Café Critique, Jahr 2002
 
2002

Die Geburt der Operette aus dem Geist der Warenform

Johann Strauß und Eduard Hanslick

I

Bereits für die erste von Strauß‘ Operetten, Indigo und die vierzig Räuber von 1871, fand Eduard Hanslick seinen Begriff für diese Art von Musikdramaturgie: „Strauß‘sche Tanzmusik mit unterlegten Worten und vertheilten Rollen.“ [1] Und im folgenden zerlegt Hanslick die Operette mit eigenartiger Akribie, geradezu liebevoll, in ihre Bestandteile: „Einen heiteren oder auch nur behaglichen Text kann Strauß in gar keiner anderen Form denken, als in der des Walzers oder der Polka. Alle schnellen oder mäßig beschleunigten Tempi im Indigo fallen in diese Rubrik; ja selbst in manchen der sentimentalen Nummern entdeckt ein schärferes Auge verschämt verschleierte Tanzmelodien. Wo sich ein Allegro oder Allegretto zeigt, da schiebt der Walzerkönig den Operncomponisten ohne Mühe beiseite; dabei macht er seine Sache sehr gut, so gut, daß die Füße und Füßchen der Hörerschaft unter den Sperrsitzen toll zu werden beginnen. Als mitten in der Ouvertüre solch ein rattenfängerisches Polka-Thema auftauchte, geschah das Unerhörte, daß die Galerien jetzt schon in jubelnden Beifall ausbrachen: die Leute träumten sich offenbar im Volksgarten. Gleich in der Introduction des ersten Actes folgt dem (nichts weniger als originellen, aber wohlklingenden) Allegretto eine unverfälschte Polka (‚Der Bajaderen Wahlspruch sei‘). In der hübschesten Nummer der Oper, dem Terzett im ersten Acte, mündet das einleitende Andante gleich in ein Polka-Motiv (‚Dort an der blauen Donau‘) und schließt mit einem echt Strauß’schen allerliebsten Walzer: ‚Ja so singt man!‘ Das erste Lied des Eselstreibers ist eine maskirte Polka, sein zweites im Refrain (‚Nur Esle‘) ein unmaskirter Walzer von zweideutigster Herkunft. Das Lied des Narren in B-Dur schleppt sich in seiner ersten Hälfte (‚O ihr Thoren‘) zäh und monoton hin, schließt aber mit einer Polka, deren Abstammung von einer sehr populären Ahnfrau, Namens ‚Pechpolka‘, wenn ich nicht irre, durch allgemeinen Applaus agnoscirt wurde. Die incorrecte Declamation des Textes erregt in dieser Nummer, und in noch mancher anderen, den entschiedensten Verdacht, daß die Melodie früher da war, als der Text.“ [2] In seinem 25 Jahre später geschriebenen Nachruf auf Strauß kann Hanslick diesen Verdacht bestätigen – hier heißt es: „‚Indigo‘ strotzte von Melodien, aber man merkte ihnen an, daß sie nicht aus dem Text heraus geboren waren. Strauß selber hat mir gestanden, daß meine Vermutung richtig gewesen und daß sein Textdichter zu meist fertigen Musikstücken nachträglich die Worte gut oder übel unterlegen mußte.“ [3]

Im selben Sinn beurteilte Hanslick zunächst auch die beiden folgenden Operetten Carneval in Rom von 1873 und Die Fledermaus von 1874: „Voll hübscher Einfälle, tragen aber trotzdem beide Opern den Charakter von großen Potpourri’s aus Walzer- und Polkamotiven.“ [4] Nicht zufällig spricht Hanslick weiterhin von Opern und kritisiert Strauß als Opernkomponisten. Das neue Genre ist noch gar nicht als solches erkennbar. Zugleich legt Hanslick damit offen, woher die Kategorien seiner Kritik stammen. „Wir beobachten hier die interessante Thatsache, wie ein in bestimmten, musikalischen Denkformen eingewohnter Componist dieselben auch an ungehörigem Orte nicht los wird, d.h. wie er auch seine Opern aus offenen oder versteckten Tanzmelodien zusammensetzt. Die Gewohnheit seiner ganzen künstlerischen Carrière bringt es ferner mit sich, daß er auch für diese Art melodischer Erfindung keinen langen Athem hat, sie niemals breit und behaglich ausführt, sondern immer rasch wieder abspringt zu einem neuen Motiv.“ [5] Und nun bringt Hanslick drei Gegenbeispiele „wie der Walzer dramatisch behandelt“ werden könne: das erste Finale aus Marschners Hans Heiling, das zweite aus Gounods Faust und ebenfalls das zweite Finale aus Lecoqs Madame Angôt: „In allen drei Fällen ist die Walzermelodie dramatisch gefordert; von allen drei Componisten wird sie breit ausgesponnen, durch Zwischensätze, welche sich dem Dialog dicht anschmiegen, flüchtig unterbrochen, dann wieder aufgenommen und in immer höherer Steigerung zu Ende geführt. Es ist in allen drei Opern das einzige vorkommende Walzermotiv.“ [6] Die Straußschen Operetten hingegen „überhäufen den Hörer von Anfang an mit so vielen gesungenen Walzer- und Polkathemen, die kaleidoskopisch einander drängen“, ohne ein einziges von ihnen dramatisch zu verarbeiten. „So sehen wir denn in den drei Operetten von Strauß ein unstreitig glänzendes Talent außerhalb seiner rechten Sphäre. Daß jene immerhin noch besser, weil musikalisch erfindungsreicher sind, als die meisten übrigen Wiener Producte dieser Gattung, sei zugestanden, aber mit dem dramatischen Leben und Esprit der besseren Stücke von Offenbach oder Lecoq halten sie keinen Vergleich aus. In theatralischer Composition sind eben die Franzosen in ihrem eigensten Element, geradeso wie Strauß geschrieben, wird man nicht seine Opern, sondern seine Walzer rühmen und hätte er auf die ersteren noch hundertmal mehr Mühe verwendet.“ [7] Und Hanslick schließt mit einer großen Lobrede auf den damals noch jungen Walzer „An der schönen blauen Donau“: „Die Donau-Walzer von Strauß haben aber nicht bloß eine beispiellose Popularität, sie haben eine ganz merkwürdige Bedeutung erlangt, die Bedeutung eines Citates, eines Schlagwortes für Alles, was es Schönes, Liebes, Lustiges in Wien gibt, sie sind dem Österreicher nicht bloß schöne Walzer wie andere, sondern ein patriotisches Volkslied ohne Worte. Neben der Volkshymne von Vater Haydn, welche den Kaiser und das Herrscherhaus feiert, haben wir in Strauß‘ ‚Schöner blauer Donau‘ eine andere Volkshymne, welche unser Land und Volk besingt. Wo immer in weiter Ferne Wiener sich zusammenfinden, da ist diese wortlose Friedens-Marseillaise ihr Bundeslied und Erkennungszeichen. Wo immer bei einem Festmal ein Toast auf Wien ausgebracht wird, fällt das Orchester sofort mit der ‚Schönen blauen Donau‘ ein. Man kann sich das gar nicht mehr anders denken, denn diese uns Allen eingeprägte Melodie sagt deutlicher, eindringlicher und wärmer als alle Worte, was über das Thema ‚Wien‘ Schmeichelhaftes gesagt werden kann.“ [8]

Wenngleich hier das Schmeichelhafte und das Patriotische weniger national, als lokal, weniger auf Österreich als auf Wien bezogen bleibt, bietet die Schlußpassage des Artikels über Strauß – wenige Jahre nach Königgrätz und der Einigung des Deutschen Reichs – die Aussicht auf eine Sonderrolle der österreichischen Musik. Hier knüpfte in der Folge die Musikpublizistik geradezu emphatisch an. Ideologisch deutlicher auf die Einheit der Habsburger Monarchie ausgerichtet erweist sich in diesem Sinn die Strauß-Rezeption bei Guido Adler – insbesondere in dessen Gedenkrede auf den verstorbenen Komponisten 1899 vor den Studenten des neugeründeten Instituts für Musikwissenschaft an der Universität Wien (die auszugsweise in der Neuen Freien Presse wiedergegeben wurde). Hier erscheint Strauß wie ein musikalischer Doppelgänger von Franz Joseph: In seinen Melodien „liegt die Einigung der Völker Österreichs und ihrer nationalen Weisen: der Walzer als deutsches Erzeugniß, Polka und Mazur als ursprünglich slavische Producte. In der Quadrille zeigt er sich als Beherrscher von Tongebilden romanischen Ursprungs.“ [9] (Eberhard Würzl meint wohl zu recht, daß Adler hier die Tänze ungarischer Herkunft aus damals üblicher Diplomatie unerwähnt ließ. [10])

Im Zeichen einer solchen Ideologisierung - die nach dem Untergang der Monarchie vor allem im Zeichen der Hebung des Fremdenverkehrs maßgeblich werden sollte - konnten sich sogar bei Eduard Hanslick die Operetten von Strauß ein wenig einschmeicheln: insbesondere im Nachruf von 1899/1900 erscheinen sie bei ihm in einem deutlich milderen Licht – die Fledermaus avanciert dank des Wiener Milieus gar zum Meisterwerk: „Strauß‘ Meisterwerk ‚Die Fledermaus‘ verdankt ihren anhaltenden, außerordentlichen Erfolg gewiß zumeist der reizvollen Musik, aber diese war nicht denkbar ohne die durchaus lustige, auf Wiener Boden übertragene Handlung.“ [11] Ein Vierteljahrhundert zuvor beklagte Hanslick noch die „schlechte Beschaffenheit“ der Textbücher der Fledermaus und des Carneval in Rom: „Es gehörte schon einige Kunst dazu, zwei gute französische Theaterstücke so gründlich jedes geistreichen und anmuthigen Reizes zu entkleiden und in die Trivialität des Wiener Vorstadtwitzes herabzuziehen.“ [12]

Es war Karl Kraus, der diesen ursprünglich kritischen Ton von Hanslick aufnahm, als er 1899 seinen Nachruf auf Strauß in einer der ersten Nummern der Fackel publizierte. Ähnlich wie Hanslick in seinen frühen Kritiken unterscheidet er zwischen einem authentisch volkstümlichen Tanzkomponisten und einem Operettenkomponisten, der sich einer anderen gesellschaftlichen Sphäre akkommodiert, wobei Kraus wesentlich sozialkritischer oder auch nur moralischer gegen diese Sphäre argumentiert: „Im Takte seiner ‚Schönen blauen Donau‘ begann sich eines Tages eine Gesellschaft von Jobbern und Reportern zu wiegen; ein Ring von Tarockspielern und Theateragenten hielt seitdem fast mit physischer Gewalt die Schöpferkraft des Genius umschlossen. Damals starb Johann Strauß, heiratete und ward Ehrenmitglied der ‚Concordia‘. An dem Tage, da das geistige Wien sich den Zwischenträgern der Cultur zu eigen gab, da der naivste und echteste Schöpfer auf die Bahn hastigen Tantièmenerwerbs geführt ward, hat die Tragödie Johann Strauß‘ ihren Anfang genommen. In einem Zeitraum von zwanzig Jahren, in welchem die Erhaltung aller künstlerischen Ursprünglichkeit dem Volke so nothwendig gewesen wäre, wurde der musikalische Inbegriff des Wienerthums zum Gebrauche des Börsensalons hergerichtet.“ [13] Kraus änderte seine Meinung nicht mehr – nicht um eine Nuance kam er dem ‚größten Wiener‘ seiner Jugendzeit entgegen, gerade gegen solche lokalpatriotische Sentimentalität kämpfte er zeitlebens an. Noch 37 Jahre später, in der letzten Nummer der Fackel fand er es „unbegreiflich“, daß die Fledermaus „jemals ertragen werden konnte“: die „Tonmeisterung“ von Johann Strauß lasse „einer entgeistigten Welt die Bühne nur als Tanzlokal erkennen [...].“ [14] Allerdings gesteht er dem Champagner-Finale „außerhalb der Bühne“ doch „hohen Musikwert“ zu.

II

So sehr sich nun Hanslick am Ende des 19. Jahrhunderts dem Zeitgeschmack angepaßt haben mag, auch er behält im großen und ganzen sein kritisches Urteil über die Wiener Operetten bei. Strauß habe sich nach dem Indigo zwar von der „dilettantischen Methode“, den Text zur Musik nachträglich hinzuzufügen, „größtenteils befreit“, aber er sei „jederzeit mehr der rein musikalisch erfindende, als der dramatisch schaffende Opernkomponist“ geblieben. [15] (Hanslick läßt hier – vielleicht aus Pietät – das Operetten-Projekt Wiener Blut unerwähnt, worin Strauß kurz vor seinem Tod dieser dilettantischen Methode eigentlich die größte Konzession gemacht hat, indem er es zuließ, daß zu einem für ihn geschriebenen Libretto die Musik aus dem Vorrat seiner berühmtesten Tänze zusammengestückelt wurde. Im Einvernehmen mit Strauß betätigte sich dabei Adolf Müller als Partiturbastler, fügte die Musikstücke der vergangenen Jahrzehnte – zurückreichend bis in die sechziger Jahre – aneinander und klebte sie an den Text.)

Insbesondere kritisiert Hanslick in seinem Nachruf die Versuche von Strauß, das komische Fach zu verlassen: „Wo, wie in der ‚Fledermaus‘, Scherz und Frohsinn den ganzen Stoff durchdringt und Tanzrhythmen emporwachsen läßt, da spendet Strauß sein Bestes und Echtestes. In sentimentalen oder gar tragischen Scenen stockt sein Puls, und er wird leicht gezwungen, uninteressant, banal. Das beweist manches Stück im ‚Zigeunerbaron‘ [...].“ [16] Als geradezu „gewaltsam“ erscheint Hanslick darum auch Ritter Pazman, über den er lieber nicht viele Worte verliert. „Des Wiener Publikums war er sicher und auf die lustigsten seiner Operetten durfte er stolz sein. Aber jede Macht ist an eine Ohnmacht gebunden. Seine Macht lag in den kleinen Formen, den Tanzrhythmen, dem Frohsinn; seine Ohnmacht in den breiten Ensembles, der dramatischen Charakteristik, dem leidenschaftlichen Gefühlsausdruck.“ [17]

Wenn aber Strauß auch im Tragischen versagt haben mag, warum gelang ihm - in der Sicht von Hanslick - auch nicht das „lustige“ Ensemble und die Charakteristik im Komischen? Strauß kam von der Tanzmusik, die Operette wurde buchstäblich aus dem Tanz geboren - aber warum blieb es bei Straußscher Tanzmusik mit unterlegten Worten und Potpourris aus Walzer- und Polkamotiven, warum entwickelte sich aus dem Tanz nicht ein Medium dramatischer Konflikte? Das ist die Frage, die Hanslicks Strauß-Kritik unausgesprochen läßt, die sich aber insbesondere vor dem Hintergrund der Wiener Klassik und der Mozartschen Oper - Paradigma von Hanslicks ästhetischem Verstand - stellt. Denn bei der Genese von Symphonie und Oper, bei der Dramaturgie der Harmonik, wie sie die Sonatenhauptsatzform entfesselte, hatte gerade der Tanz mit seiner spezifischen Periodik eine bedeutsame Rolle gespielt. Das wußte auch Richard Wagner, der im übrigen den Tanz und dessen Periodik mit erstaunlicher Konsequenz aus seiner Musik verbannte: Im Kunstwerk der Zukunft bergreift Wagner den „harmonisierten Tanz“ geradezu als Basis der Symphonie seit Haydn. [18]

Am schlüssigsten hat vermutlich Charles Rosen das Verhältnis des klassischen Stils zur Periodik des Tanzes dargelegt: Die kurze, gegliederte Phrase, die Periode, die bei ihrem ersten Auftreten den Barockstil sprengte, und den klassischen Stil konstituierte, „steht mit dem Tanz in Verbindung, der regelmäßige Periodengruppen braucht, um mit den Tanzschritten und Abschnitten übereinzustimmen.“ Der klassische Stil, so Rosen, war „seiner Herkunft nach ein komischer Stil. Das heißt nicht, daß er nicht die tiefsten und tragischsten Gefühlsregungen ausdrücken konnte, aber das Tempo des klassischen Rhythmus ist das Tempo der komischen Oper, seine Periodik ist die der Tanzmusik, und seine Großstrukturen sind Dramatisierungen dieser Perioden.“ [19] Statt wie im barocken Stil in gleichmäßigen Tempo und ohne dynamische oder rhythmische Kontraste von der Tonika zur Dominante zu fließen, konnten die Themen und Motive auf der Grundlage dieser Periodik in verschiedenen Tonarten, Rhythmen, Lautstärken und Tempi kontrastiert werden. So war Mozart imstande, die Musik zum Medium dramatischer Konflikte zu machen – und etwa darzustellen, daß die Liebe mitnichten die Liebenden einander annähert, sondern ihre Gegensätze zur Entfaltung bringt.

Tatsächlich blieb eine solche Dramatisierung des Tanzes aus, als Johann Strauß hundert Jahre später von der Tanzmusik erneut den Schritt auf die Bühne machte und aus Walzern und Polkas seine Operetten formte. Man vergleiche nur das Fest des Grafen Orlofsky mit dem des Don Giovanni: Wie weit geht Mozart in der berühmten Szene mit den drei Tänzen in der Auflösung der metrischen Ordnung, um die Gegensätze der Paare herauszuarbeiten, während Strauß einfach nur Csárdás, Polka und Walzer aneinanderhängt; oder wie harmonisch und rhythmisch spannungslos ist das Duett von Eisenstein und der als ungarischer Gräfin verkleideten Rosalinde im Vergleich zu einer der vielen Verkleidungsszenen der Mozartschen Opern, in denen gegensätzliche Gefühle, bewußte Verstellung und unbewußte Einstellung musikalisch reflektiert werden. [20] Das zweite Finale der Fledermaus zeigt, wie die Straußsche Musik nach dem fulminanten Beginn der ersten 25 Takte („Im Feuerstrom der Reben“), die von Mozarts Entführung inspiriert sein könnte, plötzlich harmonisch absackt und rhythmisch verkümmert: es beginnt bereits mit dem kruden Unisono-Gesang auf a bei „stoßt an“ und nimmt seinen Fortgang mit den drei, von jeder harmonischen Spannung ungetrübten Dreiklangsbrechungen zu „anerkannt, anerkannt rings im Land“, bei denen man das Fest sogleich verlassen möchte, denn mit ihnen wird all das anerkannt, was Don Giovanni auf seinem von der Champagner-Arie entworfenen Fest in Frage gestellt hat.

Während im Figaro der Graf an einer der unglaublichsten Stellen der Partitur die Gräfin um Verzeihung bittet - Mozart verwendet bei dieser langsamen, herabsteigenden Geigenfigur ein musikalisches Motiv, das er in schnellerem Tempo die ganze Oper hindurch exponiert und verarbeitet hatte - spricht der Straußsche Eisenstein zu einem banalen Tremolo der Geigen: „Rosalinde vergib deinem treuen Gabriel. Du siehst nur der Champagner war schuld!“ [21] Verfremdet Mozart in einer hastigen Mollsequenz eben jenes Motiv, das zuvor langsam in den Geigen erklungen ist, um zu einem Finale überzuleiten, das - statt die Individuen zu versöhnen - weibliche und männliche Stimmen gegeneinander setzt, wiederholt Strauß einfach das Finale des zweiten Akts und entsorgt den Ehekonflikt im Champagner. Darin könnte man immerhin eine Parodie des Komödien-Finales sehen – und nur so läßt sich vermutlich heute dieser Schluß glaubhaft in Szene setzen. [22] Es bleibt allerdings eine etwas plumpe Parodie – ganz der Plumpheit des heutigen Regietheaters entsprechend. Mozart hatte eine wesentlich feinere im Finale von Così fan tutte komponiert.

III

Der Vergleich mit Mozart soll keineswegs die kompositorischen Fähigkeiten von Johann Strauß herabsetzen. Es geht vielmehr um unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten, um die gesellschaftlichen und historischen Bedingungen dafür, warum es Johann Strauß nicht gelang, die engbegrenzten musikalischen Denkformen zu sprengen und noch einmal aus der Periodik des Tanzes dramatische und musikalische Formen zu schöpfen. Und gerade hierfür liefert Hanslicks Strauß-Kritik Anhaltspunkte.

Am Beginn seines Aufsatzes beschreibt er sehr ausführlich den Aufstieg von Johann Strauß und dessen tägliche musikalische Praxis. Schließlich hatte Strauß – in die Fußstapfen seines Vaters tretend, zunächst sogar als Konkurrent – beinahe dreißig Jahre als Tanzmusik-Kapellmeister und -Komponist gewirkt, ehe er seine erste Operette schrieb (von seinem Debut beim Dommayer in Hietzing im Jahr 1844 bis zur Uraufführung von Indigo am Theater an der Wien 1871). In dieser Zeit habe Strauß, „unermüdlich für den musikalischen Bedarf des Carnevals sorgend, die unglaubliche Zahl von dreihundert Werken geliefert. Lauter Tanzmusik. [...] Durch diese Verhältnisse war das Talent Johann’s [...] von allem Anfang fraglos auf eine strengbegrenzte Bahn, die der Tanzmusik, gewiesen und auf derselben in ununterbrochener, aufreibender Thätigkeit festgehalten. Vielleicht wäre dieses Talent auch in höhereren Kunstsphären heimisch und stark geworden, wenn es sich früh hätte auf größere Aufgaben werfen und durch tiefere Studien kräftigen können. Allein wer 25 Jahre in der Tanzmusik gelebt, ausschließlich und in enormen Quantitäten Tänze componirt hat, der vertauscht später nur schwer dieses Feld und selten ungestraft [...] Ein Schilderer von Stillleben und Thierstücken, der plötzlich Historienmaler wird, eine Dichter-Specialität im Epigramm oder Sonett, welche sich an Drama wagt: sie haben schwerlich einen grelleren Übergang, eine schwierigere Stellung. Die Einseitigkeit, in welche das ganze musikalische Denken eines durch Jahrzehnte thätigen specifischen Tanzcomponisten geräth, hat kaum eine Analogie in den übrigen Künsten. Er kommt aus dem hüpfenden Rhythmus, der knappen strengen Symmetrie, der populären Wirkung niemals heraus.“ [23]

Es liegt nahe, diesen Zwang zur einseitigen, von musikalischer Arbeitsteilung bestimmten Produktion, dem Johann Strauß, aber auch schon sein Vater ausgesetzt war, mit Mozarts Arbeitsbedingungen zu vergleichen. Hanslick aber macht diesen Vergleich nicht – zu sehr ist Mozart für ihn offenkundig ins absolut Musikalische entrückt, um mit solchen alltäglichen materiellen Belangen in Zusammenhang gebracht zu werden. Tatsächlich sah sich Mozart keineswegs ökonomisch gezwungen, in einer einzigen kleinen musikalischen Gattung zu produzieren. Die Sphären der Musik waren zu seiner Zeit zwar ausdifferenziert in Tanzmusik und Konzertbetrieb, ‚Unterhaltungstheater‘ und Hoftheater, aber noch nicht definitiv getrennt. So konnte der Komponist des 18. Jahrhunderts zwischen den Sphären wechseln, im gesamten Spektrum musikalischer Praxis gleichsam flottieren, und es war gerade Mozart, der – freilich nach Haydns Vorbild - aus diesem Wechsel der Sphären und Gattungen die dramatischen Spannungsverhältnisse, die Einheit des Mannigfaltigen, das Gleichgewicht des Ungleichen - all das was man mit der Wiener Klassik verbindet - entwickelte. Diese Kunst verdankte sich einer einmaligen, nicht wiederkehrenden gesellschaftlichen Situation: einem Gleichgewicht von absolutistischer Adelsherrschaft und bürgerlicher Gesellschaft. Bürgerlicher Konzert- und Opernbetrieb erlaubten den Komponisten eine gewisse Emanzipation aus der Einbindung in die höfische Kultur. Als Gegengewicht aber war diese Kultur durchaus noch wirksam, so daß der Komponist nicht völlig dem Diktat des Marktes unterworfen werden konnte. Ein prekäres Gleichgewicht, wie insbesondere Mozarts Werdegang zeigen kann.

Für spätere Komponisten wie Schubert, Lanner und Strauß Vater war es bereits nicht mehr wirksam. Strauß Vater allerdings gelang es, aus der veränderten Situation heraus den modernen Typus des Unterhaltungsmusik-Komponisten zu schaffen und entsprechende ökonomische und künstlerische Methoden zu entwickeln. Norbert Linke hat sehr anschaulich dargestellt, wie Strauß Vater dabei den Typus des „Show-Dirigenten“ kreierte, als Manager die Verwertung der Musik kalkulierte und etwa einen regelrechten Musikbetrieb eröffnete, in dem erstaunlich arbeitsteilig produziert wurde: während Strauß Vater die musikalischen Ideen und Themen lieferte, besorgten andere das Arrangement und die jeweilige Instrumentation; [24] zwei Orchester ermöglichten Tourneen, ohne den Betrieb am Wiener Standort zu unterbrechen. Peter Wicke räumt Strauß Vater und Sohn angesichts solchen Unternehmungsgeistes ein eigenes Kapitel in seiner Kulturgeschichte der Popmusik ein („Der Bürger tanzt“) und spricht von „komponierenden Manufakturbetrieben“ und „Walzerunternehmen“, die „rund vierzig Musikern und ihren Familien ein Auskommen gab.“ [25] Auch erwähnt Wicke, daß dem Verleger Haslinger die zukünftig noch zu komponierenden Werke mit einer genau spezifizierten jährlichen Lieferquote in jeder Tanzgattung zugesichert wurden und Strauß Vater bei seinen Auftritten Werbeblätter des Verlags an das Publikum verteilen ließ, auf denen die Bezugsmöglichkeiten der Klavierausgaben der zur Aufführung gelangenden Walzer aufgelistet waren.

Es war dieser Betrieb, der sich als Gebrauchswert u.a. den Wiener Walzer schuf. Er schöpfte dabei aus dem vorhandenen überlieferten Material an musikalischen Formen, prägte sie allerdings auch in spezifischer Weise um. Unverkennbar eignet der umfangreichen Walzer- ,Polka- und Marsch-Produktion eine gewisse Standardisierung. Und sie geht vor allem vom Rhythmus aus – und nimmt darin gewisse Entwicklungen der Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts vorweg. Auch zwischen den einzelnen Instrumenten setzt sich nun die Arbeitsteilung durch: Hatten früher die Instrumente im wesentlichen gemeinsam den Tanz-Rhythmus getragen, allenfalls von einem den Rhythmus markierenden Schlaginstrument unterstützt, so wird dies nun zur Hauptaufgabe der Begleitung, die entsprechend stereotype Formen annimmt. Dadurch ergab sich allerdings neue, auch rhythmische Gestaltungsfreiheit für die Melodiestimmen – und tatsächlich besteht die Schönheit der besten Walzer vor allem von Strauß Sohn in der freien Bewegung der Melodieführung und ihrer bewußten Gegenbewegung zum Walzerryhthmus. Hector Berlioz hat in seinen Memoiren den „eigentümlichen Reiz“ bewundert, der dadurch entsteht, daß Strauß „verschiedene Rhythmen gegeneinander und aufeinander anwendet [...].“ [26] In dieser Polyrhythmik könnten sogar Antizipationen des späteren Jazz herausgehört werden. Mit diesem teilt selbst der raffinierteste Walzerrhythmus von Strauß Sohn allerdings auch den Zwang, sich letztlich doch immer dem in der Begleitung festgestampften Beat zu beugen. Dieser Beat des Walzers, der hier „Hum-ta-ta“ lautet, ist zur musikalischen Signatur warenförmigen Komponierens geworden.

Zur Standardisierung gehört die Produktion nicht nur gleich strukturierter sondern auch gleich großer Stücke. Lanner und Strauß Vater reduzierten zu diesem Zweck die bereits üblich gewordenen, aber noch subjektiv und in beliebiger Länge aneinandergereihten „Walzerketten“ von zumeist achttaktiken Motiven auf vier bis fünf „Partien“ und versahen sie mit einer Introduktion und einer Coda. Jeder Walzer oder jede Walzer-Reihe mußte schließlich eine ansehnliche Verpackung (das Titelblatt der Verlagsausgabe), vor allem aber einen signifikanten Titel oder Namen erhalten. Der Titel besaß mitunter einen Bezug zu irgendeinem aktuellen Anlaß (Krönungswalzer aus Anlaß einer Krönung; Eisenbahn-Lust-Walzer aus Anlaß der Eröffnung einer Eisenbahnstrecke usw.), aber er stand in keinem Zusammenhang mit der Musik selbst, von einzelnen illustrativen Momenten in der Musik hie und da und von Ausnahmen wie der Pizzicato-Polka abgesehen. Es herrschte etwa dieselbe Notwendigkeit der Namensgebung wie bei den Möbelstücken von IKEA: die Gattung Walzer oder Polka reicht sowenig aus wie die Bezeichnung Regal oder Tisch, um die einzelne Ware unter soviel Regalen und Tischen zu bestimmen; die Nummer oder Opuszahl aber klingt einfach zu abstrakt, um den Konsumenten anzusprechen; und so vermittelt das Titelregister von Johann Strauß einen frühen Eindruck von der marktförmigen Beliebigkeit der Postmoderne: Walzer tragen den Titel Dividenden, Controversen oder Leitartikel. Eine Polka trägt den Namen Herzerl, so wie ein IKEA-Regal eben Billy heißt. [27]

Auf diese Weise verfestigte die Warenform die musikalische Denkform, von der Hanslick spricht. Sie stiftete den Zwang, der die Musikproduktion von Strauß Sohn determinierte und sich mit jedem Erfolg erneuerte und vergrößerte. Sie konstituierte die „strengbegrenzte Bahn“ und die „ununterbrochene, aufreibende Thätigkeit“, in der dieser Komponist festgehalten wurde und ermöglichte die enormen Quantitäten, die er produzierte. Die Genialität von Johann Strauß Sohn aber bestand gerade darin, daß er in seinen besten Werken gegen dieses stählerne Gehäuse musikalischer Warenform ankämpft und dabei immer wieder im vorgegebenen, buchstäblich engen Rahmen des Gebrauchswertsversprechens klassische Strukturen wie Durchführungs- und Variationsform beleben kann.

IV

Fast könnte man sagen, Johann Strauß versuchte den Weg zu Mozart zurückzugehen, als er seine erste Operette fürs Theater an der Wien schrieb und seine erste und letzte, ernste Oper für die Hofoper. Aber das Theater an der Wien der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hatte nicht mehr viel zu tun mit Schikaneders Truppe im Freihaustheater. Auch für diesen Funktionswandel des Theaters finden sich in Hanslicks Strauß-Kritik Anhaltspunkte: so spricht er davon, daß man die „Sünden des Textbuches“ durch eine „wahrhaft blendende Ausstattung gutzumachen“ suchte. „Für Strauß kann es aber doch nicht gerade eine Ehre sein, Musik zu schönen Kleidern zu schreiben.“ [28] Exakt dies scheint tatsächlich die Funktion zu sein, die das neue Genre der Musik zuweist – und insofern kann die Operette durchaus als früheste Form der Modenschau gelten.

Nun spielte auch bei den ersten Aufführungen von Mozarts Zauberflöte wie überhaupt im Schikanederschen Theaterbetrieb die Ausstattung, wie man weiß, eine hervorragende, oft alles entscheidende Rolle. Der Unterschied ist nur, daß damals die Ausstattung noch Selbstzweck war und also solcher Musik und Handlung in den Hintergrund drängen konnte. In der Operette jedoch läßt die Ausstattung bereits einen fremden Zweck erkennen - der sich aber erst aus heutiger Sicht zu erkennen gibt: Aufforderung zum Konsum, Werbung ohne Marken gewissermaßen, anonyme Reklame. War es im 18. Jahrhundert der absolutistische Staat, der für die Realisierung des Mehrwerts zu sorgen hatte und also das Geld auftrieb und ausgab, um den Verwertungsprozeß in Gang zu setzen und zu halten, so werden nun in der Gründerzeit - Endzeit des Absolutismus in Österreich -, die einzelnen Bürger selbst aufgefordert, den Mehrwert en detail zu realisieren, der mittlerweile in viel größerem Ausmaß und auf industrieller Basis durch Lohnarbeit produziert wird, und also statt protestantische oder josephinische Askese individualistische Veschwendung einzuüben.

So gesehen bekommt das Fest des Grafen Orlofsky geradezu pardigmatische Bedeutung für das nun anbrechende Zeitalter, an dessen Ende die Reklame als absolut herrschende Form von Öffentlichkeit steht: „Ein Souper heut uns winkt, wie noch gar keins dagewesen [...] Alles, was mit Glanz die Räume füllt, erscheint uns wie ein Traumgebild, wie in einen Zauberkreis gebannt, ruft alles: ha, charmant [...] Wie fliehen schnell die Stunden fort, die Zeit wird sicher keinem lang; es heißt ja hier das Losungswort: Amüs‘ment, Amüs’ment, nur Amüs’ment.“ [29] Der Herr des Festes, Graf Orlofsky, erscheint mit seinem berühmten Couplet vollends als Allegorie des Verwertungszwangs des Kapitals, als Vorwegnahme der Freizeitindustrie. Wenn hier das Zwanghafte des Konsums noch als persönliche Marotte oder nationale Eigentümlichkeit („s’ist mal bei mir so Sitte, chacun à son goût“) eines einzelnen Adeligen phantasiert wird, dann nur, weil dieser Zwang sich noch nicht allgemein und als abstrakt herrschender in jedem einzelnen Individuum durchgesetzt hat. Die gesellschaftliche Zwangsneurose des Warenkonsums, die gerne als dionysischer Rausch ausgegeben wird, ist vor Brechts und Weills Mahagonny vermutlich niemals vollendeter dargestellt worden als in diesem II. Akt der Fledermaus: „Ich lade gern mir Gäste ein, man lebt bei mir recht fein, man unterhält sich wie man mag, oft bis zum hellen Tag. Zwar langweil ich mich stets dabei, was man auch treibt und spricht; indeß, was mir als Wirt steht frei, duld ich bei Gästen nicht. Und sehe ich, es ennüyiert sich jemand hier bei mir, so pack ich ihn ganz ungeniert, werf ihn hinaus zur Tür [...] Wenn ich mit andern sitz beim Wein und Flasch‘ um Flasche leer’, muß jeder mit mir durstig sein, sonst werde grob ich sehr. Und schenke Glas um Glas ich ein, duld ich nicht Widerspruch; nicht leiden kann ich’s, wenn sie schrein: ich will nicht, hab genug! Wer mir beim Trinken nicht pariert, sich zieret wie ein Tropf, dem werfe ich ganz ungeniert die Falsche an den Kopf [...].“ [30]

Die angedeutete Gewaltsamkeit in Orlofskys Aufforderung zum Konsum ist ebenfalls mehr als bloße Marotte. In ihr ist etwas von jenem Gewaltzusammenhang spürbar, den die Verwertung des Werts nun einmal erfordert. Im Zigeunerbaron, wo der Wein zum Anwerben fürs Militär dient, wird dieser Kontext schließlich manifest, wobei Strauß ganz unironisch - anders als Offenbach also - die Nähe des Walzers zur Marschmusik auskomponiert. Im Titel eine anderen Strauß-Operette ist diese Nähe auf den Punkt gebracht: Der lustige Krieg.

Schon für die Phase um 1848 fällt auf, daß sich offenkundig besonders die im Genre des Walzers eingespielten Komponisten zur Marschmusik eignen: Strauß Vater komponierte allein im Revolutionsjahr neun Märsche, darunter den berühmten Radetzkymarsch. Im Vergleich zur späteren Marschmusik-Literatur in Deutschland und Österreich verhalfen die ‚Walzerkomponisten‘ dieser militärischen Musikform freilich zu einem besonderen Glanz und Schwung – der ein wenig den mildernden Einfluß des Jazz auf die amerikanische Marschmusik vorwegnimmt. Gerade hier erweist sich übrigens Eduard Hanslick wiederum als ein Kritiker, der ganz nach Maßgabe eines Systems voneinander vollkommen abgeschlossener Sphären urteilt. So konstatierte er den „hüpfenden Tanzcharakter“ in den Märschen der Straußdynastie, tolerierte ihn aber nur soweit, als der Marsch „nicht aufhört, männlich zu sein“, denn „der Marsch soll unter allen Umständen bewaffnete Musik bleiben.“ [31] Die Operette war Hanslick nicht zuletzt deshalb suspekt, weil sie in seinen Augen die Sphären zu vermischen drohte – und wie etwa im Zigeunerbaron Tanz und Marsch vermählte.

V

Der Champagner fungiert im Operetten-Genre als eine Art Symbol des Warenkonsums. Und so ist es durchaus logisch, daß am Ende der Fledermaus - wenn das Finale des zweiten Akts über die Misere, oder besser: den Kater des dritten hereinbricht - alle Konflikte darin verschwinden. Wie deus ex machina löst der Warenkonsum alle Konflikte; oder besser, das Resultat löscht sein Gewordensein aus. Genau das findet auch in der Musik statt: die Montage von Walzer, Polka oder Csardas stellt tendenziell die Dynamik der Sonatenform still, bei der noch das Resultat und sein Gewordensein die Musik ausmachten. Nun interessiert bloß noch das Resultat, und der Einfall wird als solcher fetischisiert. Und es sind gerade die Einfälle, die an Strauß so gerühmt werden, nicht zuletzt von Hanslick.

Aus diesem Fetischcharakter, den die Musik angenommen hat, gibt es eigentlich nur mehr einen Ausweg: die Parodie. Sie lacht gewissermaßen das Resultat als falsches, unechtes aus. Und so gesehen entfaltet Mahagonny wirklich das Wahrheitsmoment, das in der Fledermaus und in der Operette insgesamt steckt. Es sind die besten dramaturgischen Momente der Strauß’schen Operette, wo die Parodie sich offen Bahn bricht - wie im ersten Akt der Fledermaus, der die eheliche Treue auf Offenbachsche Weise verspottet - oder auch nur im Verborgenen wühlt - etwa wenn Frau Eisenstein aus Wien als ungarische Gräfin verkleidet, einen Csardas anstimmt: „Feuer, Lebenslust, schwellt echte Ungarbrust, hei!“ Angesichts der totalisierten Warenform wird alles unecht und untreu – und über diese Enttäuschung kann seltsamerweise gelacht werden. Dies hat Nestroy schon vorgemacht und die Operette tut es ihm in ihren besten Exemplaren nach. Die schwächsten Momente der Strausschen Operette sind darum wirklich jene von Hanslick monierten Versuche, ernst zu machen mit Musik und Handlung, das Parodistische zu sistieren.

Es kann also nicht darum gehen, Johann Strauß gleichsam vorzuhalten, daß er keine Mozartsche Musikdramaturgie mehr erschaffen habe - genausogut könnte man ihm vorwerfen, daß er nicht hundert Jahre früher geboren worden ist. Es geht um das Schicksal und die Möglichkeiten der nachklassischen Musik. Tatsächlich finden sich bei Schubert bereits kompositorisch ähnliche Probleme – nur hat er im Liedschaffen ein andere, letztlich flexiblere, rhythmisch nicht derart fixierte Form und schließt sich anderen Gattungen gegenüber nicht völlig ab. Aber daß er von Einfällen förmlich überschwemmt oder verfolgt wird, die er in dieser Fülle kaum mehr im großen Maßstab durchführen und verarbeiten kann, für jeden Einfall vielmehr ein eigenes Lied verwendet, worin dieser Einfall sich wiederholen, gleichsam im Kreis drehen läßt und für sich möglichst lange genossen werden kann - all das erinnert nicht zufällig an die Walzerproduktion von Johann Strauß Vater & Sohn.

Allerdings kann Schubert noch die Trauer über den Verlust klassischer Souvernität, letztlich über den Verlust des Subjekts, in spezifischer Weise zum Ausdruck bringen und zum Grundcharakter seines unprofitablen Schaffens machen, während sie bei Strauß nur als zeitweilige dunkle Tönung erscheint, die das Tanzvergnügen nicht hemmt: Wermutstropfen im Champagner. Im letzten Lied der Winterreise stellt sich schlagartig Nähe und Ferne zwischen Strauß und Schubert her: „Wie in den besten und individuellsten Werken anderer Romantiker ist die Wirkung in einem Schubert-Lied kumulativer und nicht syntaktischer Art. Der Extremfall ist ‚Der Leiermann‘ aus der Winterreise, der zwar durch die Gestalt einiger späterer Phrasen einen leichten Intensitätszuwachs erhält, dessen herzzerreißende Wirkung aber vor allem auf die reine Wiederholung [...] zurückgeht.“ [32] Und gerade darin spricht der Leiermann die Wahrheit über die eben entstehende Unterhaltungsmusik aus.

Wer den Zusammenhang von Franz Schubert und Johann Strauß in diesem Sinn deutet und darin die Trauer über die Durchsetzung der Warenform, über die Vereinzelung der Individuen unterm Gesetz des Tauschwerts wahrnimmt - eine Trauer, die gleichwohl dazu anspornt, wo es nur geht, den Genuß festzuhalten und bis zum Letzten auszukosten - wer die Musik von Schubert und Strauß so deutet, verwendet allerdings nicht mehr die Kategorien von Eduard Hanslick, sondern jene eines Kritikers des 20. Jahrhunderts, der als einziger würdig wäre, als Nachfolger Hanslicks in die Geschichte einzugehen, sollte das Urteil über diesen einmal revidiert werden: Theodor W. Adorno. Adorno hat sie in den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelt – nicht jedoch am Walzer, sondern am Jazz [33], der schließlich auch die Nachfolge des Walzers antrat.

aus: Straussiana 1999. Bd.2. Hg. v. Monika Fink u. Walter Pass Tutzing 2002

[1Eduard Hanslick, Johann Strauß der Operncomponist, in: Die moderne Oper, Bd.1, Berlin 1875, S.335

[2Hanslick, Johann Strauß der Operncomponist, S.335f.

[3Eduard Hanslick, Johann Strauß †, in: Aus neuer und neuester Zeit. (Der modernen Oper IX. Teil) Musikalische Kritiken und Schilderungen, 3. Aufl., Berlin 1900, S.307

[4Hanslick, Johann Strauß der Operncomponist, S.339

[5Hanslick, Johann Strauß der Operncomponist, S.339

[6Hanslick, Johann Strauß der Operncomponist, S.339

[7Hanslick, Johann Strauß der Operncomponist, S.340

[8Hanslick, Johann Strauß der Operncomponist, S.340 f.

[9Neue Freie Presse 7. 6. 1899

[10Eberhard Würzl, Die Bühne nur als Tanzlokal? Zum Operettenschaffen von J. Strauß, in: Österreichische Musikzeitschrift, Sonderheft: Sträuße für Strauß, Wien o. J. (1999), S.34

[11Hanslick, Johann Strauß †, S.308

[12Hanslick, Johann Strauß der Operncomponist, S.338

[13Die Fackel 7/1899. S.1f.

[14Die Fackel 917-922/1936. S.64f.

[15Hanslick, Johann Strauß †, S.307

[16Hanslick, Johann Strauß †, S.308

[17Hanslick, Johann Strauß †, S.309

[18Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, in: Gesammelte Schriften, Hg. v. Julius Kapp, Leipzig o.J. (1914), Bd. 10. S.97

[19Charles Rosen, Der klassische Stil. Haydn, Mozart, Beethoven, Deutsch von Traute M. Marshall, München 1983, S.60 u. 105

[20Vgl. hierzu Elisabeth Höllerer, Die Hochzeit der Susanna. Die Frauenfiguren in Mozarts Le nozze die Figaro, Hamburg 1995

[21Johann Strauß, Die Fledermaus. (Vollständiger Klavierauszug mit Text von Anton Paulik), Mainz o. J., S.193

[22Auch Volker Klotz interpretiert sie in diesem kritischen Sinn: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, München 1991, S.119

[23Hanslick, Johann Strauß der Operncomponist, S.334f.

[24Vgl. hierzu Norbert Linke, Musik erobert die Welt, Wien 1987, S.164

[25Peter Wicke, Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Leipzig 1998, S.65ff.

[26Zit.n. Wicke, Von Mozart zu Madonna, S.69

[27Karl Kraus trifft diesen Punkt, wenn er intuitiv die Annonce eines Schuhwarenhändlers als Symbol für das Schicksal der Straußschen Musik heranzieht: „Auf einem Zeitungsinserat war neulich der Stefansthurm zu sehen, von dessen Höhe ein speculativer Schuhwarenhändler seine Ware der Wiener Menschheit feilbietet. In seiner einfachen Symbolik hat dies Annoncenbild das Schicksal aller Volksthümlichkeit schmerzlich ahnen lassen.“ Nur verklärt Kraus dabei die frühe Produktion von Strauß, die selbst schon vom Warencharakter durchdrungen war, zur „künstlerischen Ursprünglichkeit“ des Volks, und vermag darum ihren Verfall nicht auf die Dynamik des Warencharakters in der Musik zurückzuführen, sondern sucht in den Charatermasken des Musik- und Theaterbetriebs, in den „Zwischenträgern der Cultur“ die Schuldigen: d. h. er personifiziert das Kapital, wenn er von den „Jobbern“ spricht, die sich im Takt der Strauss’schen Musik wiegten, von „Theateragenten“, die „die Schöpferkraft des Genius“ „fast mit physischer Gewalt umschlossen“ hielten. (Die Fackel 7/1899. S.1f.) Aber es war die Warenform, die dem Strauß’sche Genie ebensosehr Raum zur Entfaltung gab, als sie es mit fast physischer Gewalt umschlossen hielt.

[28Hanslick, Johann Strauß der Operncomponist, S.338

[29Strauß, Fledermaus (Klavierauszug), S. 67-72

[30Strauß, Fledermaus (Klavierauszug), S.73-75

[31Eduard Hanslick, Oesterreichische Militärmusik, in: E.H., Aus dem Concertsaal, Wien 1870, S.54

[32Rosen, Der klassische Stil, S.512

[33Als ausgesprochener Liebhaber Wiens und als Schüler von Alban Berg hat er sich in der Kritik an Johann Strauß bedeutend weniger getraut als Hanslick - bedeutend weniger auch als Karl Kraus, der als Intimfeind Wiens eben keinerlei Skrupel hatte, Hanslicks Strauß-Kritik von 1875 zuzuspitzen. Adornos Bemerkungen zu Johann Strauß bleiben wie absichtlich, wie aus Höflichkeit, oberflächlich. In der Einleitung in die Musiksoziologie fungiert Strauß neben Offenbach als ein Komponist, der belegt, daß bis „tief ins 19. Jahrhundert hinein [...] leichte Musik zuweilen mit Anstand möglich“ gewesen sei. Auch Adornos Kritik trifft nicht den Walzerkomponisten, sondern den Operettenkomponisten, verläßt aber nicht die Ebene des Librettos: „Bei Johann Strauß, dessen eigentliche Kompositionsbegabung vielleicht die Offenbachs noch übertraf – wie genial ist das Thema des Kaiserwalzers wider das Gefälle des Walzerschemas erfunden -, kündigt der Niedergang sich an in den abgeschmackten Libretti ebenso wie in einer instinktunsicheren Neigung zum aufgedonnerten Opernwesen [...] Was nach Offenbach und Strauß kam, hat ihr Erbe schnell vergeudet. Nach ihren unmittelbaren Nachfolgern, die noch etwas aus besseren Tagen hüteten wie Lecocq, kamen die abscheulichen Ausgeburten der Wiener, Budapester und Berliner Operette.“ (Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 14, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1980, S.200)