Café Critique, Jahr 2004
Januar
2004

Geistig in Wien zuständig — und abgängig

Über Flieh- und Anziehungskraft der „Musikstadt“: Eisler und Adorno

Das erste überlieferte Autograph des Komponisten Hanns Eisler – in Leipzig geboren, aufgewachsen in Wien [1] – ist ein Lied mit dem Titel „Der müde Soldat“. Zweimal wegen Befehlsverweigerung bestraft, begann dieser komponierende müde Soldat noch im Ersten Weltkrieg das Oratorium „Gegen den Krieg“ zu schreiben. Als er über ein Jahrzehnt später den Epilog der Letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus vertonte, konnten ihn also genügend eigene Erfahrungen zu seiner musikalischen Satire auf Militärmärsche, Offiziersamüsement und Generalsstumpfsinn anregen. (Vgl. Scheit 1998)

Zunächst ging Eisler aber zu Arnold Schönberg in die Lehre – wie Max Deutsch, Olga Novakovic, Paul Amadeus Pisk, Karl Rankl, Erwin Ratz, Hans Swarowsky, Joseph Travnicek; aus Prag kam Josef Rufer, aus Karlsruhe Hans Erich Apostel: die neue Generation der Wiener Schönberg-Schüler, die nun hauptsächlich in Mödling unterrichtet wurden – von der frühen, der Berg und Webern angehörten, durch das höhere Alter und das gewachsene Ansehen des Lehrers unterschieden, ohne daß darum unbedingt die Intensität in den Beziehungen zu einzelnen Schülern nachgelassen hätte, wie gerade bei Eisler sichtbar wird.

„Ich verdanke ihnen also alles (vielleicht noch mehr als meinen armen Eltern)“, schrieb Eisler 1923 an seinen Lehrer, „und dafür kann ich Ihnen nur das Versprechen geben, daß ich mich sehr bemühen werde, Ihnen Freude zu machen und dem Namen ‚Schönbergschüler‘ Ehre.“ (Zit. n. Dümling 1976, 437f.) Im Oktober 1924 erklang dann zum ersten Mal in Wien eines seiner Werke bei einem Konzert: die Klaviersonate op. 1, natürlich Schönberg gewidmet. Die Musikblätter des Anbruch brachten einen umfangreichen Artikel des Freundes Erwin Ratz, worin Eisler als „die dritte kompositorische Begabung im Schönbergkreis neben Berg und Webern“ bezeichnet wurde. Im April 1925 erhielt er den jährlich vergebenen Künstlerpreis der Stadt Wien, und anläßlich der Verleihung drückte der Bürgermeister selbst die Hoffnung aus, daß der Preis seinen „Schaffensmut befeure und daß Sie auch in Hinkunft die Stadt Wien und ihre kunstsinnige Bevölkerung, darüber hinaus aber das gesamte deutsche Volk und die Welt, mit vielen ihrer Schöpfungen beglücken mögen.“ (Zit. n. Schebera 1998, 35)

Eisler begann sich zu diesem Zeitpunkt aber schon mehr auf das gesamte deutsche Volk als auf die Heimatstadt zu orientieren. Wien erschien ihm – der sich politisch eindeutig nach links wandte – zunehmend als Sackgasse, trotz aller Bestrebungen des „Roten Wien“, an denen Eisler sich als Chordirigent und Musiklehrer auch beteiligte, die ihm vermutlich jedoch zu wenig weit gingen. Dazu mag ebenso das Übergewicht der sogenannten heiteren Musik beigetragen haben, die hier besonders florierte und die „kunstsinnige Bevölkerung“ aller Schichten in ihren Bann zog. [2] Was Eisler jedenfalls zwei Jahre später in der Roten Fahne über die musikalische Produktion der Gegenwart schreibt, ist auch eine Abrechnung mit Wien, die allerdings bereits den barbarischen Jargon des Stalinismus vorwegnimmt: Schönberg betreibe eine „Flucht in die Mystik“; moderne Musik führe überhaupt „ein Scheindasein, das nur noch künstlich aufrechterhalten werden kann“; in ihr drücke sich die allgemeine „Zersetzung der bürgerlichen Kultur“ sogar am stärksten aus, denn sie sei „ideenlos und gemeinschaftslos“ (Eisler 1985, 32 f.).

Der junge Komponist übersiedelte also 1925 – vermutlich im Sommer – nach Berlin, wo er „gewissermaßen Schönberg vom Kopf auf die Beine“ stellen wollte, „nämlich auf den Boden unserer sozialen Verhältnisse“ (ebd. 394). Diese Beine marschierten: Bereits in den 8 Klavierstücken, die noch 1925 entstanden sein dürften, treten marschartige Formeln hervor – dabei hatte er doch einmal mit dem „müden Soldaten“ begonnen! – ein Verstoß aber vor allem gegen die Wiener Schule, die solche symmetrische Akzentsetzung aufgehoben hatte zugunsten rhythmischer Vielfalt auf engstem Raum.

Für Eisler jedoch wird nun einerseits der Wiener Walzer zum Mittel, eine „schäbige Lebensfreude“ zu parodieren – so in der genannten Kraus-Vertonung –, während andererseits der Marschrhythmus, der die Arbeiter formiert, das Positive in Musik setzt: Signatur seines kommunistischen Engagements. Der mechanische Gleichschritt soll jedoch zugleich gebrochen, in Schwingung versetzt oder wenigstens aufgelockert werden – aber dazu dient Eisler kaum, was er bei Schönberg gelernt hat, eher der Jazz (mit dem er sich in Wien wohl noch wenig vertraut machen konnte). [3] Schönberg ließ sich jedenfalls nicht auf die Beine stellen. Das mußte Eisler selbst gewußt haben, als er 1924 Palmström komponierte: Stücke für Singstimme und 4 Instrumente nach Texten von Christian Morgenstern, in denen sogar die Zwölftontechnik zu parodistischen Zwecken verwendet wird – etwa zur Vertonung eines Tapetenmusters als Inbegriff einer eigentlich absurden, kleinbürgerlichen Lebensweise.

Zum offenen Konflikt mit dem Lehrer kam es aber erst in Berlin. Schönberg selbst war einige Monate nach Eisler in die deutsche Hauptstadt übersiedelt, da er den Ruf erhalten hatte, die Nachfolge Busonis an der Akademie der Künste anzutreten. „Das ist keine Musik“, soll Eisler zu Zemlinsky über Schönbergs neuere Kompositionen gesagt haben, dieser erzählte es jedenfalls Schönberg. Es folgte ein längerer Briefwechsel, in dem die Differenzen offen ausgesprochen und zugleich auf bemerkenswerte Weise eine Art persönliche Treue erneuert werden konnte, die sich über alle, ständig sich verschärfenden politischen Gegensätze hinweg schließlich im kalifornischen Exil und darüber hinaus noch bewähren sollte.

Im März 1925 – wenige Monate, bevor Hanns Eisler Wien verließ – kam Theodor Wiesengrund-Adorno in die Stadt, um bei Alban Berg Komposition zu studieren. Spätestens seit damals hat der aus Frankfurt am Main stammende Musiker und Philosoph – Sohn des jüdischen Weinhändlers Oscar Wiesengrund und der katholischen Sängerin Maria Calvelli-Adorno, die einst am Wiener Hof-Operntheater aufgetreten war – auch die Entwicklung von Eisler verfolgt; anläßlich der Klavierstücke op. 3 schrieb er schon 1926, daß dieser Komponist „der eigentlich repräsentative aus der jungen Generation von Schülern Schönbergs ist und einer der begabtesten jungen Komponisten schlechthin.“ (Adorno 1926/27, 749) Persönlich sollten sich beide erst später besser kennen lernen, insbesondere als sie gemeinsam im amerikanischen Exil das Buch Komposition für den Film schrieben.

Wovon der junge Eisler abgestoßen wurde, zog den jungen Adorno offenbar an: „Zersetzung der bürgerlichen Kultur“ und „Scheindasein“, das „künstlich aufrechterhalten wird“. Daran mangelte es vielleicht am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt, wo er bisher studiert hatte. Adorno suchte weniger die Gemeinschaft einer Partei, die gegen die „Zersetzung“ kämpfte, als einzelne Intellektuelle und Künstler, in denen sich etwas von der „zersetzenden“ Kritik verkörperte und die in Wien den Mittelpunkt je eigener Kreise bildeten: Arnold Schönberg, Karl Kraus, Sigmund Freud, aber auch Georg Lukács, der nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik Zuflucht gefunden hatte.

Was Adorno jedenfalls ein Leben lang an Wien intellektuell binden sollte – so daß er diese Stadt, in der er kaum ein Jahr gelebt hat, regelrecht verklären wird – war das unaufhebbar „Individuierte“, das er hier zu begreifen lernte. Der Lehrer war vor allem Berg selbst, den er nun so häufig in dessen Hietzinger Wohnung besuchte. Die Intensität dieses Lehrer-Schüler-Verhältnisses stand der von Eislers Beziehung zu Schönberg nicht nach, aber sie war anderer Art. Während Schönberg mit ihm, Adorno, gesprochen habe, „wie Napoleon mit einem Adjutanten, von oben herab“ (zit. n. Müller-Doohm 2003, 137) – heißt es rückblickend über Berg: „Sollen Intellektuelle keine Väter haben, dann war Berg der unväterlichste, den man sich erhoffen kann; seine Autorität war die der vollkommenen Abwesenheit von autoritärem Wesen.“ (Adorno 1997/13, 367) Signifikant allerdings der Widerspruch, daß Adorno Berg in den Briefen stets ehrfurchtsvoll mit „Herr und Meister“ anredete. Alban Berg, so nahm es Adorno wahr, trennte aber von den anderen Schönbergschülern eine bestimmte Liberalität: „Eine gewisse Tyrannis des Kreises“, schreibt Detlev Claussen, „schien Berg zu meiden, während sie Eisler wohl geradezu herausgefordert hat.“ (Claussen 2003, 187)

Es war nicht nur diese Liberalität, die Adorno bei Berg angezogen hat: „Was österreichische sinnliche Kultur heißen kann, war an ihm zu lernen; nicht wegzudenken von ihm sein Sinn für gutes Essen und für Wein (...).“ Und Adorno erwähnt sogar namentlich die Restaurants mit Adresse, in denen sein Meister ihn in diesen Fächern unterrichtete. „Die habituelle Geringschätzung des deutschen Geistes für das Sensuelle war Berg ganz fremd, und das wiederum kam dem Geist zugute.“ (Adorno 1997/13, 343 f.)

Aber vor allen praktischen Unterweisungen in alltäglichen Genüssen war es die Musik selber, die Adorno lehrte, was dem Geist zugute kommen soll: er begriff, daß die Fähigkeit von Bergs Kunst „zur sinnvoll-musiksprachlichen Durchorganisation“ nichts anderes sei „als seine ins äußerste gesteigerte subjektive Sensibilität und Differenziertheit.“ (16, 92) Im Unterricht drängte Berg sehr „auf die Vielheit voneinander unterschiedener Gestalten, auch auf engstem Raum, freilich dann stets willens, sie miteinander zu vermitteln (...).“ (13, 365)

Das betraf ebenso die Interpretation der Musik, wie Adorno wiederum von Eduard Steuermann lernen konnte, bei dem er zur selben Zeit Klavierunterricht nahm: Das spezifische Moment bei Steuermanns Darstellungskunst „wie in der Schönbergschule insgesamt“ resultiere in der Erkenntnis, „daß von der tragenden Analyse nicht Reduktion auf ein mehr oder minder Allgemeines, aus den Kategorien der Tonalität Abzuleitendes (...) zu fordern sei“; im Gegenteil: „ein Akzidens, wird zum Wesentlichen, wie wenig auch die Konkretion von dem umfassenderen musikalischen Idiom äußerlich abgetrennt werden kann“. (17, 313) Der Gegensatz zwischen Allgemeinem und Einzelnem wäre nach keiner Seite hin aufzulösen – nur dann bewähren sich moderne Kunst wie kritische Theorie angesichts einer unversöhnten Gesellschaft.

Es gab in der Betonung des Besonderen gegenüber dem Abstrakten zwar einen gewissen Gegensatz zum Begründer der Wiener Schule; aber es war diese Spannung zwischen Schönberg und Berg – zwischen dem Meister des abstrakten Gesetzes und dem des individuierten Übergangs – eine, die innerhalb des Schönbergschen wie des Bergschen Werks selber existiert, nur eben mit jeweils anderer Gewichtung. Und letztlich war sie es – und nicht einer der beiden Pole, die Adorno so sehr an der Wiener Schule faszinierte; die ihn auch stets daran hinderte, den einen Meister gegen den anderen auszuspielen. In Eislers politisch engagierter Musik sollte er hingegen die schlechte Aufhebung des Gegensatzes erkennen, die ihm Angst machte. [4]

Adornos ganze spätere Philosophie und Musikkritik ist undenkbar ohne diese Erfahrung, die er in Wien, in der Nähe Bergs, aber in ständiger Auseinandersetzung mit Schönberg, machen konnte. [5] Noch Jahrzehnte danach faszinierte ihn darum auch die Frage, warum die integrale kompositorische Verfahrungsweise ausgerechnet „im lässigen Wien“ ihre Heimat hatte: „In der jeglicher hierarchischen Vermittlung abholden Gesinnung Mahlers und Schönbergs mag man säkularisierte jüdische Theologie spüren. Vielleicht war es jene unterschwellige Auflehnung gegen die Wiener aristokratische Tradition seit der Josephinischen Aufklärung, die schließlich durchbrach.“ Diese Avantgarde konnte aber „nur gedeihen in Reservaten fürs Dissentierende, wie das nun schon altertümliche Café buchstäblich eines war; sind die Schlupfwinkel wegen ihrer anrüchigen Irrationalität liquidiert, so liquidiert solche realisierte Vernunft den Geist selber.“ (16, 437 f.)

So werden vielleicht auch die merkwürdigen Heimatgefühle verständlich, die Adorno im Sommer 1934 bei Madonna di Campiglio überfielen – zu einem Zeitpunkt, als ihn die Ereignisse in Deutschland, wie er Krenek schrieb, „sehr stumm gemacht“ haben. [6] Die Landschaft erinnerte ihn – zusammen mit Kreneks Liedern – an jene österreichischen Atmosphäre, die er jetzt als seine „eigene Heimat“ ansehe, da er sich „gei­stig in Wien zuständig weiß und nirgends sonst — und damit zugleich auch als empirisches Wesen“. (Adorno / Krenek 42 f.)

zuerst erschienen in: Wien, Stadt der Juden. Die Welt der Tante Jolesch. Hg. v. Joachim Riedl. Wien 2004


Zitierte Literatur

  • Theodor W. Adorno: Hanns Eisler – Klavierstücke op. 3. In: Die Musik 1926/27, S. 749
  • Theodor W. Adorno: Notizen über Eisler. In: Frankfurter Adorno Blätter VII. Hg. v. Rolf Tiedemann. München 2001, S. 121-134
  • Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. 20 Bde. Frankfurt am Main 1997
  • Theodor W. Adorno / Alban Berg: Briefwechsel 1925-1935. Hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt am Main 1997
  • Theodor W. Adorno / Ernst Krenek: Briefwechsel. Hg. v. Wolfgang Rogge. Frankfurt am Main 1974
  • Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie. Frankfurt am Main 2003
  • Albrecht Dümling: Schönberg und sein Schüler Hanns Eisler. Ein dokumentarischer Abriß. In: Die Musikforschung 29 (1976), S. 431-461
  • Hanns Eisler: Musik und Politik. Schriften 1924-1948. Hg. v. Günter Mayer. 2. Aufl. Leipzig 1985
  • Stefan Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie. Frankfurt am Main 2003
  • Walter Pass / Gerhard Scheit / Wilhelm Svoboda: Orpheus im Exil. Die Vertreibung der österreichischen Musik 1938-1945. Wien 1995
  • Jürgen Schebera: Hanns Eisler. Eine Biographie in Texten, Bildern und Dokumenten. Mainz 1998
  • Gerhard Scheit: Die letzte Nacht vor der Maßnahme. Über Karl Kraus, Hanns Eisler und Bertolt Brecht. In: Wespennest 113/1998, S. 97-102

[1Sein Vater war der anerkannte, durch den herrschenden Antisemitismus aber akademisch erheblich benachteiligte Philosoph Rudolf Eisler aus Wien; seine Mutter Ida Maria, geb. Fischer, Tochter eines Leipziger Metzgers.

[2Zu nennen wären hier: Ralph Benatzky, Edmund Eysler, Emmerich Kálmán, Leo Fall, Richard Fall, Oscar Straus, Hermann Leopoldi, Leo Ascher, Paul Abraham. Die jüngere Komponistengeneration gewann ihr Ethos vielfach aus der forcierten Ablehnung dieser Musik – eine zum Teil politisch formulierte Verachtung, die älteren Komponisten wie Mahler oder Schönberg noch unbekannt war. Die verschiedenen Welten trafen nicht selten innerhalb der jüdischen Familien zusammen: Paul Knepler etwa schrieb die Texte für die Operetten Léhars, Sohn Georg studierte bei Eduard Steuermann, dem wichtigsten Pianisten des Schönberg-Kreises, ehe er den gleichen Weg einschlug wie Eisler: Geprägt von Karl Kraus, den er bei seinen Lesungen am Klavier begleitete, ging auch er schließlich nach Berlin, wo er in den Jahren vor 1933 – zusammen mit Eisler – im Kreis von Brecht eine neue, seiner politischen Auffassung gemäße Wirkungsmöglichkeit fand, die Wien offenkundig nicht bieten konnte. (Vgl. Pass / Scheit / Svoboda 1995, 46-56)

[3So baut er etwa in seine bekannten Marschlieder synkopierte Gegenrhythmen zu den skandierten starken Taktteilen („Links, links, links!“) ein, läßt mitunter die Bässe tanzen und überrascht die marschierend Singenden mit unvermittelten Taktwechsel – der typische Eisler-Drive, der allerdings nicht verhindern konnte, daß sich die Nationalsozialisten des „Roten Wedding“ bedienten, wobei die Synkope bei der HJ sicherlich zu kurz gekommen ist.

[4„Musik der die Ichbildung mißlang. (...) Eisler versucht die Antinomie durch eine Haltung zu lösen. Es ist die des Witzigen (...) Ein sehr guter Kamerad, der wie kein andrer aufheitern konnte, aber es wäre nicht schwer sich vorzustellen, daß er gesagt hätte: in dem Kopf ist zwar viel drin, aber herunter muß er doch. (...) Das eigentliche Unglück geschah, als er dem Durchlaufenden, in sich Ungegliederten vor dem Komponierten den Vorrang erteilte. (...) Bei dem, was ihm widerfuhr, geht es gar nicht so sehr um Modernität der Klänge, Intervalle usw. als um das Unterdrücken der Differenziertheit. Diese wird vom Kollektivismus als unerträglich empfunden; es wird auf ein schlecht Allgemeines, das schrumm schrumm, nivelliert (...) Das ist der Kern der Repression.“ (Adorno 2001, 122 u. 131)

[5Nach Frankfurt zurückgekehrt, schrieb ihm Berg: „Es ist ja klar: Eines Tages werden Sie sich, da Sie doch Einer sind, der nur auf’s Ganze geht (Gott sei Dank!) für Kant oder Beethoven entscheiden müssen.“ (Adorno / Berg 1997, 66) Als Adornos Streichquartettstücke, die unter der Ägide Bergs entstanden waren, im Dezember 1926 von dem gerade neu konstituierten Kolisch-Quartett uraufgeführt wurden, schien die Entscheidung schon gefallen. Warum sie zugunsten des Philosophen ausfiel – allerdings eines, der nicht aufhören konnte, über den Musiker nachzudenken – ist schwer zu sagen. Wer jedoch die Kompositionen Adornos kennt, weiß, daß es angesichts dieser Nähe zu einem solchen Lehrer alle Konzentration gefordert hätte, ein eigenständiges großes Œuvre hervorzubringen. Adorno hat noch kurz vor seinem plötzlichen Tod 1969 erwogen, nach Wien zu gehen, um sich dem Komponieren zu widmen.

[6Ehe er verstummte, versuchte Adorno unter Hitler zu überwintern – „mit einigen Konzessionen an den Jargon in Deutschland“ (Max Horkheimer). Er selbst spricht rückblickend von „captationes benevolentiae“, womit er der „entarteten Musik“ zu Hilfe habe kommen wollen, und der „Torheit dessen, dem der Entschluß zur Emigration unendlich schwer fiel.“ (Bd. 19, 638f.) Das Bewußtsein, geistig im Wien von Schönberg, Berg und Kraus zuständig zu sein, dürfte ihn bei diesem Entschluß gestärkt haben.