World Wide Literature
Oktober
1995

Der Dädalus

Mit weniger beflügelten Schritten als sonst stieg Marcel in die rotweisse, nach Holzplastik und Schweiß riechende Straßenbahn. Unter anderen Umständen hätte er das auf drei oder vier Gesichter fallende Weißweinlicht bewundert und glücklich erstaunt betrachtet, doch beschäftigte ihn heute viel mehr seine eben errungene, unfreiwillig errungene Freiheit. Aus einer Schicksalswillkür heraus war er dem säulenfletschenden Palais, dem französischen Kulturinstitut, seinem Arbeitsgeber entkommen, war er ihm mit einem Entlassungsschreiben in der Tasche entkommen und konnte sich nun auf die Vorfreuden der Vorbereitungen einer Flucht aus Wien stürzen.

Vier lange Jahre hatte er sich abgequält den insgesamt sicher über 100 Schülern seiner Klassen am Lycée, dieser französischen Privatschule die von Kindern des wiener Geld und Kulturphilistertums und von Kindern vieler wohlsituierter Beamtenbürger aus frankophonen oder frankophilen Staaten frequentiert wurde, als professeur de lettres einen Schimmer von Literatur, einen Hauch von Poesie, eine Ahnung von Theater und vorallem eine Idee der weniggeschätzten Schönheit der französischen Sprache zu vermitteln. Vier lange Jahre hat er sich abgequält.

Beneidenswerte Krösuskinder, hatte er sich jeden Morgen bei Betreten des Klassenzimmers gedacht, beneidens- und hassenswerte Krösusfratzen. Natürlich hatte es genug Ausnahmen unter den Schülern gegeben, um es länger als vier Jahre unter ihnen auszuhalten. Auch wäre er nie freiwillig gegangen, da ein Lehrposten an der französischen Schule in Wien zu den begehrtesten Auslandsposten und vorallem zu den prestige und einkommenträchtigsten zählte.

Viele Kollegen in Frankreich, welche FreudMahlerKlimtverehrer und Findesièclehysteriker waren, hatten ihn seit vier Jahren beneidet; denn im feenhaften Wien zu wohnen und zu arbeiten, hörte sich in Aix-en-Provence oder Nantes traumhaft und elitär, traumhaft elitär an. Die Hode der Kultur liegt für viele fantasielose Findemillénairefranzosen und -europäer in Wien und er, Marcel, als Sperma der Kulturmetropole zirkulierte wie heiliger Honig in aller Munde. Seine literarischen Ergüsse, bzw. sein proèmistisches Werk über die Sinnlosigkeit der Werktätigkeit, welches immerhin vor etlichen Jahren mit einer Auflage von 1000 Exemplaren erschienen war, verkaufte sich seit dem Tag, da die Leser wußten, daß der Autor in Wien weilte, um ein vielfaches besser.

Natürlich hatte es Ausnahmen gegeben unter den Krösusfratzen. Zum Beispiel die kleine Denise, die ihn mit der verführerischen Magerkeit ihres ephebischen Körpers, mit den traurig weiten, kindhaft trotzigen und unergründlichen Augen und mit ihren langen und ausführlichen Fragen über Proust entzückt hatte oder der lange Heinrich, der durchgehend über Barthes Strukturalismus und über Lautréamont schwafeln hatte können oder Etienne, der zivilierte Affe, der sicher heute noch irgendwelche Renaud- und Brellieder sang und wohl weit und breit der einzige Anarchist stirnerscher Prägung gewesen war.

Ansonst hatte Marcel nur wenig Anhang oder Sympathie oder Freunde unter seinen Schülern, vielmehr hingegen Abneigung oder Gleichgültigkeit, gutmütige Gleichgültigkeit gefunden. Bald war er nur noch Zeitung lesend dagesessen, während die Schüler, zumindest jene die es für notwendig hielten, an irgendeiner Arbeit herumbastelten, die vielleicht entfernt mit seinem ursprünglichen Unterricht zu tun hatte, jedoch leicht und schnell zu korrigieren war oder während sie sich halbaufmerksam irgendwelchen Literaturverfilmungvideos hingaben. Das Fernsehen, die Tafel des Atomzeitalters, beeindruckte und fesselte die Kleinen am meisten. Doch Ausnahmen wie die Proustdenise, den strukturierten Heinrich und den zivilisierten Anarchis hatte und hätte es sicher noch genug gegeben. Und Marcel hätte sicher auch nie freiwillig auf den professeur de lettres Posten an dieser Schule verzichtet, wären ihm eines Tages nicht seine allzu reizbaren Nerven mit ihm wie ein Steppenfeuer mit der Steppe durchgebrannt und hätte er nicht einer besonders dumm herumgrinsenden Person das Stück Kreide, welches er da gerade in der Hand gehalten hatte, um den heiligen Namen Valérys auf die Schiefertafel zu schreiben, ins Gesicht geschossen. Der Beule war eine Klage, der Klage nach einiger Zeit die Kündigung samt einer Geldstrafe gefolgt.

Ein Biologielehrer hatte Marcel einmal erzählt, daß ihm einer der netten Knirpse folgendes ins Gesicht gesagt hätte:

Ich brauch doch kan Abschluß! Glaubens ich will so ein Lehrer werden wie sie? Meinem Vater gehört die Xywichtigfirma und die wird mir dann auch ohne ihrem scheiß Wissen gehören! Na!

Dies waren die Leitworte der Lycéementalität gewesen, die sich tagtäglich über den Laufsteg der Gesichter, der Schulstühle, der Arbeiten diskret und elegant gewälzt hatten. Der Biologielehrer war nach seiner Anpassung im Sumpf selbstzerstörerischer Gleichgültigkeit versunken. Marcel hatte geglaubt, sich, wie alle anderen Lycéeprofs, ebenfalls anpassen zu müssen, zu können. Doch war in ihm eines verregneten Tages der David erwacht, der David, der mit einem Stück Kreide, mit einem Stück Kulturträger in die Klasse, in das Philisterheer, in die Goliathmaske des Desinteresses hineinschoß.

Au moins, j’l’ai bien eu! — Wenigstens habe ich ihn gut erwischt! dachte er sich jetzt, da er in der Straßenbahn saß und ihm wieder das Gesicht, das martialische, karge Geschäftsmanngesicht, das weißblau gestreifte Hemd und die buntrote Krawatte des Vaters seines glücklich getroffenen Schülers vorschwebte, wie dieser ächzte und schimpfte, wie er drohte, gagerte und wieherte.

Frei ... Marcel war frei, frei wie De Foes Schiffbrüchiger. Er war frei und isoliert, frei und ewig als Lehrer arbeitslos, denn keine Schule würde ihn mehr nach dieser Geschichte akzeptieren, dafür würde schon der geschäftstüchtige Vater sorgen. Marcel war ausgestoßen. Er gehörte nun zu jenen unzähligen arbeitslosen Akademikern, die Europa bevölkerten, mit dem Meer ihres Wissens überschwemmten, während der Großteil der Weltbevölkerung es noch nicht einmal bis zur Alphabetisierung gebracht hatte. Daß er sich noch ein Busticket nach Paris leisten konnte, grenzte fast an ein Wunder. Doch Paris! ... Paris? Paris und was dann? Was könnte er denn dort schon anfangen? Die Grundsteine zu einer verrauchten und besoffenen Zeittotschlagenexistenz legen? Ein Bohèmienleben à la Baudelaire oder Verlaine führen? Er könnte sich stattdessen auch einer fourieristischen Kommune im Midi anschließen, Schafe hüten, von warmer Milch und von den Frauen der Genossen und Brüder leben.

Was manche Leute in Frankreich nur mit ihrer Viennoiserie haben, überlegte sich Marcel, als er sich im Gedränge der Tramway umblickte. Zwei sich neckende Gören im Spiegelbild der Fensterscheiben; schmeichelhaft nette Speichelrenner und Massenmörder die höflichmokant durch das wirre Getriebe der Autolandschaft rasen; weinende Fische, die am liebsten vom 8. Stock springen würden und stattdessen in einem vernebelten, dunklen und heissen Café unter stummen Applaus eines ganzen Fischschwarmes ihren sorglosen Kummer auskotzen; eingerauchte und des öfteren zuckende, große und glatthaarige Blondinen, die versuchen einem jeden den Beweis ihrer Selbstsicherheit ins Gesicht zu hauchen; Hagelspucke und Regenorgasmen, Föhn und Todeshitze, Todessehnsucht; an jeder Ecke phallische Kirchenmonumente und dazwischen mit Zucker bestreute Dekorationsbauten, das alles war Wien eines Augenblicks Tramfahrt. Das alles war Wien oder sonst irgendein europäisches Großdorf. Bis auf die Geburtshäuser von Schubert und Buber, gab es in Wien nichts, was es auch sonst wo gab.

Ein kalter Wind fegte schon seit Tagen jede Freude von den Straßen.

In Paris oder im 38er, egal wo er war, was sollte er tun? Was tun, hier in Wien, außer sich vorzufreuen auf die Vorbereitungen einer Flucht? Aus Wien und wohin? Wirklich nach Paris? Der Metropole in der die Nächte Messer lachen lassen, in der Armut schon so schön und alltäglich scheint, daß man sie am liebsten malen würde? Wirklich in die Stadt, in der Krysanthemen für Touristen Akkordeon spielen? Wenigstens reichte das restliche Geld noch für ein Busticket für bis nach Paris. Dies schien ein gutes Omen zu sein. Oder wenn es vielleicht doch wieder in die Provinz zurückginge, anstatt in die Zone von Sodome et Gomorrhe. Doch ist nicht die Provinz das schlimmste aller Fegefeuer, ist nicht die Provinz das dunkelste aller Bäder, ist sie nicht ärger als Wien, welches dann doch gar nicht allzu provinziell ist, wie es nach dem zweiten Blick vermuten läßt?

Zumindest hieß es jetzt zu leben! Die Freiheit auszuleben. Man kann in seiner Freiheit atmen, wie sonst auch, man kann in ihr wieder und wieder geboren werden, als ein in grünes Zeitungspapier eingerollter, grüner und verfaulter Fisch wieder gebeoren werden, man kann nicht mehr aufstehen müssen in der Früh und man kann sich selbst absolut tot stellen, tot, taub und still. Die Freiheit bietet viel! Man kann ihr in die Augen seheh und ihr dankbar sein, für die fetten Motten im Hut. Man kann Freiheit essen, wie das Eisen einer Kanone, einer Turbine. Man kann sie atmen wie die Musik von Wagner oder wie die Willkür einer Schmeißfliege. Man kann sie fühlen wie die Unendlichkeit seines eigenen Unvermögens, wie das Fell der Schamhaare eines Schafs. Man kann sie hassen wie einen Durchfall der einen des Nachts aus dem Alptraum reißt und einen zwingt Kohle zu schlucken. Man kann sie leiben wie tote Tauben, wie ein totes Gefühl, wie die tote Seele eines im Magen tauchenden Tunfischs. Ein freier Mensch zu sein, ist ein hartes Stück Hostie, es passieren so viele Sachen und passieren so viele Sachen nicht.

Zumindest sollte die Flucht gelingen, Marcels bescheidene und ungewollte Flucht ins Unbekannte. Vielleicht ließe es sich als Dichterbandit im Maquis der korsischen Berge gut leben, als Hirt der Toten und Heuschreckenfresser.

Ja, Flügel müßte man haben! Dann bräuchte man nicht mehr sein Konto überziehen um sich eine Reise oder die Flucht aus der Verstrickung der Gegenwart zu gönnen, dann stünde es einem frei, solange in der sicheren Höhe fliegen und kreisen zu können, bis man unten seine Zukunft entdecktzu haben glaubt. Ein Albatros in einer flintenlosen Welt müßte man sein.

„Monsieur Perez! Monsieur Perez!“ Die Rufe klangen leise und schüchtern, doch hörte er sie, als er ausstieg. Es war Denise, die da rief, die Proustdenise.

„Comment allez-vous? Monsieur.“ Monsieur sagte sie, so wie einen Lehrer sprach sie ihn an. Ihr Körper war nicht mehr ephebisch wie einst, er war eher voll, fast voluminös. Wie es denn gehe? Er erzählte und sie hatte Mitleid, während ihr die langen roten Haare ins Gesicht fielen. Sie hatte Mitleid und lud ihn zu sich in ihr nicht weit von der Haltestelle gelegenes Studentenzimmer ein. Daß sie seit zwei Semestern Jus studierte, konnte Marcel weniger fassen, als ihren plötzlichen Wunsch mit ihm zu schlafen. Das Zimmer war hell und wie in einem Schubert oder Mahlerlied, stand eine Linde vor dem Fenster. Das Zimmer war hell und ein ähnliches Weißweinlicht wie in der Straßenbahn fiel auf die Umschlagrücken der Recherche im Bücherregal, fiel auf Denise rotes Haar, fiel auf einen am Boden liegenden Band über Allgemeines Recht. Allgemeines Recht; wie amüsant sich das anhört. Marcels Blick fand wieder Exil im roten Wirrhaar auf dem warmen Polster. Die Chinesen behaupten, daß das Rot die Dämonen vertreibe. Wie dekorativ und schön doch eine parapsychologische Abschreckwaffe sein kann.

Vor kurzem traf ich meinen ehemaligen Lehrer, den Kreideschmeißer Marcel Perez inmitten eines Verkehrschaos, welches er hastig , und ohne mich zu sehen oder sehen zu wollen, durchschwamm. Er roch nach Wachs und sah für einen gefangenen Labyrinthgänger irgendwie zufrieden aus. Mit einigen anciens élèves des Lycées und anderen, ebenfalls nach Wien verirrten Franzosen, soll er irgendwann eine französischsprachige Theatergruppe gegründet haben, die sich Le Dédale nennt und demnächst Fin de Partie aufführen will.

„Fini, c’est fini, ça va finir, ça va peut-être finir. — Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende.“ beginnt es da.

copyright Alexander Schürmann-Emanuely, Wien 1994