Heft 4-5/2003
August
2003

Fellinis Schatz aus Spiegel

oder Asa nisi masa

Es war am Abend des 1. November 1993, als ich mich mit einer alten Schulfreundin, die damals in New York lebte, im DDL Foodshow an der Upper West Side traf, auf ihren Tipp hin, dass dort die besten An­tipasti der ganzen Stadt zu verspeisen seien. Als Wo­chenendpassant der schönen Stadt vertraute ich ihr selbst­redend, immerhin war sie jetzt Anwältin. Somit saß ich bald an einem kleinen Tisch mit rotkariertem Tischtuch. Meine Gastgeberin bestellte alle möglichen Vorspeisen und bald war der Tisch über­zogen mit einem bunten Ge­birge aus Essen, welches gut­willig eine Flasche Rotwein umzingelte. Doch noch be­vor ich ihr sagen konnte, dass ich mir vorkomme, wie in ei­nem Woody Allen Film, merkte ich, dass eben dieser am Nebentisch gerade über einen Teller voll grüner, saf­tiger, buttergetränkter, par­mesanblendender Fettucine herfiel. Er und meine An­wältin schienen sich zu ken­nen und sie begannen mit­einander zu plaudern. Ich verstand keinen Satz, außer des Öfteren Worte, wie Fel­lini und dann Fettucini. Da ich mit meinem Englisch vielleicht gerade noch mit Woody Allens Großmutter konversieren hätte können, die bekanntlich aus Wien war, sprang das Gespräch zwischen beiden, mir zu Lie­be, bald ins Französische — Fettucine sind ein Mittel so­zialer Veränderungen, ver­stand ich dann endlich. Hin­gegen nützte Woody Allen die gewonnene Kommunika­tionsmöglichkeit nach diesem Satz aus, um sich zu verab­schieden. Doch was für ein Abendmahl, ich war als New York Tourist voll auf meine Rechnung gekommen, hatte gleich am ersten Abend mei­nes Aufenthaltes eines mei­ner Idole beim Essen belästi­gen dürfen und dabei fast meine ganze herrliche Mu­schelsuppe durch das vom Händeschütteln auf engem Raum provozierte Tischbe­ben verschüttet — Ah, die gute Zuppa di vongole! — Weißt du, was er mir gerade erzählt hat? — Fragte mich meine Begleiterin — Nein, sag, ah, ist das spannend! — Er wird jetzt zehn Jahre keine Fettucine mehr essen. — Ich verstehe nicht ... — Fellini ist gestern gestorben und Fettu­cine ist das Leibgericht von Woody Allen. — Ich verstand noch immer nicht und was sollte das heißen: Fellini ist gestorben! — Trauer ist das. — Sagte sie, ich nickte und ver­stand plötzlich. Fellini war vor ein paar Tagen in ein Krankhaus eingeliefert wor­den, Fellini war tot.

Einige Stunden später lag ich im Halbdunkeln, im Halbstillen, im Versuch der Nacht, auf der Couch eines schönen, aber etwas engen New Yorker Wohnzimmers. Das war meine erste Nacht in New York, ich sah aus dem Fenster und wusste nicht, ob mein Vis-à-vis Ster­ne oder Lichter waren — Star­dust Memories. Fellini war tot. Schlafunfähig durchblät­terte ich Notizen in meinem Tagebuch, die ich irgend­wann in nächster Zukunft mir hinein schreiben werde, und stieß auf folgendes, von Roberto Benigni geschrieben: „Fellini belongs to nature. I wrote in an Italian newspaper when he died that the world without Fellini was for me as if olive oil was dead. Something that is absolutely natural, that belongs to the natural. For me, Fellini was like a watermelon. It is there. A watermelon cannot die.“ — soviel zum Verstehen eines Todes. Dann schlief ich ir­gendwann ein. Eingesperrt in einem Auto, einem Tunnel, einem Traum, fragwürdige Menschen starren an dir ignorierend vorbei. Es raucht von irgendwoher, du be­kommst keine Luft, einge­sperrt in einem Auto, das Fenster geht nicht auf, du kannst nicht einmal wegflie­gen oder doch, es raucht, Trommeln schlagen, Trom­meln verstummen, Anwälte reiten auf Pferden Strände hinauf und die Freiheit des Flugs ist gebunden, wie ein Luftballon. Du fällst ins Was­ser und wachst von weit oben stürzend auf. Keine Luft.

Manche Menschen von den Achtzigerjahren jetztzeit-hinwärts sind von Wagners Walkürenritt begeistert, weil sie ihn mit Francis Ford Coppolas „Apokalypse Now“ ver­bunden und seinen Helikop­terangriff auf ein vietnamesi­sches Dorf als Ausdruck des Absurden begriffen haben. Ich mag den Walkürenritt, weil Marcello Mastroianni in 8 1/2, als Guido, als Federi­co, als Regisseur, der einen Film machen will und eben diesen irgendwie, irgendwo verloren hat, im Kopf oder im Auto, in den Spiegel schaut, leberkrank ist und sich in einem Kurbad aus Pappwän­den, antik und echt wirkend, um das scheinheilsame Was­ser, glückliches Wasser, wie es die Römer nannten, anstellt. „Auf nüchternen Magen drei­hundert Gramm Brunnen“. Das wagnerianische Getobe überfällt das wohl erste Neonlicht in einem Badezim­mer der Filmgeschichte, mit einer ruhigen Plansequenz voll ungarischer und italieni­scher Gräfinnen, Mönchen und Nonnen, alternder Play­boys, kindischer Kardinäle und angespannter Sonnen­schirme, voll Mamma und Toscanini, voll zitternder, alter Hände unter Sonnenbrillen in einem Park einer mondä­nen Kurortkulisse herumtrottend. Stille, Überblen­dung, wenn Claudia Cardi­nale den Brunnen, Kursprache für ein Glas Wasser, reicht, lächelt, einen Engel oder den Tod oder die Hoff­nung oder was auch immer, aber eigentlich sich selbst spielt. Und dann Mezzabotta, der alte Freund mit snobis­tisch weißen Haaren, begleitet von Gloria, einer Amerikane­rin, die nicht seine Tochter ist und welche eine Dissertation über die Einsamkeit des Men­schen in der zeitgenössischen Dramatik schreibt. Dann der Kritiker, der zu sprechen an­fängt: „Der Mangel jeglicher Problematik oder wenn sie so wollen, an einer philosophi­schen Grundlage ...“. Guido steht vor dem Nichts an Ideen, vor der Flucht und der Suche nach einem Film, den er, erfolgreich bejubelter Regisseur, drehen soll. Dabei entdeckt er die Welt für uns.

Bild: Fotosammlung DÖW

Überall Film: Kulissen, alles Illusion, Techniker, Varieté, Matrosen als Stepptänzer, große Guidos, kleine Guidos, Priester in weiß, Gerüste, StatistInnen, Pressesprecher, ein Produzent: der Commandatore!, der für jene Pro­duzenten wie Dino De Lau-rentiis oder Carlo Ponti steht, die durch ihren produktiven Größenwahn, der dann bald auch Hollywood erreicht hat, Cinecittá erst möglich ge­macht haben. Jeder Mensch, jedes Gesicht eine Station der Entdeckungsreise. Darüber, fiel mitten in den in die Irre führenden Vorbereitungen zu den Dreharbeiten Federico Fellini ein, darüber wird er seinen verlorenen Film machen, mit sich selbst als Guido, als Marcello Mastroianni, seinem Spiegelmen­schen, in der Hauptneben­rolle — denn im Mittelpunkt, als Hauptdarsteller, steht überall der Film mit seinen Menschen, als Spiegelwelt aller.

Das ist 8 1/2, geheimnis­voller als der Kosmos, wie der Kosmonaut Titow in ei­nem Hotelflur in Moskau einmal gemeint hat. Das ist der Film, der den Produk­tionszwang vom Nichts beschreibt. Vor genau 50 Jah­ren herausgekommen, 1963 sozusagen, ist er eine Art Kulturgeschichte des aus­sichtsreichen Versagens, des Menschen ohne lästige Eigenschaften, des Menschen auf der Suche, im Chaos. Ich wache, wie schon ein paar Male in dieser Nacht und ste­he auf, gehe zur Bibliothek, in diesem schönen, aber etwas engen New Yorker Wohnzimmer und entdecke dort die anderen Kulturgeschichten. Jene der Neuzeit von Egon Friedell und jene der Selbstmörder von Emil Szittya. — Ich weiß von gar nichts — heißt es da irgend­wann. Auf den vielen Buch­rücken verschwimmt die Erinnerung an die Räume von 8 1/2. Dann noch eine Notiz aus meinem geliebten Tagebuch, diesmal von Gil­les Deleuze und zwar zu seinem Kristallbild: Das Spezifi­sche dieser Räume besteht dar­in, dass sie ihre Eigenschaften nicht allein auf räumliche Weise äußern können. Sie im­plizieren nicht-lokalisierbare Relationen, nämlich unmit­telbare Darstellungen der Zeit. Nicht mehr haben wir es mit einem indirekten Zeit-Bild zu tun, das sich von der Bewe­gung ableitet, sondern mit einem unmittelbaren Zeitbild, von dem sich die Bewegung ableitet. Wir haben es nicht mehr mit einer chronologi­schen Zeit zu tun, sondern mit einer chronischen, achronologischen Zeit, die notwendi­gerweise abweichende und ihrem Wesen nach «falsche» Bewegung hervorbringt. (Das Zeit-Bild. Kino 2, Frank- furt/M. 1997, 172.)

Bild: Fotosammlung DÖW

8 1/2, das Leben ist ein erstaunliches, rätselhaftes Abenteuer, ein reimloses Verharren im Mutterleib, voll Hoffnung und Zutrauen ei­nes Clowns, voll von soviel davon, wie dem Betrachter gerade nicht zumutbar sein kann, vor allem, wenn dieser kein Kind mehr ist. Denn nur aus der Kinderperspektive, aus der bodennahen Perspektive, erschließt sich die bedrückendste Gestalt der Welt, jene die verspricht, dass eigentlich alles nur besser werden kann, das süße Le­ben eigentlich noch auf einen wartet, ganz unverdorben, ganz abgestorben. Und so unverdorben der Versuch der Perspektive von unten, von der anderen Seite des Archi­tektenplanes sein will, so scharfsinnig und kritisch, so unerschütterlich analytisch ist er schlussendlich. Das Graue, das Absurde als Ausdruck der Realität, als Ausdruck der Einsamkeit in der Menge. Federico Fellini: als kindi­scher, allmächtig hilfloser Gott des Kinos und des Lebens bildete eine Vision der Welt, die jede banale Le­benspraxis in eine sonderbare, wertvolle, in eine traum­voll beunruhigende verwan­delt. Schiffe der Träume an jedem Flughafen, an jedem Laufsteg voll Nonnen und Päpsten.

Als Kind wollte Fellini immer von zuhause weglau­fen, um sich einem Zirkus anzuschließen. Als er sein er­stes Geld verdiente, war das mit Karikaturen und mit Humoresken. In der Musso­lini-Zeit konnte keine sinn­volle Arbeit begonnen wer­den außer jener, dem Mi­litärdienst mit allen Tricks zu entgehen. Sinn gab es damals in den Welten des Films, denn in der Cinecittá, dem Hollywood Europas bildete sich eine Art Insel der Nar­renfreiheit, in der ein Sam­melsurium von Leuten (Rosselini, de Sica, Visconti, Antonioni etc., die Neorealisten und Protagonisten des spä­teren Autorenkinos) zusam­mentraf, die gleich nach dem Niedergang des Faschismus das unglaubliche Abenteuer des italienischen Filmes los­brachen, welches erst durch den Medientotalitarismus ei­nes Berlusconi wieder ver­nichtet werden konnte. In Cinecittá schrieb Fellini seine ersten ernsten Drehbücher, wie 1945 für Roberto Rosselinis „Rom — offene Stadt“. Dann, ab An­fang der 50er Jahre drehte er die ersten ernsten eige­nen Filme — „Der weiße Scheich“: das Bild einer Desillusionie­rung; „Die Müßiggänger“: das Porträt des jugendli­chen Stillstandes; und „La Strada“, die großen Augen Gelsominas (Augen von Giulietta Masina, der Frau Fellinis), die erschlagen wer­den in der patriachalen Dik­tatur Zampanos (Anthony Quinn). Und mittendrum omnipräsent Nino Rotas Mu­sik: La passarella di 8 1/2, E poi, L’illusionista, Carlotta’s Galop, La passarella di addio. Nachdem in Filmen wie „Die Gauner“ und „Die Nächte der Cabiria“ Gangster und Prostituierte vor allem ihr ei­genes Leben unsicher ge­macht haben, schuf Fellini 1960 „La dolce vita“, der zum Skandalfilm wurde, weil das Spiegelbild der Schatten­seite der lebenslustigen Schickeria Roms, über die ein Hubschrauber als Gag mit einer riesigen, angehängten Altarfigur fliegt, in welcher kritische Menschen einfach sich und ihre Kinder und ih­re Frau umbringen, jedoch weil in ihr hauptsächlich das Feiern, die Party an aller er­ster Stelle unwiderrufbar steht, genauso wie der reli­giöse Fanatismus jener, die sich keine Party leisten kön­nen und bei irgendwelchen Marienerscheinungen um­kommen, das Spiegelbild des Wahns der Moderne ist, in der kein Platz mehr für Su­chende, für Liebe und für Menschen ist. Und dann kam der 8 1/2. Film: 8 1/2. Der Schnitt entlang der Zeit, ei­ne Kollage aus eigenem, lo­sem Menschsein. Dann, zwi­schen 1963 und 1993 folgt ei­ne Generation Filmgeschich­te, die Generation Fellini: „Julia und die Geister“, „Sa­tyricon“, „Roma“, „Amarcord“, „Casanova“, „Orche­sterprobe“, „Die Stadt der Frauen“, „Das Schiff der Träume“, „Ginger und Fred“, „Intervista“ und „Die Stimme des Mondes“.

Barfüßig stehe ich in der Luft von Manhattan und plötzlich fällt mir Sandra Mi­lo ein, wie sie weißpelzig be­hütet, wunderschön im Pro­menadencafe zu singen an­fängt, so schuldlos schuldig an allem und nichts. Fellini hat in jedem Interview, ob mit Constantini oder mit Guidotti behauptet, Marcel Proust nicht gelesen zu haben. Doch scheint die Un­möglichkeit, die Essenz des achtbändigen Romans „Auf der Suche nach der verlore­nen Zeit“ zu verfilmen, gera­de dem Unbelesenen gelun­gen zu sein, ihm, der wohl nie in seinem Leben die Zeit gefunden hatte, die 5000 Sei­ten auch nur aufzuschlagen, wer hat die auch, außer den wahren AnarchistInnen, wie Benjamin und Adorno ein­hellig gemeint haben. Doch heute Nacht, ich könnte es ja heute Nacht versuchen, die Wege Swanns und der Ma­deleines in den Lindenblü­tentee zu verfolgen, es stün­de sogar eine englische Über­setzung bereit, die ich nicht einmal verstehen müsste, zumindest wäre das eine wür­dige Beschäftigung für eine erste Nacht ohne zukünfti­gen Fellini. Ach, und dabei ... alles bebt wie ein Bahnhof. Fellinis Himmel muss ein Bahnhof sein.

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