FORVM, No. 111
März
1963

Grundfunktionen des Theaters

Der nachstehend abgedruckte Text gibt das — nur unwesentlich gekürzte — Referat wieder, das Dr. Siegfried Melchinger bei der jüngsten Tagung der „Deutschen Dramaturgischen Gesellschaft“ in Köln gehalten hat, Inzwischen ist aus dem Feuilletonchef der „Stuttgarter Zeitung“ ein Professor für Theorie des Theaters an der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst geworden. Wir freuen uns, daß Prof. Dr. Melchinger damit nach längerer Pause wieder im FORVM aufscheint.

Es ist Niemandsland, das wir betreten. Wir besitzen eine große Zahl gelehrter und genialer Überlegungen über Wesen und Funktion des Dramas, aber so gut wie nichts über Wesen und Funktion des Theaters. Wüßten wir etwas über das Wesen des Theaters, hätten wir darüber wenigstens eine Übereinkunft getroffen, wäre es nicht schwierig, über die Funktion des Theaters oder, besser, über seine Funktionen, seine Grundfunktionen zu sprechen. So aber müssen wir uns zuerst über das Wesen des Theaters verständigen. Drama ist nicht das gleiche wie Theater. Millowitsch macht Theater, aber nicht Drama. Das bedeutet, daß uns auch die Subsumierung der Frage, warum denn so etwas wie Theater überhaupt in der Welt sei, unter die Frage, warum denn so etwas wie Kunst überhaupt in der Welt sei, nicht weiterhilft.

Theater als solches ist so wenig Kunst wie Musik als solche. Der täglichen Musikberieselung, die wir dem Rundfunk verdanken, entspricht ein allabendlicher Theaterkonsum, an dem sich seit Jahrtausenden nichts geändert hat. Er wird auf allen Kontinenten dieser Erde unter den verschiedensten gesellschaftlichen und Herrschaftssystemen mit solcher Hartnäckigkeit angenommen und abgenommen, daß man auf eine merkwürdige Veranlagung des sogenannten homo sapiens schließen kann. Theater ist keineswegs sapiens, es hat mit Weisheit nur sehr indirekt zu tun. Anderseits spielen die Tiere viele Spiele, aber kein Theater. Das Spiel Theater oder das Theaterspiel gehört also zu den Merkmalen der Spezies Mensch wie die Sprache und das Lächeln. Darauf brauchen die Theatermenschen, hommes de theâtre, nicht stolz zu sein, denn lächeln kann schließlich schon das kleine Kind; und noch weniger bedarf es eines Hinweises, daß das Sprechen keine geistige Leistung sein muß: wieviel Unsinn doch gesprochen wird!

In gewisser Hinsicht gehört Sinnlosigkeit, genauer: Zwecklosigkeit, zum Wesen des Theaters. Nämlich die stillschweigende Übereinkunft, daß bei dem, was da getrieben wird, nicht unbedingt etwas herauskommen muß — ein Resultat wie in der Wissenschaft, eine Verordnung wie im Parlament, ein Wert wie in der Wirtschaft. Ich füge — waghalsig genug — hinzu, daß auch nicht unbedingt ein gemeinnütziger Wert herauskommen muß wie in der Moral. Moral ist etwas sehr Wichtiges, aber Theater ist offenbar auch etwas sehr Wichtiges; könnte es sonst durch die Jahrtausende sich so frisch gehalten haben, daß es noch immer jeden Abend Hunderttausende, vielleicht Millionen anlockt? Vielleicht ist das Theater also ein Laster, und es hat tatsächlich in der Geschichte große Männer und eine Reihe von Herrschaftssystemen gegeben, die es dafür gehalten haben: ich nenne nur Platon und die Puritaner. 26 Jahre nach Shakespeares Tod beschloß die puritanische Mehrheit des englischen Parlaments die Schließung sämtlicher Theater. Den gleichen Beschluß faßten die Führer der amerikanischen Revolution im Unabhängigkeitskrieg 1774. Aber das beweist eigentlich nur, wie wichtig auch seine Gegner das Theater genommen haben.

Wenn das Theater weder mit Drama noch mit Kunst einfach identifiziert werden kann — was ist es dann? Leichter fällt die Antwort, wenn wir fragen, was Theater in spezifischer Hinsicht nicht ist: Theater ist bestimmt nicht das gleiche wie Politik, Moral, Religion, Philosophie oder Wirtschaft. Und doch ist keine dieser Bekundungen menschlichen Geistes aus dem Theater ausgeschlossen. Theater unterscheidet sich auch vom Film, vom Rundfunk, vom Fernsehen durch ein eindeutiges Moment: es ist immer Gegenwart, es schließt die Konserve aus. Aber Film, Rundfunk und Fernsehen benützen mit oder ohne Erfolg jene Darstellungsweisen, die das Theater hervorgebracht hat; die Ausführenden — Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner — sind vielfach die gleichen; und ohne Zweifel ist die Funktion im spezifischen Sinne nicht verschieden. Film, Fernsehspiel, Hörspiel befriedigen offenbar das gleiche Bedürfnis wie ein Theaterabend. Alle dienen der Unterhaltung. Mit der Unterhaltung haben wir eine Funktion, die von den Funktionen der Politik, der Moral, der Religion, der Philosophie, der Wirtschaft radikal verschieden ist. Sie hängt mit der schon erwähnten Zwecklosigkeit zusammen.

Freilich müssen wir hier ausklammern, daß man mit dem Bedürfnis nach Unterhaltung so gut wie mit anderen menschlichen Eigenschaften, der Eitelkeit zum Beispiel, ganz ausgezeichnet Geschäfte machen kann, bei denen sehr wohl etwas herauskommt, nämlich business. Man kann Unterhaltung auch manipulieren — die geheimen Verführer und die Funktionäre der Diktatur benützen sie, um die Menge einzuschläfern und im Schlaf zu lenken. Das könnten sie kaum, würde es sich bei der Unterhaltung nicht um ein Bedürfnis handeln.

Das Wort Unterhaltung wird im deutschsprachigen Theater heute sehr klein geschrieben. Hier macht man lieber in „Kultur“, denn dafür bekommt man ja die Subventionen. Soll der Staat Unterhaltung subventionieren? Da sei Gott vor. Ich finde jedoch, daß wir im stillschweigenden Übereinkommen dieses tierischen Ernstes gar nicht so weit weg von der Einstellung der Puritaner sind. Die bei uns übliche Geringschätzung der Unterhaltungsfunktion des Theaters könnte dazu führen, daß das Theater definitiv in die Sparte Museum abgeschoben wird, in deren Nähe es in den staatlichen Haushaltsentwürfen zu rangieren pflegt. Museen dienen gewiß weniger der Unterhaltung als der Bildung. Würde das Theater im spezifischen Sinne der Bildung dienen, so würde sich seine Funktion von denen der Schule und des Museums nicht unterscheiden. Wir wollen nicht leugnen, daß es Bildungstheater gibt und daß der Wunsch, sich zu bilden, auch zu den Impulsen gehört, die Leute ins Theater führen. Aber ich bestehe darauf, daß dies pervertierte Impulse sind. Ihnen fehlt, was der Grundimpuls der Unterhaltung ist: die Lust.

Daß das Theater eine Lust sein soll, hört man bei uns nicht gerne. Um es zu beweisen, muß ich einen Kronzeugen dafür zitieren, der nicht im Verdacht steht, sein Theater als amüsanten Zeitvertreib aufgefaßt zu haben. Brecht nennt im „Kleinen Organon“ das Theater „eine Stätte der Unterhaltung“ und seine „allgemeinste Funktion“ die einer „Vergnügung“. Und er fügt hinzu: „Es ist die nobelste Funktion, die wir für ‚Theater‘ gefunden haben.“ Eben das Geschäft, die Leute zu unterhalten, verleihe dem Theater seine besondere Würde; es benötige keinen anderen Ausweis als den Spaß, „diesen freilich unbedingt“. Auch Brecht bringt diese nicht gerade marxistische Auffassung vom Theater mit dem zusammen, was ich vorhin das „Zwecklose“ genannt habe. Wörtlich sagt er: „Das Theater muß nämlich durchaus etwas Überflüssiges bleiben dürfen, was freilich dann bedeutet, daß man für den Überfluß ja lebt.“ Wir leben also, hieße es danach, für Vergnügen, für Unterhaltung, für unsere Lust an solchen Dingen wie Theater.

Ich brauche wohl nur anzudeuten, daß der listige Brecht aus dieser Bestimmung nicht nur lustige Konsequenzen gezogen hat. Aber ebenso wie ich Theater ohne Lust für pervertiert halte, würde ich mein Leben ärmer finden, gäbe es nicht Theater. Wenn wir zu klären versuchen, worin die Lust auf Unterhaltung ihren Ursprung hat, so scheint mir eines ganz sicher: sie ist ein Privatum. Damit steht sie zu unserem Alltagsdasein im Verhältnis der Umkehrung. Würde uns das Alltagsdasein, also Erwerbsleben, Arbeit, und sei sie noch so schöpferisch, zur Befriedigung unserer vitalen Bedürfnisse genügen, hätten wir keine Unterhaltung nötig, und es soll ja auch solche Leute geben. „Unterhaltung“ ist laut Brockhaus „Beschäftigung in Mußestunden“, eine Definition, an der wohl nur der Sachverhalt „Mußestunden“ völlig stimmt. Aber dieser ist wichtig. Es ist, wie Brecht meint, „überflüssig“, was wir da treiben, es ist nach Huizinga zweck- und ziellos in dem Sinne, daß es „außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden steht, ja daß es diesen Prozeß und damit das gewöhnliche Leben unterbricht“.

Huizingas Definition meint das „Spiel“, in dem wir eine Unterart der Unterhaltung zu sehen haben, und zweifellos eine Unterart, in der sich das Theater von anderen Möglichkeiten der Unterhaltung unterscheidet. Dennoch ist Theater auch nicht identisch mit Spiel. Im Wortsinn spielen wir sogar mehr, wenn wir Karten spielen, denn da spielen wir mit! Mit dem Fußballspiel hat das Theater insofern etwas Gemeinsames, das sich vom Kartenspiel abhebt, als es ein Publikum gibt, das den Spielern zuschaut, und als das Spiel nur dann als wirklich unterhaltend anzusehen ist, wenn es den Spielern gelingt, die Zuschauer zum Mitspielen im Geiste, zu mehr oder weniger leidenschaftlicher Anteilnahme, zur Identifikation mit ihren Helden zu zwingen.

Anderseits liegen die Unterschiede auf der Hand. In der Unterhaltung des Theaters gibt es nicht zwei Parteien, die um den Sieg ringen, und der Ausgang des Spiels ist festgelegt, ehe es beginnt. Dennoch gibt es hier wie dort Spielregeln, und eine der wichtigsten scheint mir die zu sein, daß das gespielte Ereignis Anfang und Ende hat, daß es in einen Zeitraum verlegt ist und sich dadurch vom Wesen der Zeit, in der wir unsere wirkliche Existenz führen, abgründig unterscheidet.

Das Spiel der Unterhaltungsart Theater ist, so flüchtig es erscheint, im Gegensatz zu anderen, dem Alltag entgegengesetzten Produktivitäten, etwa dem gemalten Bild, nicht vergangen, wenn der Vorhang zum letzten Male fällt. Es ist wiederholbar. „My fair Lady“ wurde tausendmal gespielt, und die „Antigone“ noch viel öfter. Aber hier heißt es vorsichtig sein. Auch ein Film, eine Schallplatte ist wiederholbar. Die Wiederholbarkeit der Theaterunterhaltung besteht darin, daß stets wieder von vorn begonnen werden muß. Die Schauspieler müssen so tun, als spielten sie das erste Mal und als wäre der Ausgang nicht festgelegt. Diese fiktive Spontaneität entscheidet über den Erfolg eines Theaterabends, der immer der erste ist, sofern er ist, was er sein soll.

Das westliche Theater hat diesem Schein der Spontaneität, dieser Illusion, große Bedeutung zugemessen. Das asiatische Theater ist darin anders verfahren. Von der Überlegung ausgehend, daß alles, was wiederholt wird, bekannt sein könnte und in hohem Maß auch bekannt war und ist, lenkte es das Augenmerk der Zuschauer nicht auf das Was, sondern auf das Wie der Wiederholung. Das Vergnügen wird nicht durch die Handlung, sondern durch die Darsteller geweckt.

Wenn Brecht sich bei der Rechtfertigung der verfremdenden Darstellungsweise auf die Chinesen, insbesondere auf den vor zwei Jahren verstorbenen großen Frauendarsteller Mei-Lan-fang beruft, so ist er zwar einem Vergnügen erlegen, dem sich auch kein westlicher Zuschauer entziehen kann — wir werden gleich sehen, warum —, aber der Zweck, dem er diese Darstellungsweise unterzuordnen empfahl, nämlich dem des Zeigens einer Handlung oder einer Handlungsweise, ist dem asiatischen Theater völlig fremd. Auch die Wandlung, die sich im japanischen No vollzieht, ist stets eine Wandlung des Darstellers und kann nur von diesem vollzogen werden. Trotzdem haben die westliche und die östliche Darstellungsweise einen gemeinsamen Ursprung, mit dessen Bestimmung wir uns der Grundfunktion des Theaters einen Schritt weiter nähern.

Die Unterhaltungsart des Theaters unterbricht nicht nur den Prozeß des gewöhnlichen Lebens (wie alle Spiele), sondern sie spielt Leben. Freilich — das ist ein anderes Leben als das gewöhnliche, und die Menschen, die es leben, sind anders als gewöhnliche Menschen. Auch das naturalistischste Stück kann nicht umhin, eine Zeit abzubilden, die besitzt, was sie im Leben nicht besitzt: Anfang und Ende, und einen Raum zu erstellen, der nach einer Seite, der imaginären „vierten Wand“, hin offen ist und die Schauspieler zwingt, ihr Spiel danach einzurichten. Trotzdem liegen auch den total anti-realistischen Spielweisen des asiatischen Theaters immer Vorgänge oder Handlungsweisen zugrunde, die von allen Menschen so gelebt werden könnten. Alle asiatischen Spielweisen, die in so ungewöhnlicher Künstlichkeit münden, haben ihren Ausgangspunkt im Leben, sie sind gespieltes Leben, von Menschen gespieltes Leben, und haben dadurch rückwirkende Bedeutung für das Leben als eine Darstellung von Möglichkeiten des Daseins, des Menschseins.

Ich wage es, das griechische Theater, das dem westlichen Theater überhaupt den Weg gewiesen hat, nicht anders zu sehen, auch wenn ich die tiefe Andersartigkeit nicht unterschätze. Wenn es um Grundfunktionen des Theaters geht, müssen sie im Gemeinsamen, im Gemeinmenschlichen dieses in allen Kontinenten und zu allen Zeiten auftretenden Phänomens zu suchen sein. An dem Impuls, der den Chinesen ins Theater treibt, muß etwas sein, das genau dem entspricht, was den Griechen ins Theater getrieben hat und was uns heute und hier ins Theater treibt. Der tiefe Unterschied des griechischen und damit in gewissem Sinn des westlichen Theaters vom asiatischen Theater überhaupt liegt im Dialog, im Dialektischen. Was die attischen Tragiker ins Spiel gemischt haben, ist Erkenntnis, Einsicht, Logos, Sophrosyne. Auch dem No liegt Erkenntnis zugrunde, aber sie ist dort vorausgesetzt. In der griechischen Tragödie ist sie das Ergebnis der dialektischen Handlung.

Es ist nicht Lehre, nicht Moral — wie spätere Ausleger meinten. Vielmehr wird ein mythischer Vorfall so dargestellt, daß das für alle Zeiten und jeden Menschen Gültige daran zutage tritt, das Zeichenhafte, wie wir heute sagen würden. Die Handlung selbst war dem Zuschauer bekannt; das Interesse mußte auf die Auslegung gerichtet werden; der Tragiker zeigte an Hand der ihm vorliegenden Situationen Grundmöglichkeiten des Daseins, des Menschseins — da ist die Gemeinsamkeit mit dem asiatischen Theater. Die Griechen bewegte die Einsicht in die tragische Grundverfassung unseres Daseins. Orest und Antigone erheben Anklage gegen die Götter, die uns, wie es bei Goethe heißt, ins Leben hineinführen, schuldig werden lassen und dann der Pein ausliefern. Was ist das Leben, fragt später Shakespeare: ein Traum, von Schlaf umgeben. Calderon fragt und antwortet das gleiche. Die ganze Welt ist Bühne, das Leben ein Schauspiel, und wir sind darin die Spieler: theatrum mundi, Welttheater. Diese barocke Metapher weist dem Theater die tiefste Bedeutung zu, die es je gehabt hat. Im Spiel erkennen wir uns selbst, unser eigenes Dasein, als Spiel. „Endspiel“ heißt das noch bei Beckett, für dessen schwarze Phantasie wir die Clowns sind, die Leben zu spielen versuchen. „Also ich bin wieder dran“, sagt einer im „Endspiel“, „jetzt spiele ich ...“

Wir sind, ausgehend von der Unterhaltungsfunktion des Theaters, tief in jene Region geraten, wo das Spiel Kunst wird. Der Übergang findet immer an der Stelle statt, an welcher das unterhaltende Spiel rückwirkende Bedeutung für das Leben gewinnt. „Katharsis“ nannte Aristoteles diese Wirkung, ein sehr tiefes, wenn auch nicht umfassendes Wort. Aber auch das anti-aristotelische Bei-Spiel — Spiel wird Kunst, indem es Bei-Spiel wird — reicht nicht aus, wenn wir das Umfassende, das Gemein-Menschliche der Funktion zu fassen versuchen. Zu sehr vermag das Unterhaltende, das Vergnügliche selbst, ohne geringste Beimischung von Engagement, Kunst zu werden. Grazie ist eine Möglichkeit des Menschseins, seine Blüte, wie die Meister des No sagen, das Geschenk der Jugend, aber zugleich das Geheimnis der Kunst.

So ziehe ich die allgemeine Formulierung vor: Theater, wenn es Kunst wird, zeigt uns Möglichkeiten des Daseins, des Menschseins, genauer: Möglichkeiten unseres Daseins, unseres Menschseins — denn mit diesem „wir“ wird die Grenze gezogen, die der Erfindungskraft auf der Bühne gesetzt ist. Es sind immer Menschen auf den Brettern, die Leben spielen. Das absurde Theater kann uns nur interessieren, sofern es von Situationen oder Charakteren ausgeht, die glaubwürdig sind, sofern es uns also die Absurdität in unserem Leben vorführen oder entlarven will. Surrealismus setzt die Möglichkeit einer gemeinsamen Inspiration voraus, sei es die eines Wunschtraums oder die eines Alptraums.

Solche Gemeinsamkeit ist nicht identisch mit der Durchschnittlichkeit, die der Realismus verlangt: typische Menschen unter typischen Umständen. Auch das Ungewöhnliche — Grazie, Größe, Würde, Opfer — gehört zu den Möglichkeiten des Menschseins. Und kein Realismus kommt um die Grundfunktion herum, daß, was er darstellen will, zunächst einmal Interesse, Spannung, Neugier erregen muß, daß es also unterhalten muß. In diesem Sinn hat Brecht das Programm des Realismus so formuliert: es gelte, das Typische auffallend zu machen und so erst dem Zuschauer die Wahrheit daran zu Bewußtsein zu bringen; denn „das Original“ — das Leben — „sagt, was es aussagt, zu leise“. Führt uns also der Realismus das Gewöhnliche so vor, daß wir es durch den Schein des Ungewöhnlichen erkennen, so kann auch der Anti-Realismus das Ungewöhnliche nur so vorführen, daß es noch immer glaubwürdig bleibt, eben als eine Möglichkeit des Daseins, des Menschseins.

Ungewöhnlichkeit und Glaubwürdigkeit sind die polaren Kategorien, die aus der Grundfunktion der Unterhaltung abgeleitet werden müssen. Das deutsche Theater besitzt heute einen gefahrlos gewordenen, weil subventionierten, „Mut“ zur Ungewöhnlichkeit in allen ihren angeblich schockierenden Erscheinungsformen, aber es unternimmt nur geringe Anstrengungen im Hinblick auf Glaubwürdigkeit. Wer jemals einem Barrault, einem Strehler, einem Ingmar Bergman, natürlich auch einem Kortner, einem Gründgens bei den Proben zugeschaut hat, weiß, daß die Anstrengung der Glaubwürdigkeit so unendlich groß ist wie die Einfallskraft der Phantasie. Nur wer weiß, was zu probieren ist, probiert wochenlang. Wer es darauf anlegt, den Kommentar statt der Handlung zu spielen, ist schnell fertig. Denn die Kunst, eine Handlung und Menschen zugleich glaubwürdig und ungewöhnlich erscheinen zu lassen, reibt das Genie des Theatermenschen auf, bis zur Besessenheit. Was mir aber unserem Theater am meisten zu mangeln scheint, ist jener Impuls, der es als eine Art der Unterhaltung überhaupt erst möglich macht: die Lust. Die Lust ist das Lebenselixier der Bühne; sie erweckt die Erwartungen im Zuschauer, sie springt über die Rampe, wenn er gefesselt wird, aus ihr baut sich auch die Bereitschaft zur Ergriffenheit auf.

Nur auf dem Weg über die Lust am Schein vermag das Theater das Sein — die Wahrheit, den Sinn — zu finden. Nur der Schein macht das Sein darstellbar. Warum hat der Mensch den Wunsch, das Sein darzustellen? Darauf gibt es mancherlei Antworten. Eine davon ist: weil er der Vergänglichkeit entrinnen und der Zeit Gebilde, die dauern, entgegenstellen will. Sicherlich hätte er diesen Wunsch nicht, wenn er sich mit der Vergänglichkeit und der Gewöhnlichkeit seines Daseins abfinden könnte. So finden wir im Ursprung aller Kunst den Widerspruch gegen das Sosein dieser Welt, jenen Widerspruch, der Kunst überhaupt erst möglich macht. Auch dem Theater ist der Widerspruch immanent, und das heißt nichts anderes, als daß ihm die Freiheit immanent ist.

Habe ich nicht zu viel von der Funktion des Theaters für den einzelnen und zu wenig von der Gesellschaft gesprochen? Die Antwort auf diese Frage kann nur lauten, daß wir dem Theater nicht primär jene gesellschaftsbildende Aufgabe zumessen, die meist angesprochen wird, wenn von seiner Funktion die Rede ist. Zum Wesen des Theaters gehört ja gerade seine Freiheit von gesellschaftlichen Bindungen. Lust ist nicht gesellschaftsbildend, und sie steht am Anfang. Am Ende aber, dort, wo Theater sich als Kunst zum Leben zurückwendet, formiert sich Widerspruch; und auch der ist immer gegen die Gesellschaft gerichtet, welcher Art diese auch sein möge. Die vielberufene Gemeinschaft hat im Theater wenig zu suchen. Sie mag sich für kurze Weile in der gemeinsamen Ergriffenheit, Begeisterung oder Erheiterung am Ende des Theaterabends bilden — schon auf dem Nachhauseweg löst sie sich wieder auf. Und das Gemeinsame, das da ins Bewußtsein tritt, ist eben dasjenige in jedem einzelnen, das sich der gesellschaftlichen Formierung entzieht.

Liebe und Tod, um es etwas grob auszudrücken, sind keine gesellschaftlichen Themen. Aber auch Politik ist, wenn sie auf der Bühne zur Sprache kommt — und selbstredend kann und soll sie zur Sprache kommen — den Programmen und Ideologien entzogen. Sie sollte es zumindest sein. Aber ich glaube, sie ist es auch. Parteilichkeit tötet das Theater; das kann schlicht bewiesen werden. Spannung kommt nur auf, wenn den spielenden Menschen Reaktionen zuzutrauen sind, die nicht im Parteiprogramm festgelegt sind. Der Mensch ist, wie Arthur Miller gesagt hat, nur dann ein dramatisches Wesen, wenn er ein überraschendes Wesen ist. Selbst Brecht bestand auf der grundsätzlichen Widersprüchlichkeit der Menschen auf der Bühne: diese allein vermag sie lebendig, glaubwürdig zu machen. Brechts große Stücke zeigen Verhältnisse, die geändert werden sollten, aber sie zeigen niemals (außer in papierenen Vorspielen) die Verhältnisse nach der Änderung.

Hier erkennen wir ein weiteres Stück Wesen des Theaters, das nicht übersehen werden darf, wenn von seinen Funktionen die Rede ist: Objektivität. Theater zeigt das Leben, wie es ist, und es zeigt die Menschen, wie sie sind — freilich in ihren oft überraschenden Möglichkeiten, aber doch immer nur, wie sie sein könnten, niemals, wie sie sein sollten. Die Utopie ist auf der Bühne so fatal wie das Wunder. Beides ist Mache. Gespieltes Leben wirkt nur dann nicht als Mache, wenn Autor und Darsteller sich vornehmen, es objektiv zu zeigen, genauer: es so objektiv wie möglich zu zeigen — denn ganz wird sich das Subjekt niemals verleugnen lassen. Es genügt jedoch der Vorsatz, es zu verleugnen. Im Gegensatz zu den anderen Künsten, mit denen wir uns auch allein, am Flügel, im stillen Kämmerlein, angesichts eines Bildes oder mit dem Buch in der Hand, zu befassen vermögen, können wir uns mit der Kunstart Theater nur als Publikum befassen.

Autor und Darsteller haben also von der Voraussetzung auszugehen, daß sie in den versammelten Einzelnen (von denen wir gesagt haben, daß sie nicht gesellschaftlich festgelegt sind, also keine Gemeinschaft bilden) dasjenige ansprechen, was ihnen jenseits aller gesellschaftlichen Bindungen objektiv gemeinsam ist oder sein könnte. Das ist das wahre und einzige Engagement des Theaters: gespieltes Leben so zu zeigen, wie es uns keiner zu sehen vorschreibt, wie wir es nicht zu sehen gewohnt sind, wie es vielmehr einem oder einigen erscheint, die sich vorstellen, so sollten es auch die anderen, das Publikum, sehen. Dieses Sollen ist jedoch kein Imperativ, weder ein politischer noch ein moralischer noch sonst ein kategorischer, sondern es ist auf die Objektivität der Darstellung bezogen, und diese zeigt nicht, wie etwas sein soll, sondern wie etwas ist, wie etwas gesehen werden sollte, wenn es als wahr erscheint.

Auch in einer demokratischen Gesellschaft ist das Theater nur dann in der Lage, seine Funktion auszuüben, wenn es vor gesellschaftlichen und obrigkeitlichen Manipulationen geschützt wird. Das ist für eine Regierung nicht immer bequem. Aber wenn es, wie wir im Westen glauben, zur Würde eines Staates gehört, Widerspruch zu dulden, so kann dem Theater die Würde seiner Freiheit nicht vorenthalten werden. Es ist eine Art Nicht-Einmischungspakt, den der Staat dem Theater anzubieten hat. So gesehen, dienen die Subventionen dem öffentlichen Interesse dadurch, daß sie den Bürgern, den Einzelnen, dem Publikum die Möglichkeit geben, sich in einer Sphäre zu äußern oder dargestellt zu sehen, die noch nicht oder nicht mehr verwaltet und festgelegt ist. Nur wo es Leute gibt, die Lust haben, in einer solchen Sphäre Leben zu spielen oder Leben gespielt zu sehen, vermag das Theater zu leben. Nur dort wäre unser Leben ärmer, wenn es kein Theater gäbe.

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