deutsch-Europa manifestiert sich die Blindheit der Linken gegenüber den spezifischen Ausprägungen und Verlaufsformen kapitalistischer Vergesellschaftung. Indem die Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse immer nur in das Raster bereits vorher bestehender gesinnungsethischer Kategorien gepresst wird, um so permanent das eigene Weltbild zu bekräftigen, können grundlegende Unterschiede zwischen der Politik „Old Europe’s“ und der der USA niemals zu Bewusstsein kommen. Es ist ein linker Allgemeinplatz, dass Politik immer pragmatisch die im Grunde völlig identischen, nur in der Form der Erreichung unterschiedenen Kapitalinteressen verfolge. So sei die deutsche Friedensliebe nichts als eine innerkapitalistische Konkurrenzstrategie gegen die USA und man müsse also lediglich hinter den ‚ideologischen Schleier’ der deutschen Politik blicken, um dort denselben Imperialismus zu entdecken, der auch die USA bestimme. [4] Der Vorwurf an Deutschland und damit auch an „Old Europe“ lautet also, dass diese letzten Endes auch nur verkappte ‚neoliberale Imperialisten’ wären, die allerdings derzeit noch nicht so könnten, wie sie eigentlich wollten. So entpuppt sich diese „Kritik“ als Ressentiment, das letzten Endes den Hass auf Amerika bedient und die Verharmlosung deutscher Ideologie und deutscher Form der Krisenlösung bereibt.

Der grundlegende Unterschied deutsch-europäischer und US-amerikanischer Außenpolitik, dass erstere mit der Forcierung des Menschenrechts auf Selbstbestimmung der Völker – also eines kollektiv gefassten Rechtsbegriffes – einen als Fremdbestimmung und Auflösung autochthoner Kulturen gefassten Imperialismus bekämpft, [5] während letztere für ein individualistisches und universalistisches Menschenrechtsverständnis steht, kann so niemals Gegenstand der Erkenntnis werden. Die Linke teilt mit der deutschen Außenpolitik die Vorstellung von Völkern und/oder Kulturen als natürlich begriffenen Organismen, deren ureigenste und harmonische Existenz durch westlichen Kolonialismus und Imperialismus zerstört wurde und deren antiimperialistische Selbstbehauptung bedingungslos unterstützt werden müsse, warum auch noch das abscheulichste islamistische Verbrechen ‚irgendwie verständlich’ und letzten Endes nur eine Reaktion auf die US-amerikanische Politik sei.

Gerade der angesprochene Individualismus und Universalismus sind es, die der Anti-Amerikaner so hasst. Er halluziniert sich die amerikanische Gesellschaft als eine bürgerliche Gesellschaft ohne Souverän, in der der Einzelne ohne Rücksicht auf das Allgemeinwohl nur seinen egoistischen Privatinteressen nachgeht, und die aufgrund der Universalität dieses Anspruchs, die ganze Welt unter ihren Herrschaftsbereich bringen will. Was von der Linken am so genannten Neoliberalismus beklagt wird – dass die Wirtschaft nicht mehr an die staatliche Kandare genommen würde, weswegen die ‚multinationalen Konzerne’ nicht mehr auf den sozialen Kapitalismus verpflichtet seien, sondern sich vielmehr den Nationalstaat unterwerfen und als ihr Instrument zur unsozialen Gewinnmaximierung missbrauchen würden – fällt in eins mit dem antiamerikanischen Ressentiment gegen eine Gesellschaft, in der das Diktum „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, das den Nationalsozialismus gleichermaßen charakterisiert wie das postnationalsozialistische Deutschland und Österreich, nicht den Rang einer Staatsdoktrin hat. [6]

All dies lässt keinen Zweifel daran, dass nicht das Individuum und dessen persönliches Glück, sondern das Volk und die Völker, und somit das Aufgehen des Einzelnen im Kollektiv, die Eckpunkte der Globalisierungskritik bilden: „Wir fordern alle Völker rund um die Erde auf, sich diesem Kampf für den Aufbau einer besseren Welt anzuschließen. Das Weltsozialforum von Porto Alegre ist ein Weg, die Souveränität der Völker und eine gerechte Welt zu errichten.“ [7] Die urdeutsche Idee, dass Menschen Repräsentanten einer höheren Ordnung oder Idee seien, ist zum entscheidenden Gedankengut in der Linken geworden. Daher rührt auch die prinzipielle, unbeirrbare Verteidigung der Kulturen und Völker, in denen die Einzelnen mit Haut und Haaren aufgehen sollen. Diesem Denken gilt der gegenwärtige Zustand der Welt als ein einziger amerikanischer Angriff auf eben jene geliebten Kollektive, Völker und Kulturen.

In der antiimperialistischen Frontstellung gegen die ‚Arroganz der USA’, genau wie in der ihr zutiefst verwandten antisemitischen gegen Israel, gewinnt Europa die Hassobjekte, die es benötigt, um ein antikapitalistisches Image zu pflegen und sich der Dritten Welt als Dialog- und Bündnispartner anzubieten. Die USA werden mit der Abstraktheit und dem Universalismus identifiziert, die der Anhänger konkret-natürlicher Gemeinschaften am bürgerlichen Recht so hasst. Dies ist eine Abspaltung, die der des Antisemitismus gleicht, welche in Gestalt des konkreten Juden die abstrakte Seite der warenproduzierenden Gesellschaft personifiziert und die im Antizionismus, der in Israel, immer nur ein ‚künstliches Gebilde’ im Gegensatz zum organischen Volksstaat sehen kann, ihre Entsprechung findet. Indem sich an die Völker gewandt wird und nicht an die Individuen, indem für die soziale Gemeinschaft und die souveräne Nation gegen die USA mobilisiert wird, wird das Ende Israels und der Tod der Juden einkalkuliert. [8] So kommt mittlerweile kein Sozialforum mehr ohne antisemitische Vorfälle und auch Übergriffe aus, und in keinem der veröffentlichten Pamphlete – ob in den Abschlusserklärungen der Foren in Porto Alegre oder Paris oder in der Eröffnungsrede Arundhati Roys zum Welt-Sozial-Forum in Bombay – fehlt mehr der Angriff auf Israel und die Solidarisierung mit den Palästinensern. Wie von selbst stellt sich die Antiglobalisierungsbewegung gegen jenen Staat, der bewusst als Schutzmacht für die weltweit von Antisemitismus Verfolgten gegründet wurde und schlägt sich auf die Seite der Blut- und Boden-Intifada, der als konkretes, organisches Volk wahrgenommenen Palästinenser.

Auch darin unterscheiden die No-globals sich höchstens in der Radikalität der Ausdrucksweise von der deutsch-europäischen Politik, die (noch) eine gewisse Diskretion der Diplomatie pflegt, während sie gleichzeitig mit EU-Geldern für die Palästinensische Autonomiebehörde die Infrastruktur für den antisemitischen Jihad gegen Israel finanziert. „Das Programm hat sich nicht geändert. Nur die Vertauschung der Rollen, die Teilung der Arbeit. In Deutschland und Europa: die Diplomatie und die reguläre Souveränität – im Nahen und Mittleren Osten, an der Peripherie des Großraums: suicide attack und irreguläre Gewalt.“ [9]

Die von der Neuen Linken betriebene „Universalisierung“ der Massenvernichtung des europäischen Judentums, die sich darin äußerte, überall Genozide aufzudecken, hat Deutschland geholfen sein außenpolitisches Programm immer selbstbewusster durchzusetzen und dabei zunehmend weniger von der eigenen Vergangenheit behindert zu werden. Die beliebteste Argumentationsfigur dieser Politik ist, dass gerade „wir als Deutsche“ eine besondere Verantwortung für die Palästinenser (und darüber hinaus für alle von Fremdbestimmung und US-Imperialismus gegängelten Völker) hätten. Ein halbes Jahrhundert nach der Shoa scheint es gelungen, das „Nie wieder“, das die Linke zur Maxime ihres Handelns machen wollte, gegen die Opfer von einst zu wenden. Ein neuer „Antisemitismus nach Auschwitz“ nimmt immer bedrohlichere Gestalt an, der an seinen Vorgänger besten Gewissens anknüpft, weil er dabei beständig vor ihm warnt. Unter dem Schlagwort des Antirassismus wird Israel dämonisiert und delegitimiert und der Begriff des Rassismus in sein Gegenteil verkehrt, sodass nicht mehr der in „Old Europe“ vorherrschende Wahn, Sharia und Tyrannei seien die natürlichen Lebensformen so genannter ‚indigener Völker’ als rassistisch gilt, sondern die Selbstverteidigung Israels gegen den antisemitischen Terror.

Linke wie europäische Politik behauptet von sich, uneigennützigen, rein der Moral verpflichteten Standpunkt einzunehmen. Dass die Politik des „Dialoges der Kulturen“ im Zeichen eigener Interessen oder gar in ressentimenthafter Abwehr gegen die USA geführt wird, wird weit von sich gewiesen. Stattdessen beruft man sich auf höhere Ideen und Ziele als Grundlage des politischen Handelns. Der deutsch-europäischen Politik geht es um das Projekt der durchgreifenden Verrechtlichung internationaler Beziehungen, also darum die Menschenrechte um ihrer selbst willen zu garantieren, und sie nicht, wie es den USA vorgeworfen wird, zu Instrumenten nationaler Politik zu degradieren. „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun“, wie es schon Richard Wagner formuliert hat. Dieses Denken, die deutsche Ideologie der Ablehnung alles Instrumentellen sowie der ressentimentgetriebenen, gesinnungsethischen Zurichtung der Welt, stellt das Resultat des in der Aufklärung selbst angelegten Verfalls ihrer selbst dar. Materialistische Kritik dagegen, die es noch ernst meint mit dem kategorischen Imperativ Adornos, „alles Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“, hat als ihre Grundvoraussetzungen die Verteidigung letzter Reste von Liberalität und Individualität gegen das antiwestliche und antibürgerliche Ressentiment sowie die unbedingte Solidarität mit Israel.

zuerst erschienen in Phase 2 11

[1Alle Zitate aus: Widerstand dem Neoliberalismus, dem Militarismus und Krieg: Für Frieden und soziale Gerechtigkeit. Erklärung der sozialen Bewegungen auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre – 05.02.2001; http://www.kpoe.at/bund/international/WSF/ portoabschluss.htm

[2Gegen das neoliberale Modell mobilisieren! Erklärung der Versammlung der sozialen Akteure und Bewegungen auf dem Europäischen Sozialforum in Paris – 16.11.2003; http://www.kpoe.at/bund/esf-paris/esf-erklaerung.htm

[4Zur generellen Kritik der linken Vorstellung, Ideologie sei ein über die gesellschaftlichen Verhältnisse geworfener Schleier, ein Herrschaftsinstrument zur Verhüllung gesellschaftlicher Widersprüche, das es mit der materiellen Basis zu re-identifizieren gelte, vgl.: Kettner, Fabian: In welchem Detail steckt der leibhaftige Gott? Über merkwürdige Genossenschaften; in: Bruhn, Joachim/Dahlmann, Manfred/Nachtmann, Clemens (Hg.): Kritik der Politik. Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag, Freiburg i. Br. 2000, S. 173-199

[5Mit der Zerschlagung Jugoslawiens etwa wurde genau jenes Menschenrecht auf Selbstbestimmung der Völker durchgesetzt, dass Deutschland im Irak als Fremdbestimmung des irakischen Volkes durch die USA bedroht sah. Dem Veto gegen die militärische Beseitigung des faschistischen Baath-Regimes lag die gleiche völkische Auffassung der Menschenrechte zu Grunde wie der Zerschlagung Jugoslawiens, nur dass im Falle des Iraks, wegen des Verständnisses der arabischen Welt als einer homogenen und organischen Einheit, die gegen imperialistische Fremdherrschaft zu schützen sei, die nationale Souveränität verteidigt wurde, während die antifaschistische Staatsbürgernation Jugoslawien als „widernatürliches Völkergefängnis“ und als das Projekt „serbischen Großmachtstrebens“ wahrgenommen wurde, aus dem Kroaten, Bosnier, Kosovaren, usw. zu befreien wären, um den naturgemäßen Zustand völkisch verfasster, homogener Kollektive wiederherzustellen.

[6Vgl.: Punjer, Sören: Möchtegern-Antideutsche als deutsche Avantgarde. Ein Vortrag, gehalten in Berlin, am 3. Oktober 2003; http://www.redaktion-bahamas.org/vortrag/3.10.-Vortrag.htm

[7Porto Alegre – Aufruf zur Mobilisierung; http://www.attac.de/archiv/porto_alegre_call.php

[8Vgl. Scheit, Gerhard: Lokführer der Geschichte. Europa wird links; http://jungle-world.com/seiten/2003/46/2007.php

[9Scheit, Gerhard: Monster und Köter, großer und kleiner Teufel. Thesen zum Verhältnis von Antiamerikanismus und Antisemitismus; in: Uwer, Thomas/Von der Osten-Sacken, Thomas/Woeldike, Andrea (Hg.): Amerika Der ‚War on Terror’ und der Aufstand der Alten Welt, Freiburg 2003, S. 89