FORVM, No. 46
Oktober
1957

Eine ganz kleine Bucht

Wenn der nachfolgenden Skizze da und dort eine sonderbare, aus Melancholie und Weisheit sanft gemischte Stimmung innewohnt, wie man sie bei diesem sonst eher kampflustigen Autor nur selten antrifft, so mag das daher rühren, daß er demnächst — am 21. Oktober — sechzig Jahre alt wird. Wir nehmen das ungern zur Kenntnis und haben nicht die Absicht, Alexander Lernet-Holenia, der unserer Zeitschrift seit ihren Anfängen aufs engste verbunden ist, aus solchem Anlaß noch eigens zu feiern. Denn wir feiern ihn jedesmal, wenn wir einen seiner Beiträge drucken, und wir gedenken das noch sehr oft und sehr, sehr lange zu tun.

Die gewaltigen Felswand, die auf eine Strecke Weges so gut wie lotrecht, ja oft überhängend, in unsern See fallt, ist gegen ihr östliches Ende, mit dem sie aus dem Wasser zurücktritt und den Berghang hinansteigt, waldiges Land vorgelagert, das, breit beginnend, mählich in eine Spitze ausläuft. Danach versucht es noch einmal, am Felsen hinzuziehen, verliert sich aber aufs neue; und wo die geröllige Waldspitze endet und das waldüberwachsene Gerölle noch einmal beginnt, reicht das Wasser, indem es eine kleine, flachwinkelige Bucht bildet, bis fast an die Felsenwand.

Wenn der Wind in diesen schon kühleren Tagen über den See weht, ist die Luft in der sonnenbeschienenen Bucht noch warm. Die Bäume und das Strauchwerk zur Linken und zur Rechten der Bucht schützen sie vor der Kühle des Windes, der, vom Morgen bis gegen den Mittag, Süd- und Südostwind ist, dann aber zu einem aus dem Norden kommenden Schönwetterwind wird, der sich im Tale herumbiegt und aus dem Westen zu kommen scheint; und am schönsten ist die kleine Bucht in der Stille zwischen dem Morgenwind und dem Mittagswind. Sonnige Wellchen — weil der Seespiegel ja doch nie ganz stillhalten will — rieseln gegen den Kies, der aus Felssplittern entstanden ist, ihre Lichter spielen auf dem Steine, die Wand wirft die Sonnenwärme zurück, und das erhitzte Holz des verwitterten Waldes, das Moos, mit dem die zerzausten Bäume bewachsen sind, ja der Stein und das Wasser selbst beginnen zu duften.

Der Duft dieser erhitzten Stelle schwebt mir auf den See entgegen, und es ist mir, als ob immer noch Sommer wäre. Doch sind wir schon im September. Wer aber, eigentlich, „wir“? Wer sonst als ich ist denn noch da? Ich also, ich allein. Aber freilich ist auch noch der Hund vorhanden. Ihm ist, von der vielen Sonne auf der Fahrt hierher, heiß geworden. So hebe ich ihn denn über den Bootsrand und tauche ihn ins Wasser; und er schwimmt langsam und gemessen ans Ufer, wobei ihn seine großen Ohren, wie Flügel, auf dem glatten Wasser begleiten. Schließlich findet er Boden unter den Füßen, steigt hinaus auf die Steine, schüttelt sich, und sein Halsband klingelt. Sonst ist alles still, nur aus der Ferne, vom andern Ufer her, wo die Straße dahinführt, tönt noch ein wenig Lärm des herbstlich eingeschränkten Verkehrs und das gedämpfte Rollen eines Lokalbahnzuges. Es erinnert an das Grollen eines Sommergewitters. Lange Zeit hat es mit zum Salzkammergute gehört, wird nun aber wohl wie alles, was noch wirkliches Salzkammergut ist, bald nicht mehr sein.

Hier also, in dieser Stille unter der ungeheuren Felswand, versuche ich an all die Dinge zu denken, die mir im Lärm des Daseins wichtig geworden sind. Ich denke zum Beispiel, ob das gute Wetter noch eine Zeit anhalten wird; ob aus Toni Sailer, der jetzt auch filmt, am Ende doch noch ein verwendbarer Spenglermeister werden wird (oder ist er Installateur?); ob die amerikanische Botschafterin Booth Luce in den Himmel kommen wird, der österreichische Vizekanzler aber nicht; ob es dem Präsidenten der Salzburger Festspiele vergönnt sein wird, auch dort, im ewigen Leben, noch Festspielpräsident zu bleiben; ob das Burgtheater auch mit seinem letzten großen Mißerfolg auf Tournee gehen und, wie gewöhnlich, mit einem ebenso großen Erfolg zurückkommen wird; ob es denn überhaupt noch Theaterdirektoren gibt, die keine Rheinländer sind; ob Heimito von Doderer so groß ist wie Robert von Musil, oder ob er gar noch größer ist; und das bringt mich auf Gedanken über den Adel im allgemeinen. Ich versuche also zu denken, ob ein Buch, das ich zu Ehren der österreichischen Aristokratie geschrieben habe und das bald erscheinen dürfte, die österreichische Aristokratie ebensosehr freuen wird wie die Klubmitglieder des Wiener Rennvereines, die gleichfalls darin vorkommen. Auch unserer Industrie widme ich einen Augenblick des Gedenkens und frage mich, ob ich sie, einen Teil der schweizerischen mit inbegriffen, durch mein jüngstes Eingreifen in die Politik sehr viel Geld gekostet habe, wie aus ihrer sauren Reaktion hervorgeht; und von da ist’s nicht weithin, auch vom Finanzminister und seinen Beamten zu träumen, die wiederum mich schon so viel Geld gekostet haben. Ich träume also, daß ein bestimmter Hofrat, den man bei einer argen Unregelmäßigkeit betreten hat, statt Sektionschef zu werden, pensioniert worden ist. Aber das ist wirklich nur ein Traum ...

Ich träume in der Stunde, in der der große Pan schläft, wie die Dichter um die Jahrhundertwende, Harden und Stucken und wie sie damals sonst noch hießen, beziehungsweise nicht hießen, wohl noch gesagt hätten. Die Sonne fällt mit all ihrer herbstlichen Kraft auf die Felswand, und fast will die Luft wieder zu glitzern beginnen wie im Hochsommer. Über mir, in Kirchturmhöhe etwa, zeichnet sich im Felsen, von der Natur gebildet, die Rücken- und Stirnlinie, das Auge und Ohr eines enormen Elefanten oder Mammuts ab; und noch höher, ziemlich weit rechts, knapp unter der waldigen Stirn des Felsens, tritt, gleichfalls von der Natur erschaffen, die Figur eines riesenhaften, rüttelnden Raubvogels, etwa eines Falken, hervor.

Es ist anzunehmen, daß der Fels, um dieser beiden Tierbilder willen, doch wohl auch aus andern Gründen, von Urzeiten her für heilig gegolten hat — ja sogar noch das Christentum hat ihn durch eine Art von Kalvarienweg über den Paß, der den Vorberg vom Berge trennt, geweiht. Und ich beginne, von denen zu träumen, die einstmals aus dem Flachlande hierher in die Bergwildnis gekommen sein mögen, um oben auf dem Felsen Opfer, vielleicht Menschenopfer, zu bringen oder sie gar herab in die Tiefe zu stürzen. Und rings um mich fängt es an, von den Schatten dieser Menschen, der Opferer wie der Geopferten, zu wehen und zu rieseln. Und ich träume von einer Art von Unvergänglichkeit des Lebens und von der Vergänglichkeit des Todes.

Aber auf einmal merke ich, daß, was ich für die schimmernden Schatten der Toten gehalten habe, gar keine Schatten sind. Es sind kleine, rieselnde, lebendige Wellen. Der Wind aus dem Westen ist da. Es ist Mittag.

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