Streifzüge, Heft 1/2001
März
2001

Der Hüter der Theorie

Eine Anmerkung zum Verhältnis von Theorie und Praxis

In den letzten drei Nummern der Streifzüge hat eine Diskussion zwischen Stephan Grigat und Franz Schandl zum alten linken Thema von „Theorie und Praxis“ stattgefunden. Dabei wurden zentrale Fragen linker Kritik berührt, die auch mit dem Selbstverständnis dieser Zeitschrift und des Kritischen Kreises zu tun haben. Die Notwendigkeit sich abzugrenzen auf der einen Seite und die Gefahren der Identitätsbildung auf der anderen – darin liegt der Zwiespalt. Und es gibt hier keine ‚Lösung‘. Man kann kritisieren, daß die Gesellschaft aus ‚Banden‘ besteht, und muß zugleich feststellen, daß die Tendenz zur Bandenbildung auch an der Organisation der eigenen Kritik nicht einfach halt macht. Was bleibt, ist, die Fragen, an denen Abgrenzungen erfolgen müssen und Identitäten sich verfestigen können, möglichst scharf herauszuarbeiten. Im Falle des Theorie-Praxis-Themas hat allerdings Franz Schandl von Anfang an eine Unschärfe in Kauf genommen, die gerade für dieses Thema fatal ist: er hat eine Art Naturschutzpark der Praxis errichtet – ein Gelände, wo man von der Anwesenheit des Staats nichts merkt. Die folgende Anmerkung nimmt nicht direkt auf die Auseinandersetzung Bezug, sie ist aus anderem Anlaß entstanden, handelt aber doch vom Selbstverständnis der Kritik.

Das sei Gott geklagt!!!

Der Vater von Karl Marx hat alles geahnt und so treffend charakterisiert, wie nur ein tüchtiger Bürgersmann es kann: „Das sei Gott geklagt!!! Ordnungslosigkeit, dumpfes Herumschweben in allen Teilen des Wissens, dumpfes Brüten bei der düsteren Öllampe; Verwilderung im gelehrten Schlafrock und ungekämmter Haare statt der Verwilderung beim Bierglase; zurückscheuchende Ungeselligkeit mit Hintansetzung alles Anstandes und selbst aller Rücksicht gegen den Vater … Und hier in dieser Werkstätte unsinniger und unzweckmäßiger Gelehrsamkeit sollen die Früchte reifen, die Dich und Deine Geliebten erquicken, die Ernte gesammelt werden, die dazu diene, heilige Verpflichtungen zu erfüllen! ?“ [1] Nein, hier reiften nur die Früchte, die weitere Theorie-Junkies erquicken sollten, hier wurde nur eine Ernte gesammelt, die dazu diente, keinerlei Verpflichtungen mehr zu erfüllen.

Aber erst nachdem alle heilige Pflicht zu Schanden gegangen ist, kann diese Ernte vollständig eingesammelt werden. Marx konnte sich immerhin noch überzeugend einreden, das Proletariat mit seinen Erkenntnissen zu erquicken, und auf diese etwas verschobene Weise doch dem Vaterwunsch irgendwie gerecht zu werden, um schließlich selbst ein patriarchalisches Familienoberhaupt mit allen bekannten unangenehmen Ausdrucksformen abzugeben. Da aber die Arbeiterklasse seit ihrem Untergang in Faschismus und Nationalsozialismus solche Perspektiven der Projektion und Übertragung nicht mehr bietet (in der Studentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre hat man sich in die Zeitgenossenschaft Marx‘ und Lenins noch einmal hineinphantasiert), seit alle heiligen Verpflichtungen im Namen Deutschlands der Pflicht zur Vernichtung zum Opfer gefallen sind, wird die von Marx angeregte Gelehrsamkeit erst so richtig unsinnig und unzweckmäßig, die Theorie eine scheinbar von allen Zwecken und allem Sinn gereinigte Sucht.

Theorie macht süchtig, darüber kann hier kaum Zweifel bestehen. Es ist der innere Zwang – beim Schreiben wie beim Lesen – alle Gegenstände in Theorie zu verwandeln; eine Bedürfnislage, die eine Unmenge von Texten, und zwar stets neu formuliert, benötigt, um nicht die Qualen des Mangels hervorzurufen. Die Metapher der Sucht ist allerdings auf jedes Verhalten beziehbar und wird nicht zufällig heute in vollendeter Beliebigkeit angewandt. [2] Wenn aller Reichtum sich in Waren verwandelt hat, dann wird die Sucht zur besten Metapher, um den inneren Trieb der Warensubjekte zu bezeichnen, mit einem sanft ironischen Unterton – der sich der Metaphorisierung verdankt -, aber ohne Kritik. Sie tritt gewissermaßen die Nachfolge der despektierlich-moralistischen Rede von der „Konsumgesellschaft“ an. Und natürlich fehlen bei keiner Sucht, sei sie noch so metaphorisch, die Therapeuten, die so tun, als hätte sie nichts mit der Gesellschaft zu tun, in der einer oder eine süchtig wird – und damit ist eben nicht das Milieu gemeint.

Aber andererseits ist die große Zeit der Theoriesucht vorbei: nur eine kleine Minderheit stürzt sich noch regelmäßig auf die Texte; der Theoriemarkt sei völlig zusammengebrochen, sagen seit mehreren Jahren die Lektoren der großen Verlage, die einst theoretische Schriften in hohen Auflagen absetzen konnten. Es sind eher kleine Zirkel, Zeitschriften und Verlage, die für jene Minderheit die dringend gebrauchte Ware liefern – während die Universitätsinstitute, die einmal durchaus das Suchtverhalten eingeübt haben, mittlerweile als Entzugsanstalten gelten können, wo nur noch Surrogate ausgegeben werden.

Können hier vielleicht die Therapeuten ihren größten Erfolg verbuchen? Wenn sie predigen, Theorie werde zur Sucht, soweit sie nicht zur Praxis findet und alle Gegenständlichkeit verschlingt – dann gleichen sie jedenfalls ganz dem guten alten Vater Heinrich Marx, der über die unsinnige und unzweckmäßige Gelehrsamkeit seines Sohnes nicht genug schimpfen konnte. (Die sogenannten Spontis, die einmal die Lehrer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in Sachen Praxis belehren wollten – in Deutschland sind sie mittlerweile an der Regierung, in Österreich formieren sie sich einstweilen unter dem Markennamen „Widerstand“ -, sie bilden überhaupt die historische Nachhut des tüchtigen Bürgers und sind das beste Argument gegen die Therapie: Ausagieren lautet ihre Devise, die sich sofort in die Praxis umsetzen läßt. ) Der Angesprochene aber kann immer nur ungekämmt im Schlafrock lümmelnd und dumpf brütend vor sich hin murmeln: umso schlimmer für die Praxis, umso scheinhafter die Gegenständlichkeit.

Der Mensch denkt, Gott lenkt

Der Begriff der Theorie scheint allerdings nur sinnvoll als Gegensatz zu dem der Praxis. Theorie ist, so sagt der gesunde Menschenverstand, zunächst alles, was der Mensch denkt, solange er es nicht tut. Theorie ist Telos, Praxis Verwirklichung des Telos. Praxis hebt Theorie auf, soweit sie jedoch etwas anderes hervorbringt als die Theorie wollte, resultiert daraus eine neue Theorie und so weiter und so fort, vom Faustkeil bis zur Atomkraft, von der neolithischen Revolution zur russischen oder (je nach Auffassung) zur mikroelektronischen.

Der gesunde Menschenverstand fragt sich nicht, was zwischen Telos und Ausführung geschieht, er weiß nichts davon, daß genau dieses Geschehen Form und Inhalt dessen bestimmt, was als Theorie und Praxis firmiert; daß also Theorie und Praxis von ihrer Vermittlung nicht unabhängig, als ewige, anthropologische Bestimmungen, gedacht werden können – und diese Vermittlung ist das Kapitalverhältnis.

Wer dieses Verhältnis an sich (und nicht nur in seiner aktuellen Ausprägung als fordistisches, ’staatskapitalistisches‘ oder neoliberales) in Frage stellt, für den scheint das Gegensatzpaar zunächst an Bedeutung zu verlieren: an dessen Stelle tritt der reine Wille, der sich auf die Freiheit beruft und sich Kritik nennt (— von den leninistischen Freunden der Einheit von Theorie und Praxis natürlich als „Voluntarismus“ gescholten). Der Zusammenhang von Theorie und Praxis ist in einen von Erkenntniskritik und kategorischem Imperativ überführt: Nur wer das Kapital abschaffen will, kann es begreifen. Aber das einfache Bekenntnis zur Kritik vermag den Gegensatz von Theorie und Praxis eben nicht aufzuheben. Was heißt schließlich Wollen in diesem Zusammenhang? Die Verweigerung zumindest ‚mitzutun‘? Bis zu einem gewissen Grad muß jeder mittun, soweit er gezwungen ist, mit Geld umzugehen, und sich weiterhin bereit findet, den Gesetzen des Staats sich zu unterwerfen. Es kann immerhin heißen: Dem Mittun Grenzen setzen, und darin das Bewußtsein wach halten, daß es ein unwahres Ganzes ist, in dem der einzelne mehr oder weniger gezwungen ist mitzutun.

Daß es aber nur Grenzen sind, alles andere Bekenntnis bleibt – wirft die Kritik immer wieder auf die Theorie zurück; zwingt sie jeweils neu zur Mimikry an das, was abzuschaffen wäre. Eine wirkliche Sisyphus-Arbeit: sie kann noch so deutlich machen, daß die Existenz des Kapitals, weil es selbst kein Vernünftiges ist, sich nicht vernünftig erklären läßt, daß darum die Wahrheit des Kapitals seine Abschaffung wäre – und muß doch stets aufs Neue erklären, worin das Nicht-Erklärbare besteht, muß zur Sprache bringen, was warum nicht ausgesprochen werden kann, und die Wahrheit des Kapitals, die nicht ist, vorwegnehmen. [3] In der Kritik widerspricht sich die Theorie. Mag sie also mit Recht in aller Schärfe gegen die Theorie polemisieren, sie kann sich von ihr nicht lösen, entkommt ihr so wenig wie dem falschen Ganzen – solange das Gewaltmonopol nicht fällt, das den Zwang des Kapitals verkörpert; solange das Kapitalverhältnis existiert, das den Staat voraussetzt. (Danach ist sie natürlich überflüssig. )

Denn letztlich ist es der Staat, der festlegt, was Theorie ist und was Praxis, und darum wäre über beides nur mit Rekurs auf ihn zu diskutieren.

Das Verteilen eines Flugblatts z.B. erscheint auf den ersten Blick als Praxis: die Menschen werden direkt angesprochen, auf sie wird zugegangen, sie werden ‚anagitiert‘, wie das praxisnahe Wort heißt. So dient der Praxisbegriff oft dazu, Unmittelbarkeit zu suggerieren, wo in Wahrheit alles vermittelt ist. Von Theorie spricht man hingegen bevorzugt, wenn ein Text sehr vermittelt erscheint: wenn nicht nur die Inhalte vermittelt sind, sondern auch der Weg, den der Text nimmt: Flaschenpost, nicht Flugblatt. Dabei kann doch die Flaschenpost, die von einer einsamen Insel herstammt, theoretisch durchaus denselben Inhalt haben wie das Flugblatt, das womöglich sofort die Massen erreicht.

Der Staat aber ist es, der nach ganz bestimmten, durchaus veränderlichen Maßgaben entscheidet, wann dieser Inhalt Theorie ist und wann Praxis, er muß ja überall bestimmen, wo sein Gewaltmonopol verletzt wird, wo der Spielraum der (Zivil-)Gesellschaft endet und der Spaß aufhört – und ebendort einschreiten. Das für ihn Ungefährliche wird dabei als Theorie geschieden von dem, was als staatsfeindliche Aktivität abzuwehren ist. Der Staat verbietet prinzipiell keine Theorie; er kann ihr Erscheinen verbieten oder einschränken – aber das ist bereits eine Frage der Praxis, und hier ist er in seinem Element. So wenig Interesse er an ihr auch zeigt, der Staat ist der eigentliche Hüter der Theorie – denn er ist der logische Feind der Freiheit: „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist.“ (Kant) [4]

So hat eine Theorie, die ihre eigenen Voraussetzungen nicht in Frage stellt, den Staat verinnerlicht: sie beschränkt sich darauf, das automatische Subjekt des Kapitals getreu widerzuspiegeln; Kritik heißt hingegen der Versuch, diesem „in uns denkenden Subjekt“ zu widersprechen – und sie kann sich dabei wirklich nur auf die Freiheit berufen. (Ist es das, was in der Theorie süchtig macht: der Widerspruch, solange er nicht praktisch werden kann? )

Ohne Kapital keine Verselbständigung in der Vermittlung von Theorie und Praxis, ohne Staat keine Demarkationslinie zwischen Theorie und Praxis. Einer befreiten Gesellschaft müßte sich das Problem von Theorie und Praxis nicht mehr stellen – oder in ganz anderer Weise. Wenn darin nämlich jemand eine Idee hat, die allein oder mit anderen verwirklicht werden soll, wird das vielleicht auch als ein Problem von Theorie und Praxis bezeichnet werden, aber mit einer Theorie, die süchtig macht, und einer Praxis, die sich dem Gewaltmonopol auszusetzen hat, kann das alles nichts mehr zu tun haben.

[1Zit. n. Werner Blumenberg: Karl Marx in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1976, S. 37

[2Vgl. hierzu das Sucht-Heft von Ästhetik & Kommunikation (109/2000): „Regelrecht süchtig. Die neue Signatur der Gesellschaft.“

[3Vgl. hierzu Joachim Bruhn: Karl Marx und der Materialismus. Thesen über den Gebrauchswert des ‚Marxismus‘. In: Bahamas 33/2000, S. 59-64; sowie Initiative Sozialistisches Forum (ISF): Der Theoretiker ist der Wert. Freiburg 2000

[4Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werkausgabe hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. VII. Frankfurt am Main 1982, S. 673

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