Streifzüge, Heft 61
Juni
2014

Die Apokalypse-Stummheit

Für das Enorme war plausiblerweise die normale menschliche Sprache nicht „gemacht“, auf dessen Benennung, Darstellung und Bewältigung nicht vorbereitet. [1] Der Aufgabe, das Maß- und Grenzenlose, mit dem wir uns seit 1945 pausenlos konfrontiert wissen – nein: eben kaum „wissen“, mit dem wir konfrontiert eben „nur“ sind – der Aufgabe, die mögliche Auslöschung der Menschen sprachlich zu bewältigen, diese Möglichkeit unseren Mitmenschen mitzuteilen und diese Mitmenschen angemessen zu erschrecken – dieser Aufgabe sind wir nicht gewachsen; begreiflicherweise nicht – und dies, obwohl es keine Aufgabe gibt, deren Erfüllung auch nur annähernd so wichtig wäre.

Der Tatsache, von der ich vor 35 Jahren beim ersten Versuch, die atomare Situation zu durchdenken, ausgegangen war: der Tatsache, dass wir unfähig bleiben, uns das Enorme, obwohl wir selbst, mindestens unsereins, es herstellen, vorzustellen [2] oder auch nur angemessen zu fühlen, dieser Tatsache unserer „Apokalypseblindheit“ entspricht nun auch unser Sprechen. Womit ich meine:
Was zu groß für unsere Vorstellung ist, das ist auch zu groß für unsere Sprache, das können wir nicht in Worte fassen, das ist „unsäglich“. (Und umgekehrt.) Kurz: wir sind auch „apokalypsestumm“.

Natürlich bedeutet diese Feststellung nicht, dass wir (womit viele Trivialirrationalisten sogar gerne prahlen) außerstande seien, das zu Große (damit das Wichtigste) denkend zu bewältigen, sogar froh darüber sein sollten, das denkend nicht zu können. Und nicht etwa, dass wir das nur als Fühlende könnten (und dass wir darauf sogar stolz sein dürften).

Reinster Unsinn! Was gilt, ist sogar das Gegenteil davon. Nicht, dass wir irrational seien, behaupte ich. Umgekehrt gerade, dass wir „inemotional“ sind. Das heißt: außerstande, das zu Große zu fühlen. (Es zu denken sind wir sogar mehr oder weniger fähig.) Denn zu denken, wenigstens irgendwie zu meinen, dass es durch einen Atomkrieg mit dem Leben hienieden zu Ende wäre, dieses Ungeheuerliche zu meinen, dazu sind wir ja sogar imstande; fast jeder „versteht“ mich ja, wenn ich diesen Satz ausspreche, worin immer auch dieses „Verstehen“ bestehen mag. [3]

In anderen Worten: „beschränkt“, und zwar aufs Verhängnisvollste, sind wir nicht als Denkende, sondern gerade als emotionale Wesen. „Gefühlsidioten“ sind wir.

Aus dem § 1 von „Sprache und Endzeit“ (= Die Antiquiertheit des Menschen, Dritter Band), Erstabdruck in FORVM Nr. 423/424, März/April 1989, S. 4. © Gerhard Oberschlick.

[1Ich verwende zur Benennung des alle „proportiones humanas“ Überragenden nicht, wie Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“, den Ausdruck „erhaben“. Noch Oppenheimer hat, überwältigt durch den ersten Atompilz, das Wort „grandios“ ausgesprochen und, „gebildet“ im falschen Moment, sogar einen theologischen Text zitiert. – Nein, der Augenblick des atomaren Blitzes, der Anblick des vernichteten Hiroshima und der Ausblick auf die unentrinnbare Wiederholung, die sind wahrhaftig nicht „grandios“ oder „erhaben“.

[2„Die Antiquiertheit des Menschen“ Bd. I, S. 235 ff.

[3In der Tat in sehr wenigem. Denn dieses Verstehen bleibt ja so fern vom „Verstandenen“, so unbeteiligt, dass man es geradezu als blödes Verstehen bezeichnen dürfte. Leider gilt (um Hegels Wortspiel zu übernehmen), dass nicht alles, was ich meinen kann, dadurch automatisch auch schon „meines“ sein oder werden kann.

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