Café Critique, Jahr 2007
Februar
2007

Europas Verständigung

Saul Friedländers Buch über die Jahre der Vernichtung

In einer Denkschrift des Berliner Auswärtigen Amts vom 3. Juli 1940 heißt es, die Juden, soweit man sie nach Madagaskar deportiert, sollen „als Faustpfand in deutscher Hand“ bleiben: „für ein zukünftiges Wohlverhalten ihrer Rassegenossen in Amerika“. – Am 28. Juli erklärt Hitler in Salzburg dem slowakischen Präsidenten Tiso, Deutschland sei fest entschlossen, einen Wirtschaftsblock aufzubauen, der „unabhängig von dem als internationaler Judenschwindel zu bezeichnendem Gold“ sein würde. – Walter Benjamin schreibt am 2. August aus Marseille an Adorno in den USA: „Ich bin verurteilt, jede Zeitung (sie erscheinen hier nur noch auf einem Blatt) wie eine an mich ergangne Zustellung zu lesen und aus jeder Radiosendung die Stimme des Unglücksboten herauszuhören.“ – Unter den Zustellungen, zu denen Millionen Juden in Europa verurteilt sind, firmieren auch die Kulturnachrichten: im September präsentiert Veit Harlan auf dem Filmfestival in Venedig unter großem Beifall seinen Film Jud Süß.

Die Allgegenwart der Vernichtung kann doch einzig in solchen Fakten und Zitaten zum Ausdruck kommen. Unzählige davon hat Saul Friedländer gesammelt – aus den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft, die keine mehr war; Monat für Monat dieser „Jahre der Vernichtung“ wird durch ihre Zusammenstellung nicht positivistisch dokumentiert, sondern im Eingedenken bezeugt. Wer sein Buch liest, weiß in jedem Moment, daß ebenso gut unzählige weitere hinzugefügt werden könnten.

Ihre Montage ist keineswegs beliebig: sie folgt dem Prinzip, die Erfahrungen und die Hoffnung der Opfer kontinuierlich den Handlungen und dem Bewußtsein der Täter entgegenzusetzen. Im Sommer 1941 schreibt Wehrmachtssoldat „Franzl“ aus Tarnopol seinen Eltern nach Wien: „Bis jetzt haben wir zirka 1000 Juden ins Jenseits befördert aber das ist viel zu wenig für das, was die gemacht haben.“ Zu Silvester begrüßt Eliszewa im Ghetto in Stanislawów das kommende Jahr: „Vielleicht wirst du glückbringender sein für unser altes, elendes Volk, dessen Schicksal in den Händen des Ungerechten liegt. Und noch eines. Was immer du mir bringst, ob Leben oder Tod, bring es rasch.“

Eine Konsequenz der Darstellung liegt darin, daß die diversen Totalitarismus- und Faschismustheorien durchaus sabotiert werden. Was diese Theorien subsumieren, ist in Wahrheit durch Lage und Bestimmung von Tätern und Opfern geschieden: „Während in der Sowjetunion die Elite terrorisiert war und die Bevölkerung in einer Atmosphäre lebte, in der sich Furcht und Bewunderung für den würdigen Jünger von Marx und Lenin mischten, war Hitler von der hysterischen Verehrung und dem blinden Vertrauen so vieler Menschen über so lange Zeit hinweg umgeben, daß auch noch weit nach Stalingrad zahllose Deutsche seinen Siegesversprechen Glauben schenkten. Nichts Derartiges galt je für Mussolini …“ Die Hauptfrage, die Friedländer gegen Ende stellt, lautet, warum Millionen und Abermillionen von Deutschen Hitler bis um Ende blind nachfolgten, warum viele am Ende immer noch an ihn glaubten, wodurch also der Führer den Geführten „Gemeinschaftsgefühl und Zielbewußtsein“ einflößen konnte. Dabei hat er die Antwort mit seinem ganzen Buch schon gegeben: Anfang 1943, heißt es darin einmal, waren die Informationen über die massenhafte Vernichtung im Reich so weit verbreitet, daß sie die Mehrheit der Bevölkerung erreicht hatten.

Wie um zuletzt noch zu vergegenwärtigen, von welchem Ort aus die Darstellung geschrieben ist, schließt sie mit der Situation, in der die Überlebenden sich befinden: „Immer wieder zog die Vergangenheit sie zurück in überwältigendes Entsetzen, und durchgängig weckte sie auch nach all den Jahren die unzerstörbare Erinnerung an die Toten.“ Auf dem Cover sind Kinder aus Theresienstadt abgebildet. Saul Friedländer ist selbst Überlebender: 1932 als Kind deutschsprachiger Juden in Prag geboren, flohen seine Eltern mit ihm 1939 nach Frankreich, er überlebte versteckt in einem katholischen Internat. Sein Vater und seine Mutter wurden – nach einem gescheiterten Fluchtversuch in die Schweiz – deportiert und ermordet.

Das Entsetzen in der Erinnerung nicht preiszugeben, formuliert schon das Vorwort als Programm und wendet sich damit gegen die geläufige Historisierung, gegen „das Ziel des historischen Wissens“, „die Fassungslosigkeit zu domestizieren, sie wegzuerklären“. Das Buch versucht Geschichte zu schreiben wie Claude Lanzmann seine Filme macht: geleitet von Erfahrung, mit der aber nicht Unmittelbarkeit vorgegaukelt wird, die vielmehr fortwährend reflektiert. So hätte Friedländer das „Gemeinschaftsgefühl und Zielbewußtsein“ der Deutschen, damit die Einheit des NS-Staats gewiß nicht so scharf ins Auge fassen können, wäre er nicht durch den postnazistischen „Widerschein des Nazismus“ hindurch auf dieses Gefühl und dieses Bewußtsein erst gestoßen. Nachdem er 1948 im israelischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft, in Tel Aviv, Paris und Genf studiert hatte, sah er sich damals, als Professor zwischen Tel Aviv und Genf pendelnd, mit einer bizarren Nostalgiewelle in der Kultur des westlichen Europa konfrontiert. Sein großer Essay Kitsch und Tod von 1982 erkannte im Kitsch aktueller Filmproduktionen perfide Reklame für den Tod – jene Sehnsucht nach dem eigenen Untergang, die nur die andere, ichbezogene Seite des Vernichtungswahns ist, der sich gegen die Juden richtet. Der Tod, so schrieb er damals, sei das zentrale Thema und die Moral all dieser Geschichten von Fassbinder, Syberberg, Visconti, Liliana Cavani (Der Nachtportier), Michel Tournier (Der Erlkönig) u. a. Durch die Wirkung solcher, im emphatischen Sinn postnazistischen Filme und Bücher wurde Friedländer „auf den generellen Ursprung zurückgeführt, dem die Wirkung des Nationalsozialismus selbst entspringt … Der Nazismus und der Widerschein des Nazismus entsprechen einander.“

Ein deutscher Historiker wie Hans Mommsen fühlt sich hingegen immer nur veranlaßt, „tiefe Erschütterung“ zur Schau zu stellen, er habe das Buch Friedländers „als Deutscher zugleich mit einem Gefühl der Beschämung“ gelesen (FR, 4. 10. 2006). Versucht er der Erschütterung dann auf den Grund zu gehen, kommt ihm lediglich die Verflochtenheit der „beteiligten Politikfelder“ in den Sinn. Allerdings sei, so Mommsen, durch die „narrative Darstellungsform“ Friedländers, in deren bewußtem Verzicht auf „wissenschaftliche Distanz“, die Funktion von Tätern und beteiligten bürokratischen Institutionen marginalisiert worden. Erschütterung und Beschämung sind eben oft kompensatorische Funktion davon, daß man eigentlich die Schuld der Täter durch die Funktion der beteiligten bürokratischen Institutionen marginalisiert zu sehen wünscht.

Gerade dort, wo Friedländer selbst von den Institutionen ausgeht und das NS-System an sich und isoliert von den Erfahrungen der Opfer analysieren möchte, kommt er zu falschen Schlüssen. Er spricht etwa im Vorwort, wie um den sogenannten Funktionalisten unter den Historikern Rechnung zu tragen, von der „kollektiven Mobilisierungsfunktion ‚des Juden‘“: „Für ein Regime, das auf fortwährende Mobilisierung angewiesen war, diente der Jude gleichsam als treibende Kraft.“ Hier, wo die Kritik politischer Begriffe vonnöten wäre, hätte vielleicht die Auseinandersetzung mit theoretischen oder philosophischen Versuchen wie denen Adornos, Moishe Postones oder Ludwig Fackenheims Klarheit schaffen und dem falschen, weil selber totalitären Begriff von Funktion auch eine begriffliche Absage erteilen können. Sobald Friedländer allerdings mit dem Material konfrontiert ist und in dessen Analyse sein Denken entfaltet, muß er sich auch schon selbst widersprechen und hält – so im Fall der finnischen Juden – fest, daß es nicht nur „keinen wirtschaftlichen Nutzen für die Volksgemeinschaft“ gab, sondern auch nicht „irgendeinen anderen politischen oder ökonomischen Vorteil, wie man ihn sooft herangezogen hat, um den Feldzug der Nazis gegen die Juden zu erklären – es war nichts als pure ideologische Wut.“ Daran ändert sich auch nichts, wenn dieser Wut reelle politische Vorteile für die Wütenden entspringen.

So eröffnete „annihilation for the sake of annihilation“ (Fackenheim) den Deutschen nicht zuletzt eine europäische Perspektive, konnten doch die Nationalsozialisten mit jener Vernichtungswut nicht nur bei der Bevölkerung in Deutschland, sondern – wenn auch in unterschiedlicher Dichte und Intensität und mit bestimmten nationalen Ausnahmen (Dänemark, Bulgarien) – in ganz Europa rechnen. Ohne es ausdrücklich hervorzuheben, macht Friedländers Buch wie kaum eine anderes deutlich, daß der Massenmord an den europäischen Juden und der Versuch, Europa unterm Nationalsozialismus zu einen, voneinander nicht zu trennen sind. Mittel und Zweck werden vordergründig geradezu austauschbar, so sehr sind Vernichtung und Vereinigung eins, und es erscheint mitunter der Antisemitismus als Mittel zur europäischen Vereinigung: „Der Jude muß aus Europa heraus. Wir kriegen sonst keine europäische Verständigung“, sagte Hitler Anfang 1942 zu seinen Getreuen. Friedländer, der mit dem Mai 1945 endet, wirft unwillkürlich die ideologischen Grundlagen der heutigen europäischen Verständigung auf – einer Verständigung die des inneren Feinds entbehrt. Die Frage findet sich nicht einmal zwischen den Zeilen des Buchs und kann sich doch bei der Lektüre stellen: Welche Rolle spielt eigentlich der Haß auf Israel und auf dessen Schutzmacht, der in der Bevölkerung Europas mehr denn je um sich greift, bei dieser Verständigung, für die man keine Verfassung findet?

Jud Süß erhielt damals auf dem Filmfestival in Venedig natürlich viele überschwengliche Kritiken. Michelangelo Antonioni, nachmals ein führender Vertreter europäischer Filmkunst, schrieb eine davon, und sie lobt den Film, als wäre dessen Ästhetik zugleich die von ihr geförderte Vernichtungspolitik: „Dies ist ein überzeugender, prägnanter, außerordentlich wirkungsvoller Film … Es gibt nicht einen einzigen Augenblick, in dem das Tempo des Films nachläßt, auch nicht eine Episode, die sich nicht harmonisch in alle anderen einfügt: Es ist ein Film, der durch völlige Einheit und Ausgeglichenheit charakterisiert ist …“

zuerst erschienen in Jungle World 9/2007