FORVM, No. 200/201
August
1970

EWG: Vergeudete Ressourcen, entmenschte Arbeitswelt

I. Teil einer Analyse

0.

Die Bilanz der europäischen Gemeinschaften, die Bilanz der Integrations- oder Antiintegrationspolitik der Mitgliedstaaten ziehen, das verlangt die gesellschaftliche Wirklichkeit Europas ebenso wie seine weltpolitische Lage im ganzen zu erfassen, seine politische Struktur ebenso wie seine ökonomische Realität mit ihren Widersprüchen und Haupttendenzen, mit den daraus resultierenden Interessenkomplexen — und nicht etwa nur die bei dieser Integration vorgestellten Absichten mit ihren Ideologien und Rationalisierungen. Jede andere Art von Bilanz wäre trügerisch. Eine Aufzählung etwa der Ratsbeschlüsse und Vorlagen der Kommission der Gemeinschaften, die Entschließungen des Europäischen Parlaments hinzugenommen, wäre nicht nur kaum jemandem zuzumuten, sie bliebe auch ohne politischen Aussagewert. Denn darüber haben uns zwei Jahrzehnte Integrationspolitik belehrt, daß ihre Ursachen und Folgen — oder auch ihre Folgenlosigkeit — nicht aus Vertragstexten und Beschlüssen abzulesen sind.

0.1.

Die westeuropäische Gemeinschaft ist von ihren Gründern als Weg und Instrument beschrieben worden, Europa aus der Vergangenheit herauszuführen und seiner Gegenwart anzunähern; sogar entschiedene Gegner haben ihr den Charakter „objektiver Notwendigkeit“ nicht aberkannt. [1]

Die meisten Bedingungen unserer Existenz, die politischen Instrumente, die soziale Verfassung und Organisation, auch die meisten Denkinstrumente entstammen nicht nur der Vergangenheit, sie sind Vergangenheit. Die Frage: wie erreichen wir die Gegenwart, wie schaffen wir Instrumente und Bedingungen für ein uns angemessenes Leben, hier und jetzt — sie sollten als Antrieb hinter dem Integrationsunternehmen in Westeuropa vermutet werden dürfen. Sie bestimmten jedenfalls die Postulate, die in die Gründungsverträge eingebracht wurden.

Eine friedfertigere Organisation von Staat und Gesellschaft, besseres Leben durch angemessenere Nutzung der Produktivkräfte und eine gesellschaftliche und politische Verfassung, die den Menschen Freiheit ermöglicht — und das heißt zu jener wie zu dieser Stunde: Befreiung von unnötiger Abhängigkeit und Fremdbestimmung der Europäer wie Europas, gleich ob von innen auferlegt oder von außen: dies sind die Versprechen, mit denen die Integration der westeuropäischen Staaten verbunden wurde. An ihnen sind darum Bilanz und Perspektiven zu orientieren: nicht die Leistung von Administrationen gilt es in erster Linie zu erfassen oder deren Effekt in Handels- und Profitsteigerungsraten, sondern eine Antwort auf die Frage: Was hat die Gemeinschaft bisher für die Befreiung der Menschen und die Freisetzung ihrer Fähigkeiten geleistet, was verspricht, was eingeleitet ist, und welches sind die Widerstände, Hindernisse und Gegner?

1.

Trotz „Gemeinschaft“ — mit ihr und ohne sie — entfalten sich die produktiven Kräfte unzureichend und in beängstigender Einseitigkeit. Westeuropa hat ganz offenbar alle Voraussetzungen, um die unermeßlichen Möglichkeiten in Wissenschaft und Technologie für die Menschen, für eine menschenwürdige Gesellschaft zu nützen. Aber diese Chance wird nur in einem beschämend geringen Maß genützt; sie wird auf einseitige und perverse Art genützt; die EWG-Industriegesellschaft sieht wie eine Karikatur aus und verhöhnt alle Ansprüche auf ein gutes Leben.

1.1.

Über den Sachverhalt besteht weiterhin Übereinstimmung, soweit es um die Chancen geht. Westeuropa ist zweifellos eine bevorzugte Region. Ersparen wir uns zum x-ten Mal, uns vorzurechnen, welch ungeheures menschliches Potential in unseren Ländern bereitsteht: an Lernfähigkeit, an schon ausgebildeter und noch ausbildbarer Lernfähigkeit, an schöpferischer Phantasie, aber auch an akkumulierten Produktionsmitteln, an Infrastruktur jeder Art, an Erfahrungen und Reichtümern. Ersparen wir uns auch, zu wiederholen, was ohnedies niemand in Frage stellt, von Paris bis hin nach Moskau: daß nämlich die wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Integration ganz allgemein die Chancen für den Aufbau einer leistungsfähigen Gesellschaft erheblich steigern kann, das Argument ist so alt und unwiderlegt, daß man sich allerdings fragen muß, warum trotz solcher Übereinstimmung die Integration so schleppend geht.

Selbstverständlich geht es uns besser; oder doch vielen von uns; oder doch zumindest insofern besser, als immer mehr Konsumgüter erzeugt und verteilt werden; und wem es ganz schlecht geht, in Kalabrien sagen wir, der kann versuchen, Arbeit in anderen Gemeinschaftsländern zu finden. Gewiß, die Älteren unter uns sind sicher, daß vieles besser geworden ist; was nach Wirtschaftskrise und Kriegselend allerdings kein Maßstab und den Jüngeren mit Recht gleichgültig ist.

Aber im Vergleich zu dem aus Wissenschaft und Technologie sich eröffnenden Möglichkeiten: was machen wir aus den vorhandenen Produktivkräften? Die Antwort ist nicht so rosig, wie die diversen Wirtschaftswunder möchten glauben machen. Wir vergeuden die produktiven Kräfte in grotesker Weise. Und zwar vor allem aus zwei Gründen:

  • durch unsere Unfähigkeit, den für eine optimale wirtschaftliche Entwicklung geeigneten Rahmen zu schaffen, und
  • durch unsere Unfähigkeit, die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen herzustellen, in denen die Menschen selbst ihre kreativen und produktiven Fähigkeiten entfalten können.

1.2.

Produktive Kräfte werden vergeudet, weil die Rationalisierung von Produktion und Verteilung weit hinter dem technisch-ökonomisch Möglichen zurückbleibt. Die Währungskrisen der letzten Jahre machen das deutlich: unrealistische Paritäten, Spekulation, unzureichende Kooperation zwischen den Staaten, vor allem das gänzliche Fehlen einer Politik, die die Ursachen hätte beheben können, nämlich die widersprüchlichen Wirtschaftspolitiken der EWG-Länder; schließlich die unvermeidlich grobe Chirurgie von Wechselkursänderungen, bei der es nicht ohne Schaden abgehen kann.

Produktive Kräfte werden vergeudet durch unzureichende Strukturen von Industrien und Unternehmen. Sie sind noch immer überwiegend weit entfernt von ihren optimalen Möglichkeiten, sowohl nach Größe wie nach frei verfügbaren Mitteln und innerer Organisation. Weithin zu kleine Einheiten produzieren nach wie vor mit zu geringen Mitteln für zu kleine Märkte,

Wohl ist ein mehr und mehr beschleunigter Konzentrationsprozeß im Gange. Kapital und Management konzentrieren sich zu immer größeren Einheiten. Aber bislang vorwiegend innerhalb der Nationalstaaten, weniger transnational.

Zwar ist auch die transnationale Konzentration schon beachtlich. Die EWG-Kommission hat für die Jahre 1962 bis 1968 die Gesamtzahl der transnationalen Fusionen, Beteiligungen oder Gründung von gemeinsamen Tochtergesellschaften aus über 3000 geschätzt, [2] davon fast zwei Drittel mit Partnern außerhalb der EWG, von denen man annehmen kann — der Kommissionsbericht gibt darüber keinen Aufschluß —, daß ein erheblicher Teil amerikanische oder von amerikanischem Management und Kapital kontrollierte Unternehmen sind. Aber die ökonomische und politisch-ökonomische Bedeutung dieses Konzentrationsprozesses ist schwer abzuschätzen. Die Konzentration scheint in den Branchen und Sparten am schnellsten anzulaufen, die am meisten technologische Innovation, also Kapital und Know-how, brauchen und die daher am schnellsten wachsen.

Es ist gewiß kein Zufall, daß es eben diese Branchen sind, in denen amerikanische Unternehmen durch Direktinvestiiionen oder Zusammengehen mit europäischen Firmen die Szene beherrschen. Der „Gemeinsame Markt der Amerikaner“ ist für diesen Sektor kaum eine Übertreibung. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, daß der Dritte Gesamtbericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften wohl eine Fülle von Informationen bringt, die jedoch nur für eine kleine Gruppe unmittelbar Betroffener interessant sein kann, uns aber politisch völlig im dunklen läßt über die ökonomische Bedeutung der Kapitalkonzentration und die Verlagerung von unternehmerischen Entscheidungszentren nach außerhalb von Europa.

Ganz sicher bleibt aber diese Konzentration (hier zunächst nur von der optimalen Größe und Ausstattung her beurteilt) hinter dem ökonomisch Möglichen weit zurück. Das ist deswegen erstaunlich, weil nach den Erwartungen der Integrationsstrategien das Interesse an der Steigerung der Profite ja schon längst zu europaweiten Großkonzernen hätte führen sollen. Der Grund ist ein politischer: die Unternehmer können noch nicht überall im Gemeinsamen Markt mit gleichen und gleich kontrollierbaren Daten der Wirtschaftspolitik rechnen, wie sie es in ihrem jeweiligen Staat können. Der größte Wirtschaftsfaktor ist ja der Staat, überall. Und der zuständige Wirtschaftsminister ist der jeweils nationale Minister, nicht oder noch nicht ein Ministerrat oder eine Europäische Kommission.

Daran hat man sich zu halten. Und daran hält man sich im Zeichen der Interessentendemokratie. Deswegen sind die europäischen Produktionseinheiten noch immer sub-optimal, nur begrenzt konkurrenzfähig. Deswegen der beginnende Ausverkauf.

1.3.

Produktive Kräfte werden vor allem vergeudet durch die unzureichende Entwicklung der Technologie. Wir verzeichnen einen permanenten, rasch zunehmenden Verlust in der Technologiebilanz. Die Europäer sind nicht imstande, den Gegenwert für ihre Investitionen in Forschung und Ausbildung zu realisieren. Das hat die breite Diskussion über die Technologielücke hinreichend deutlich gemacht.

Wir geben fast gratis Ergebnisse der Forschung ab, zum Beispiel das in abwandernden Wissenschaftern gleichsam investierte Ausbildungskapital. Und wir müssen dann für das „draußen“ in industrielles Know-how umgewandelte Ausbildungskapital schwer bezahlen: einmal in Form von Lizenzgebühren; zweitens wenn unsere eigenen Produkte mit den amerikanischen nicht mehr konkurrieren können; und drittens: als Preis für die Übernahme moderner Technologie von „draußen“ geht die Verfügungsgewalt über unsere Produktion zunehmend auf Zentren über, auf die wir noch weniger als bisher mit demokratischen Mitteln einwirken können.

Ein europäisches Unternehmen, dessen wirtschaftliche Machtbasis in den USA liegt und dessen Entscheidungen vorwiegend dort getroffen werden, verändert nicht bloß die Konkurrenzsituation, es verändert auch die politischen Machtverhältnisse in der Gemeinschaft.

Was ist der Grund für die Technologielücke, für die Vergeudung produktiver Kräfte überhaupt? Wiederum: der Grund ist ein politischer und hängt zusammen mit der Schwierigkeit, die Strukturen der Branchen und Unternehmen zu ändern. Denn um die Technologielücke zu schließen, müssen optimale Produktionseinheiten geschaften werden, die erstens imstande sind, den technologischen Fortschritt auch in industrielle Praxis umzusetzen, und die zweitens konkurrenzfähig sind. In den bestehenden Staaten ist das kaum mehr zu erwarten: sie bieten weder in hinreichendem Maße Kapital noch die profitable Marktgröße; in der Gemeinschaft noch nicht, denn ohne eine gemeinsame Wirtschaftspolitik sind die Unsicherheitsfaktoren für derartige kostspielige Operationen zu groß.

Außerdem müßte in vielen wichtigen Produktionen der Hauptkunde, die staatliche Verwaltung für ganz Westeuropa einheitlich operieren (das heißt unter den gleichen politischen Postulaten) und überhaupt die öffentliche Förderung nach dem Kriterium der Effektivität arbeiten, was auf diesem Gebiet nationale Programme meist ausschließt.

1.4.

Die Vergeudung von europäischer Produktivkraft kann schwerlich bestritten werden. Darüber ist man sich in der öffentlichen Diskussion weithin einig, von ganz rechts bis ziemlich weit nach links. Wir könnten also gemäß den für solche Überlegungen üblichen Spielregeln gleich fragen: warum wird das so offenkundig Zweckmäßige nicht getan? Wie also kann man eine westeuropäische gemeinsame Industrie- und Technologiepolitik formulieren und durchsetzen?

Aber damit bliebe unsere Einschätzung der Lage noch völlig unzureichend. Wir würden an dem eigentlichen, dem politischen Problem vorbeigehen: Produktivkräfte werden in Europa in viel höherem Maße vergeudet und zurückgestutzt als durch die organisatorisch-technischen Unzulänglichkeiten, von denen wir bisher sprachen. Wir produzieren wohl immer mehr und immer neue Güter und Dienstleistungen, aber wir produzieren weithin das, was die Menschen nicht brauchen, was man ihnen aufdrängt und einredet. Und wir produzieren und konsumieren auf eine Weise, die die Menschen daran hindert, sich selbst zu bestimmen und sich ihres Lebens zu freuen.

Marktforschung geht nicht aus auf den gesamtwirtschaftlichen Bedarf (wie Verkehrswege, Schulen usw.), noch auf die Bedürfnisse des einzelnen, sondern darauf, die Reizlücken ausfindig zu machen, die die leichtesten Profitchancen eröffnen und die profitabelste Ausnutzung der bereits unter denselben Gesichtspunkten installierten Produktionskapazitäten.

Nicht die verläßlichste, rationalste und bequemste Fortbewegung des Menschen gibt zum Beispiel das Maß ab für die Verkehrsgütererzeugung, sondern die Ausnutzung bestehender Produktionskapazitäten und die leichteste Profitchance.

Und die Marktzubereitung, das heißt Werbung beruht nicht auf Information zur Unterscheidung von Qualitäten — seien es Zigaretten, Glühlampen oder Arzneimittel —, sondern weithin auf antirationaler Suggestion im Dienst von Profitinteressen.

Wahrscheinlich ist es zur optimalen Kombination der Produktionsfaktoren nützlich, daß bessere Produkte sehr rasch bekanntgemacht werden. Aber „besser“ heißt weithin: das Produkt, hinter dem mehr Kapital und mehr tiefenpsychologische Raffinesse steckt; das Produkt, das die höchsten Profite verspricht.

1.5.

Schließlich werden in Produktion und Konsum — durch ihre Organisationsform — produktive Kräfte in der ungeheuerlichsten Weise vergeudet und verdorben.

Ich meine nicht die in gewissen Kreisen laute Klage gegen die Arbeiter: „Es fehlt an Fleiß, Disziplin, Respekt, Hingabe, besonders bei der Jugend.“ Der Befund ist genau entgegengesetzt: die Art, wie die Arbeit organisiert ist, beraubt weithin den Arbeiter oder Angestellten der Fähigkeit, kreativ zu werden.

Natürlich ist es nicht überall so schlimm wie am Fließband oder bei Schwerstarbeit oder in den Bürofabriken, wo die Arbeit auf ganz andere Weise ähnlich schlimm ist. Aber „Fabriken“ dieser Art sind für weite Bereiche der Produktion immer noch Orientierungsmuster und Vorbild.

Scheinbar vom Produktionsprozeß selbst diktierte, in Wahrheit aber von Herrschaftsanspruch und Profitinteresse verfälsche Arbeitsregeln berauben den Menschen jeder Übersicht über seine Tätigkeit, unterwerfen ihn Bedingungen, in denen Abstumpfung und Aggression gegen den anderen „normale“ Reaktion sind.

Eine verlogene „Arbeitsmoral“ soll die Kritik an der vorherrschenden Arbeitsorganisation und ihrer prinzipiellen Untauglichkeit abschneiden. Und die von einer verblödenden, seelisch zerrüttenden Arbeitsorganisation erzeugte Mentalität wird in der sogenannten Freizeit noch einmal als Konsumzwang und Außenlenkung reproduziert. Niemand entgeht dem ganz, auch die höher Privilegierten nicht.

1.6.

Was hat das alles mit dem Thema zu tun, das nicht Gesellschaftspolitik, sondern Europapolitik ist? In Wahrheit verursacht eben die Vergeudung und Verkrüppelung der Produktivkräfte die politische Lage, in der wir be- und gefangen sind.

Denn der Alltag bestimmt die Politik: Der Alltag eines Lohnabhängigen, der in einer schlechten und politisch wie moralisch schädlichen Arbeitsorganisation ausgelaugt wird, der sich schon lange hat abgewöhnen müssen, nach dem Sinn seiner Arbeit und damit nach dem Sinn des größten Teils seiner Existenz zu fragen; er hat Anspruch auf Lohn und allerlei Entschädigungen, alles andere aber wird „oben“ entschieden. Der Alltag, in dem die am Tag aufgestauten Aggressionen auch am „Feierabend“ als Gereiztheit, Aggressivität und Erschöpfung fortbestehen, die Isolierung am Arbeitsplatz in der Isolierung durch Bildschirm oder Rausch, in der Benebelung mit Bildern sexueller Verheißung und mühelosen Glücks fortdauert.

Mit dem Menschen, der das Produkt eines solchen Alltags ist, kann man sehr wenig zusammen tun. Er spürt kaum die Kraft, etwas zu ändern. Oft kann er sich nicht einmal den Wunsch erlauben, man müßte die Arbeit doch anders organisieren, andere Güter herstellen und sie anders verteilen. Dieser Alltag ist wie eine ausgeklügelte Schule, die ihn lehrt: versuch ja nur nicht, etwas Neues zu lernen, etwas ändern zu wollen!

Die Fähigkeit, selbst die Initiative zu ergreifen, hat man ihm genommen. Mit anderen zusammen etwas anzufangen und es zu verantworten hat man ihm abgewöhnt. Obendrein wird ihm durch das ganze System des Alltags eingeimpft: Wenn es ihm nicht gut genug geht, sei er selbst schuld daran; wenn er sich besser anpasse, werde alles leichter.

Diese Art Alltag zerstört den politischen Menschen, zerstört den produktiven Menschen: Der Lohnabhängige wird politisch nicht aktiv werden. Er geht zur Wahl, vielleicht bemüht er sich organisatorisch, zahlt Mitgliedsbeiträge, versucht ein eigenes Urteil ... aber aktiv wird er nicht. Ein Alltag dieser Art ist meist stärker ais guter Wille, ganz sicher stärker als Bildungsarbeit.

Solange der Alltag der meisten Lohnabhängigen so geartet ist, wird das Niveau der Politik in Europa nicht steigen. Solange der Wille, diesen Alltag radikal zu verändern, nicht zum integralen Bestandteil einer europäischen Politik geworden ist, wird auch die Europäische Gemeinschaft nur eben so schnell und so erfolgreich wie bisher voranschreiten — bestenfalls — und mit jenen Früchten, die wir im Alltag allenthalben schmecken.

Was wir an „Welt“ neu geschaffen haben, ist gar nicht besser, als was es vorher schon gab, ist oft viel schlechter noch, ist beschissen. Wer nicht abgestumpft ist, spürt es, riecht es, sieht es. Viele insbesondere der Jüngeren spüren das.

Wir sind kollektiv reich, aber der Reichtum wird uns nicht zum Mittel der Befreiung und nicht zum Anlaß des Friedens. Wir produzieren mit zu hohem Aufwand zu viele falsche Dinge. „Mehr“ ist die Devise, „was“ ist weniger wichtig. Das beherrscht die staatlichen Wirtschaftspolitiken; es beherrscht auch die Einstellung der meisten Lohnabhängigen. Das alles ist gleichsam zur „Logik“ geworden. Die Norm des Unternehmers: „mehr Profit“, hat Ableger getrieben.

Man pflegt die Meinung, eine sagenhafte „Natur des Menschen“ oder ebenso sagenhafte „Sachgesetze der Ökonomie“ seien verantwortlich für den Gang der Dinge. Tatsächlich aber wird der ökonomische Prozeß durchaus „gemacht“: in einer Fülle von Entscheidungen. Aber diese Entscheidungen werden nicht Sache einer öffentlichen Bestimmung, an der alle Betroffenen in geeigneter Form mitwirken.

Es gibt zwar die Konsumentenfreiheit (je nach Geldbeutel), selbst zu wählen. Aber nur ein geringer Teil der Waren und Dienstleistungen kann individuell gekauft werden. Ich kann ein Auto kaufen, aber nicht die Straße. Ich kann kein billiges und bequemes Verkehrssysiem in meiner Stadt kaufen, nur das Auto, mit dem ich zu gewissen Stunden nirgends vorankomme. Ich kann mir Bücher kaufen, aber keine Lehrer, keine Schulen und Universitäten. Kaufen kann ich nur, was angeboten wird. Über das Angebot entscheiden andere. Und die darüber entscheiden, kann ich nicht kontrollieren. Was sie herstellen lassen, kann so unnütz oder schädlich sein, wie es will, solange sie nur Kapital und Raffinesse genug haben, es mir aufzuschwätzen.

Die Folge ist: Die Qualität des Lebens selbst ist bedroht. Viele leiden darunter. Es geht dabei nicht in erster Linie um die „Umweltzerstörung‘“, Lärm, Schmutz, Gifte, schlechte Luft ... Die Umweltzerstörung ist ja inzwischen zu einem öffentlichen Problem geworden; eine Partei schreibt den Programmpunkt von der anderen ab. Doch unvergleichlich akuter als die drohende Zerstörung der Umwelt ist die Zerstörung der zwischenmenschlichen Welt als Produkt des normalen Alltags.

Es ist eine Welt, in der Selbstbestimmung zur Farce wird. Denn wer nicht über seinen Alltag bestimmt, wer nichts zu sagen hat über das „Was“ und „Wie“ der Produktion, kann über nichts sonst Wesentliches bestimmen. Damit wird der Boden der Demokratie weggeschwemmt. Das ist schlimmer als die Erosion fruchtbarer Erde. Das aber ist die gegenwärtige Tendenz. Sie wird von der Europapolitik entweder verstärkt — so wie bisher — oder eine neue Europapolitik geht gegen diese Tendenz des Gesellschaftsprozesses an.

nächster Teil: Europa, Kolonie der beiden Weltgendarmen

[1So die Moskauer Wissenschaftlerkonferenz im August 1962.

[23. Gesamtbericht der EG-Kommission, p. 38 ff.

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