FORVM, No. 198/II/199
Juni
1970

Illich vor Studenten: „Setzt Universität außer Betrieb!“

Hager, fast ausgemergelt, braungebrannt und impulsiv macht Ivan Illich alles nur nicht den Eindruck eines katholischen Geistlichen. Der Sohn eines kroatischen Katholiken und einer spanischen Jüdin, der seit zehn Jahren das „Centro Intercultural de Documentacion“ (CIDOC) in Cuernavaca, 70 km von Mexico City, als graue Eminenz leitet, fühlt sich heute als Mexikaner. Seit 28 Jahren zum erstenmal wieder in der Stadt, in der er vor 43 Jahren geboren wurde, war er in Wien „bezaubert von der Dressur der Tradition“, die hier noch vorherrscht: „Alles erinnert an die tänzelnden Lipizzaner. Die Menschen hier in Wien sind die am wenigsten amerikanisierten, die ich zwischen Hamburg und Buenos Aires getroffen habe. Die Krise der hochzivilisierten Staaten steht Österreich erst bevor!“

Im Verlauf seines Kurzbesuches in Wien, der hauptsächlich dem Wiederfinden alter Freunde galt, sprach er vor mehr als 400 Studenten im Kritischen Klub der Paulusgesellschaft, in den Räumen des NEUEN FORVMS.

Die Krise der hochzivilisierten Staaten und ihrer Institutionen ist Ivan Illichs Ausgangspunkt für die Kritik an der westlichen „Entwicklungshilfe“.

„Entwicklungshilfe“, wie sie derzeit praktiziert wird, reproduziert für ihn nur die Krise der ersten Welt in der dritten Welt. Angelpunkt aller seiner Überlegungen ist dabei das Schulsystem, das nach dem Muster Europas und der USA in Lateinamerika eingeführt wird. „Obwohl die lateinamerikanischen Staaten heute rund ein Viertel ihrer Budgets für Schulen aufwenden, wird nirgends mehr als ein Drittel der Bevölkerung geschult. Die übrigen zwei Drittel haben das Gefühl, Untermenschen zu sein.“

Die polarisierende Wirkung des importierten Schulsystems, das die Klassenstruktur der lateinamerikanischen Gesellschaften statt zu ändern verfestigt, trägt nach Illich auch Schuld an der derzeitigen politischen Entwicklung in den meisten Ländern Lateinamerikas.

„Was heute in Brasilien geschieht, ist niederträchtiger und verderbter, als was unter Hitler geschehen ist. Die Folter wird als Intrument der täglichen Verwaltung eingesetzt. Diese Entwicklung tritt zwangsläufig ein, wenn wir Lateinamerika so entwickeln, daß dort die Bedürfnisse für Produkte der modernen Welt, der sozialen Realität Europas und der USA, entstehen. Wenn wir in Lateinamerika Gesundheit mit ärztlicher Behandlung gleichsetzen, dann können wir nur zwei Prozent der Bevölkerung mit dieser Art von Gesundheit versorgen. 98 Prozent der Bevölkerung dagegen können nicht einmal von der Amöbenruhr geheilt werden. Wenn wir in Lateinamerika Erziehung mit Schulbesuch gleichsetzen, können wir den Lateinamerikanern nur beibringen, daß sie zum Großteil Untermenschen sind, weil sie ihre Schulpflicht nicht erfüllt haben.“

Fidel Castro sah für dieses brennende Problem, das die Unzulänglichkeit der herkömmlichen Institutionen darstellt, nur eine Radikalkur: die Auflösung der Universitäten und statt dessen eine „erzieherische Gestaltung des ganzen Lebens“. Illich folgt Fidel Castro in diesem Punkt zur Gänze, ja er sieht im Schulsystem die Wurzel aller Entfremdung.

Er zögert nicht, die Radikalkur der Abschaffung des traditionellen Schulsystemg auch auf Europa zu übertragen: „Setzen Sie diese Universität außer Betrieb!“ forderte er die versammelten Studenten auf.

„Gründen Sie einen Klub, in dem sich Leute zu bestimmten Themen zusammenfinden und miteinander arbeiten. Wien ist mit seinen Kaffeehäusern geradezu zu einer solchen ‚akademischen Stadt‘ prädestiniert!“

Schwache Einwände, daß Lehrfreiheit nach unserer Verfassung nur den akademisch Diplomierten zustehe, wischt Illich mit einer Handbewegung weg: „Dann ist eben Ihre Verfassung schlecht!“

Solche selbst die „neue Linke“ eher schockierenden, für europäische Verhältnisse leicht romantisch klingenden Vorschläge beweisen zumindest eines: Wie sehr es der berechtigten Kritik am traditionellen Erziehungssystem, das zur Konsolidierung des bestehenden Gesellschaftssystems beiträgt (das gilt für Lateinamerika ebenso wie für Europa), noch an Alternativen mangelt.

Illich selbst arbeitet an solchen Alternativen in seinem Dokumentationszentrum in Cuernavaca. „Nach westlich-zivilisatorischen Begriffen sind wir ein unseriöser Klub. Kein Mensch ist in Cuernavaca Akademiker. Aber trotzdem haben wir im letzten Jahr 200 Bücher herausgebracht, 15 Zeitschriften vertrieben und 30 Arbeitskreise ins Leben gerufen, an denen rund 300 Leute teilgenommen haben.“

Wichtiger als diese Versuche scheint Illich jedoch eine gründliche Analyse der überkommenen Institutionen, die die industrialisierten Länder in die dritte Welt exportieren. Von einer solchen Analyse erwartet er sich mehr als von noch so vielen Entwicklungshelfern, die in „blindem Idealismus“ helfen wollen, ohne an den grundlegenden Strukturen auch nur das geringste ändern zu können. „Die wirkliche Leistung der Entwicklungshilfe wäre, das eigene Land zum Modell zu machen.“

Illich ist fasziniert vom Projekt des Volksbegehrens gegen das Bundesheer: „Das ist das erstemal ein österreichischer Plan, der für ganz Lateinamerika beispielgebend wirken könnte! Sicher, für einen Realpolitiker ist das Unsinn, aber stellen Sie sich vor, welche Bewegung Sie in aller Welt auslösen können, wenn Sie das Bundesheer abschaffen!“

Realpolitiker halten Illichs Ideen nicht nur für Unsinn, sie halten den ganzen Mann für gefährlich. Er predigt die Revolution, und zwar die Revolution, die die Machthaber am meisten fürchten: die Revolution der Köpfe. Er protestiert gegen die Kasernierung des menschlichen Denkens durch vorgegebene Schemata, gängige Klischees und liebgewordene Traditionen. „Vielleicht ist die wirkliche Revolution, die wir brauchen, die Revolution gegen die Einschränkung unserer Einbildungs- und Vorstellungskraft!“

Illichs äußerst reges Zentrum, das sich entgegen allen anderen Gerüchten selber finanziert (in Cuernavaca existiert die beste Sprachschule des lateinamerikanischen Subkontinents), ist in den Augen der Behörden, der staatlichen wie der kirchlichen, verdächtig. Es gilt als das Zentrum der subversiven Agitation, der Vorbereitung zur Revolution. Illichs Leben ist demnach nicht gerade leicht.

Sein Name wurde in Europa überhaupt erst richtig bekannt, als sich das Heilige Offizium für den Rebellen gegen die offizielle Kirchenpolitik des Vatikans zu interessieren begann. Vor zwei Jahren wurde Illich nach Rom berufen, wo er sich einem Verhör vor dem Heiligen Offizium unterziehen sollte. Er lehnte Verhör wie auch Beantwortung eines 93 Fragen umfassenden Inquisitoriums ab, [1] das ihm sowohl kommunistische Agententätigkeit als auch Häresie vorwarf (die Methoden der Verdächtigung gleichen sich in allen Ländern der Welt). Illich zog es vor, den Priesterberuf aufzugeben und weiterhin am CIDOC für die Zukunft Lateinamerikas, wie er sie sieht, zu wirken.

Auf theologische Fragen angesprochen, meint er nur: „Ich habe es mir zum Prinzip gemacht, nie öffentlich über theologische Fragen zu sprechen.“ Was Rom beunruhigt, sind nicht seine theologischen, sondern seine politischen Ansichten. „Freunde bezeichnen mich in der Theologie sogar als absurd traditionell. In meinem Fall ist nicht das Heilige Offizium am Werk, sondern das Staatssekretariat. Der Vatikan und die klassische KP ziehen in Lateinamerika am selben Seil. Jede grundlegende Änderung der Gesellschaftsordnung im Sinn einer partizipatorischen Demokratie ist ihnen zutiefst suspekt!“

Welche Rolle die Kirche in Lateinamerika in Zukunft spielen werde?

„Vor zehn Jahren“, antwortet Illich, „Konnte man noch von vier Funktionen der Kirche in Lateinamerika sprechen:

  • Erstens lieferte sie der alten feudalen Oligarchie ihren ideologischen Oberbau.
  • Zweitens erzog sie durch europäische und amerikanische Missionare eine bourgeoise Oberschicht, die die feudale Oligarchie bedrohte.
  • Drittens förderte sie die christlichdemokratischen Parteien.
  • Viertens leistete sie einzelnen Dissidenten wichtige Hilfe: Ein Mann mit roter Bauchbinde wurde von der Regierung eher gehört als ein Mann ohne rote Bauchbinde, Außerdem sicherte ihm die Institution Kirche Straffreiheit bei eventuellen Verfolgungen.

Das hat sich seit zehn Jahren alles geändert: Die Kirche hat in der Zwischenzeit bewiesen, daß sie jeder politischen Richtung einen Kaplan stellen kann. Damit ist die Berufung auf sie als Machtfaktor unwesentlich geworden. Der Name Gottes wird in der Politik weniger oft verwendet. Die Lautsprecherfunktion einzelner Dissidenten und ihre Straffreiheit ist praktisch abgeschafft. Das wesentlich Christliche und das radikal Humane fallen heute im öffentlichen Leben zusammen. Die Ohnmacht der Christen in Lateinamerika ist für sie ein Erlebnis der geistigen Kreuzigung.“

[193mal Inquisition, NF Mai 1969.

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