Streifzüge, Heft 1/2003
März
2003

Jenseits der Gerechtigkeit

Attacke gegen den Wertekanon und seine linken Wurmfortsätze

Man beliebt aber das ‚bürgerliche‘ Niveau nicht zu überschreiten.

(Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms) [1]

Fair is foul, and foul is fair.

(William Shakespeare, Macbeth I: 1)

„Das Gerechte ist also etwas Proportionales“, [3] wusste schon Aristoteles. „So ist das Gerechte als ein Regulierendes nichts anderes als die Mitte zwischen Verlust und Gewinn.“ [4] Was dann heißt: „Das Gerechte ist folglich die Achtung vor Gesetz und bürgerlicher Gleichheit, das Ungerechte die Missachtung von Gesetz und bürgerlicher Gleichheit.“ [5] Gerechtigkeit ist nichts anderes als eine begriffliche Abstraktion äquivalenten Tauschens. Sie meint die gesellschaftlich kodifizierte proportionale Zuteilung von Ansprüchen, d.h. von Geld, Waren oder Leistungen an verschiedene Individuen oder Gruppen. Kommt es zu Streitigkeiten, dann entscheidet die bürgerliche Justiz: Gerecht ist das Gericht. Alles andere ist ein Gerücht.

Die Frage nach der Gerechtigkeit ist immer eine nach dem Recht. Und was Recht ist, ist letztendlich eine Frage der gesellschaftlichen (nicht zu verwechseln mit der politischen! ) Gewalt. Die reine Gerechtigkeit wäre demnach die reine Gewalt. Ansonsten ist Gerechtigkeit eine Leerformel, mit der sich dieses und jenes einbilden, behaupten und verlangen lässt. Etwas überspitzt könnte man sagen: Gerechtigkeit ist die subjektive Gewalt, die man nicht hat.

Die gemeinhin eingeforderte Gerechtigkeit kann also nichts anderes sein als die gewünschte Gesetzlichkeit, letztlich zugespitzte bürgerliche Moral in ihrer ideellen Form. Kein Wunder, dass bei Gerechtigkeit auf ökonomischer Ebene dann meist ein höherer Lohn einfällt, bzw. umgekehrt ein Abbau sozialer Leistungen gefordert wird. „Es ist zu erkennen, dass, was hier Idee genannt wird und eine Hoffnung auf bessere Zukunft hierüber, an sich nichtig und dass eine vollkommene Gesetzgebung sowie eine Bestimmtheit der Gesetze entsprechende Gerechtigkeit im Konkreten der richterlichen Gewalt an sich unmöglich ist.“ [6] (Hegel)

Und das ist kein unauflösbarer Antagonismus zum Vorhergesagten: als Ideal mag Gerechtigkeit unmöglich sein, im Realen wird sie täglich vollzogen. Wir halten das für einen scheinbaren Widerspruch, einen, der der bürgerlichen Ideologie notwendig entspringt. In Hegelscher Terminologie: Gerechtigkeit ist real, aber nicht immer wirklich.

Es dünkt, dass es da noch anderes gibt als die Weltlichkeit von Gesetz und Recht, nämlich eine bürgerliche Geistlichkeit, die die Herzen wärmt und die Mäuler stopft. An die Gerechtigkeit zu glauben, unterscheidet sich nicht wesentlich davon, an Gott zu glauben. Auch wenn das heute nicht mehr der Fall ist, eine Säkularisierung stattgefunden hat, ist der Götzendienst am Vokabular eigentlich unübersehbar. Etwa bei Immanuel Kant, der in der „Metaphysik der Sitten“ die Gerechtigkeit eindeutig an Gott bindet [7] und unaufhörlich in religiöser Terminologie von „Schuld“, „Ehrfurcht“, von „belohnender Gerechtigkeit“ und „Strafgerechtigkeitcspricht.

Gerechtigkeit ist eine demokratische Göttin, an der sich alle anhalten wollen, wenngleich die Vorstellungen pluralistisch divergieren mögen. Gerechtigkeit ist die Anrufung der bürgerlichen Seele durch das bürgerliche Subjekt gegen die bürgerliche Realität. Die Pflicht, das Recht zu mögen, ist da schwieriger, aber die selige Gerechtigkeit, sie ist unser aller Schatzi. Gehegt und gepflegt, angehimmelt und beschworen.

Ob Gerechtigkeit und Recht gar eine Einheit bilden sollen, diese Debatte überlassen wir getrost den akademischen Einfaltspinseln und anderen bürgerlichen Reputierlichkeiten. Der Rechtspositivist Hans Kelsen hat das ganz trocken so gefasst: „Insofern Gerechtigkeit eine Forderung der Moral ist, ist in dem Verhältnis von Moral und Recht das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht inbegriffen.“ [8] Gerechtigkeit ist keine über das Recht hinausweisende Größe, wie es sich der gesunde Menschenverstand stets einbildet, sondern ein von ihr abgeleiteter Aspekt. Gerechtigkeit meint reelle Anerkennung des Rechts bei gleichzeitiger Toleranz ideeller Abweichungen. Gerechtigkeit ist ein ideologisches Pendel, das so seine Schwingungen hat und für zusätzliche Aufregungen sorgt.

Enttäuschung und Anrufung

Enttäuscht aber die materielle Wirklichkeit, so soll zumindest das unwirkliche Ideal wirken. Und es wirkt noch, etwa bei Jacques Derrida, der in aller Geschwollenheit in „Marx’Gespenster“ demonstriert, zu welch Tiraden der Geschwätzigkeit das moralische Kauderwelsch sich zu versteigen vermag:“ Wenn ich mich anschicke, des langen und breiten von Gespenstern zu sprechen, von Erbschaft und Generationen, von Generationen von Gespenstern, das heißt von gewissen anderen, die nicht gegenwärtig sind, nicht gegenwärtig lebend, weder für uns noch in uns, noch außer uns, dann geschieht es im Namen der Gerechtigkeit. Der Gerechtigkeit dort, wo sie noch nicht ist, noch nicht da, dort, wo sie nicht mehr ist, das heißt da, wo sie nicht mehr gegenwärtig ist, und da, wo sie niemals, nicht mehr als das Gesetz, reduzierbar sein wird auf das Recht. Von da an, wo keine Ethik, keine Politik, ob revolutionär oder nicht, mehr möglich und denkbar und gerecht erscheint, die nicht in ihrem Prinzip den Respekt für diese anderen anerkennt, die nicht mehr oder die noch nicht da sind, gegenwärtig lebend, seien sie schon gestorben oder noch nicht geboren, von da an muss man vom Gespenst sprechen, ja sogar zum Gespenst und mit ihm. Keine Gerechtigkeit – sagen wir nicht: kein Gesetz, und noch einmal: Wir sprechen hier nicht vom Recht – keine Gerechtigkeit scheint möglich oder denkbar ohne das Prinzip einiger Verantwortlichkeit, jenseits jeder lebendigen Gegenwart (…).“ [9]

Wir brechen das Stoßgebet hier ab, empfehlen den Lesern auch keine Wiederholung der Lektüre. Dieses Geschwafel ist nur noch als ein spätbürgerliches Auszappeln der alten Postulate dechiffrierbar: die Gerechtigkeit ist wirklich ein Gespenst, ein Geist alter Zeiten.

Da wird penetrant die ideologische Basis, die hehre Gerechtigkeit beschworen, um sich ja nicht mit den Manifestationen des Rechts auseinander setzen zu müssen. Eigentlich könnte es ja ganz anders sein, lautetet die Frohbotschaft aller Gerechtigkeitsfanatiker. Diese Frohbotschaft ist freilich eine sich nicht erkennende Hiobsbotschaft, die jeden effektiven Widerstand dementiert, indem sie vor substanziellen Fragen einfach zurückschreckt. Ihre grundlegenden Eckpfeiler sind die obligaten. Gerechtigkeit ist ein herrschender Wert.

Wahrlich, Gerechtigkeit titelt sich eines dieser großen fairy tales of commerce. Alle sind dafür, die Linken, die Liberalen, die Rechten. Dritte-Welt-Gruppen fordern Fair-trade, Grüne sprechen von Fairteilen, ja der austrokanadische Multimillionär Frank Stronach setzt sich gar für eine nun wohl doppelt gerechte „faire Marktwirtschaft“ ein. Jörg Haider propagiert diese ebenso wie Sozialdemokraten. Aber auch der oberste Weltpolizist George Bush kommt ohne Gerechtigkeit nicht aus. „Infinite justice“ benannte der große Freiheitskämpfer unmittelbar nach dem 11. September den nun anstehenden Kreuzzug gegen das Böse in der Welt.

Und die Intellektuellen von Huntington und Fukuyama bis hin zu Etzioni und Walzer assistieren. In dem berüchtigten Dokument „What we’re fighting for: A letter from America“ [10] (Frühjahr 2002) heißt es ganz hingebungsvoll, dass „das Beste von dem, was wir allzu leichtfertig , amerikanische Werte‘ nennen, nicht nur Amerika gehört, sondern vielmehr das gemeinsame Erbe der Menschheit und somit eine mögliche Grundlage der Hoffnung für eine auf Frieden und Gerechtigkeit aufgebaute Weltgemeinschaft ist.“ „Wir hoffen, dass dieser Krieg, indem er einem gnadenlosen globalen Übel ein Ende setzt, die Möglichkeit einer auf Gerechtigkeit gegründeten Weltgemeinschaft zu stärken vermag.“ Dass möglicherweise die Gerechtigkeit eines der gnadenlosesten Übel ist, dies zu denken ist reine Blasphemie.

Wert als Gerechtigkeit

Gleich Marx und Engels sollte klar sein, dass „während der Herrschaft der Bourgeoisie die Begriffe Freiheit, Gleichheit etc. herrschten.“ [11] Sie sind somit nichts anderes als die Kampfbegriffe bürgerlicher Emanzipation. Krücken der Menschlichkeit, nicht diese guthin. Sie sind nicht nur kapitalistisch kodifiziert, sie sind kapitalistisch konstituiert.

Geld und Freiheit sind im Kapitalismus Synonyme, Gerechtigkeit und Gleichheit Modi der Ordnung bzw. Zuordnung. Marx dazu in den „Grundrissen“ ganz eindeutig: „Da das Geld erst die Realisierung des Tauschwerts ist und erst bei entwickeltem Geldsystem das System der Tauschwerte realisiert hat, oder umgekehrt, so kann das Geldsystem in der Tat nur die Realisation dieses Systems der Freiheit und Gleichheit sein.“ [12] „Wenn also die ökonomische Form, der Austausch, nach allen Seiten hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der Inhalt, der Stoff, individueller sowohl wie sachlicher, der zum Ausdruck treibt, die Freiheit. Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit. Als reine Ideen sind sie bloß idealisierte Ausdrücke derselben; als entwickelt in juristischen, politischen, sozialen Beziehungen sind sie nur die Basis in einer anderen Potenz.“ [13]

Gerechtigkeit zwischen Lohn und Profit bzw. auf jeden Preis bezogen herrscht, wenn sie ihrem Wert entsprechend sich gestalten. Das tun sie. Diese Gerechtigkeit verhindert freilich nicht Elend und Armut, sie bringt diese regelgerecht hervor. Wenn jemand sagt, es sei ungerecht, dass Millionen verhungern und verelenden, während andere in Überfluss leben, hat diese Person weder den Charakter menschlichen Leids begriffen, noch den der Gerechtigkeit. Es ist wertgerecht, dass die Menschen, die nicht in- Wert-gesetzt werden können, an ihm verrecken. Der Markt ist so, und man muss froh sein, dass diese liberale, also sozialdarwinistische Instanz nicht die einzige ist und sein kann, die über die Schicksale entscheidet.

Wir leben in einer weitgehend gerechten Welt. Gerade das ist unser Problem. Was ist also gerecht zwischen einem Arbeiter und einem Unternehmer? Doch nichts anderes als die Realisierung des Werts der Ware Arbeitskraft. Um gar nichts anderes geht es im Klassenkampf. „Gleiche Exploitation der Arbeitskraft ist das erste Menschenrecht des Kapitals.“ [14] (Marx) Gegen den deutschen Nationalökonomen Adolph Wagner gewandt, schreibt derselbe: „Dunkelmann schiebt mir unter, dass , der von den Arbeitern allein produzierte Mehrwert den kapitalistischen Unternehmern ungebührlicherWeise verbliebe‘. Nun sage ich das direkte Gegenteil; nämlich, dass die Warenproduktion notwendig auf einen gewissen Punkt zur , kapitalistischen‘ Warenproduktion wird, und dass nach dem sie beherrschenden Wertgesetz der , Mehrwert‘ dem Kapitalisten gebührt und nicht dem Arbeiter.“ [15]

Marx hält ausdrücklich fest: „Die Gerechtigkeit der Transaktionen, die zwischen den Produktionsagenten vorgehn, beruht darauf, dass diese Transaktionen aus den Produktionsverhältnissen als natürlicher Konsequenz entspringen. Die juristischen Formen, worin diese ökonomischen Transaktionen als Willenshandlungen der Beteiligten, als Äußerungen ihres gemeinsamen Willens und als der Einzelpartei gegenüber von Staats wegen erzwingbare Kontrakte erscheinen, können als bloße Formen diesen Inhalt selbst nicht bestimmen. Sie drücken ihn nur aus. Dieser Inhalt ist gerecht, sobald er der Produktionsweise entspricht, ihr adäquat ist. Er ist ungerecht, sobald er ihr widerspricht. Sklaverei, auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise, ist ungerecht; ebenso der Betrug auf die Qualität der Ware.“ [16] Gerecht ist demnach, was nach den aktuellen gesellschaftlichen Gesetzlichkeiten gerechtfertigt werden kann.

Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen: Der Kapitalismus ist die Verwirklichung der Gerechtigkeit. Gerecht ist die Weltwirtschaftsordnung, gerecht ist die Ausbeutung, gerecht sind Löhne, Preise und Mieten. So viel Gerechtigkeit hat es noch nie gegeben. Der Tausch ist die entsprechende und somit gerechte Form der Realisierung des Wertgesetzes. Die Welt ist gerecht. Erstmals und letztmals. Alles andere wiederum ein Gerücht.

4 Euro oder 8 Euro?

Des Rätsels kompliziert einfache Lösung ist: Der Tausch ist in seiner konkreten Erscheinungsform ausgetauschter Gebrauchswerte, d.h. der Konsumtionsmöglichkeiten ungleich, in der Substanz vergegenständlichter Arbeit aber gleich. Der Tausch ist wertgerecht, bemißt man ihn an der Äquivalenz abstrakter Arbeitseinheiten, er ist aber erscheinungsungerecht, da er Produkte und Leistungen nach der durchschnittlich enthaltenen, d.h. der gesellschaftlich notwendigen Arbeitssubstanz (=Wert) bemisst. Was von der Form des Wertes her völlig gerecht ist, erscheint auf der inhaltlichen Ebene der stofflichen Allokation von Reichtum als eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Das formal Gleichwertige kann sich in unterschiedlichen stofflichen Quantitäten äußern. Wie umgekehrt. Das Gleiche ist gleich und doch nicht.

Der Reichtum ist nur der stoffliche Träger des Werts, nicht mit ihm identisch, auch wenn sie nicht getrennt auftreten, in der Ware eins sind. Ein Tisch mag ein Tisch sein nach dem Gebrauchswertinteresse, nach dem Tauschwertinteresse fragt man nur nach der darin enthaltenen abstraktifizierten Arbeit. Kurzum, was kosten? Auf der ständigen Identifizierung und somit Verwechslung von Wert und Reichtum baut der ganze gesunde Menschenverstand in all seinen Varianten seine beschränkten Sichtweisen auf. Merke: „Alles hat nur Wert, sofern man es eintauschen kann, nicht sofern es selbst etwas ist.“ [17]

Wer Gerechtigkeit außerhalb des Werts sucht, geht in die Irre. Sie ist stets eine vor dem Wert, alles andere ist moralisches Insistieren oder oft noch schlimmer: unerträgliches Gesuder, das jedoch nicht und nicht aufhören will. Mit der Forderung nach irgendeiner Gerechtigkeit bezieht man sich affirmativ, nicht kritisch auf die bürgerliche Gesellschaft. Nicht moralische Kritik ist erforderlich, sondern Kritik der Moral. Die Forderung „Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk“ [18] wurde ja von Marx und Engels immer zurückgewiesen. Marx nannte diese Losung ein „konservatives Motto.“ [19] Er wandte sich gegen die im Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokratie formulierte Phrase von der „gerechten Verteilung des Arbeitsertrags“. [20]

Schon im „Manifest“ bliesen Marx und Engels zum Feldzug gegen den apostolischen Moralismus der Zeit. „Es gehören hierher: Ökonomisten, Philantropen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art“, [21] heißt es da. Die Unmenschlichkeit, die Marx anprangerte – man lese das achte Kapitel des Ersten Bandes des „Kapital“, „Der Arbeitstag“ -, firmierte bei ihm nicht unter Ungerechtigkeit, so groß seine nachlesbare Abscheu auch gewesen ist. „Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral“, [22] hält Marx gegenüber Stirner ganz kategorisch fest.

Hinter der Losung der Gerechtigkeit verbirgt sich letztendlich doch nur die Formel von gerechten Preisen, gerechten Pensionen oder gerechten Löhnen. Was aber wäre nun Gerechtigkeit? Sind 4 Euro Stundenlohn für eine Textilarbeiterin ungerecht, 8 Euro aber gerecht? Sind 11 Euro für einen Erdölarbeiter ungerecht, [23] aber gerecht? Warum nicht 10 Euro für beide? Wären nicht Ober- und Untergrenzen gerecht, ja vielleicht überhaupt ein Einheitslohn? Welche Differenzierungen wären gerecht?

Kein Fragesatz, der nicht vor Dummheit strotzt. Man sieht, die ganze Debatte über Einkommenshöhen ist absurdes bürgerliches Theater. Neid- und Leidpfuscherei. Man kann ja viel wollen im Leben, ja man soll. Nahrung, Wohnung, Erholung, Liebe, Gesundheit, Spaß, das braucht man, von mir aus auch Champagner, Schweinebraten, Urlaubsreisen, Ruderboote, Videorecorder und Gummistiefel – wer aber braucht Gerechtigkeit?

Vorletzte Wahrheiten

Anstatt also Bedürfnis und Begehrlichkeit, ihre Möglichkeiten und Schranken zu überprüfen, beruft man sich lieber auf die Fetische bürgerlichen Daseins, auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, die man partout nicht eingelöst sehen will und daher unablässig auf ihre Erfüllung pocht. Auf der Tagesordnung stünde aber die Loslösung davon: Es soll das Wollen sich direkt artikulieren, nicht sich als Gerechtigkeit kostümieren.

Die bürgerlichen Leitwerte hatten bestimmende Kraft in der Epoche seit der Aufklärung bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Heute ist diese Kraft aber weitgehend erschöpft und aufgebraucht, sie wirkt zusehends abgestanden und abgeschmackt. Jene Werte verbreiten immer mehr eine „schweißfüßige Atmosphäre“22 (Karl Kraus). Zukünftige Emanzipationsbewegungen werden nicht an den verinnerlichten Werten der bürgerlichen Epoche anknüpfen können, sie werden diese transformatorisch überwinden müssen.

Es geht um die radikale Historisierung vermeintlich ontologischer Konstanten. Schon Friedrich Engels etwa notierte in den Vorarbeiten zum „Anti-Dühring“: „Es hat also fast die ganze bisherige Geschichte dazu gebraucht, den Satz von der Gleichheit = Gerechtigkeit herauszuarbeiten, und erst als eine Bourgeoisie und ein Proletariat existierten, ist es gelungen. Der Satz der Gleichheit ist aber der, dass keine Vorrechte bestehen sollen, ist also wesentlich negativ, erklärt die ganze bisherige Geschichte für schlecht. Wegen seines Mangels an positivem Inhalt und wegen seiner kurzhändigen Verwerfung alles Frühern eignet er sich ebensosehr für Aufstellung durch eine große Revolution (… ) wie für spätere systemfabrizierende Flachköpfe. Aber Gleichheit = Gerechtigkeit als höchstes Prinzip und letzte Wahrheit hinstellen zu wollen, ist absurd.“ [24] „So ist die Vorstellung der Gleichheit selbst ein historisches Produkt, zu deren Herausarbeitung die ganze Vorgeschichte nötig, die also nicht von Ewigkeit her als Wahrheit existierte.“ [25] Und: „Mit Einführung der rationellen Gleichheit verliert diese Gleichheit selbst alle Bedeutung.“ [26]

Die Werte des Werts erlebten in der bürgerlichen Epoche eine ideologische Hochstilisierung sondergleichen, alle Bewegungen, von rechts bis links, beriefen sich letztlich auf sie, traten in ihrem Namen auf und für sie ein, was natürlich auch alles über ihren Grundcharakter aussagt. Das Absingen des bürgerlichen Kanons, der „alten weltbekannten demokratischen Litanei“ [27] (Marx) ist allgemeiner Konsens geworden. Tendenziell allgegenwärtig. Doch dieser Gesang ist nicht so mächtig wie er laut ist. In seiner unablässigen Wiederholung klingt der Refrain kapitalkonformer Rezitative immer falscher, man denke an Derrida oder Hardt/Negri. Die Harmonie ist erheblich gestört, die Dissonanzen sind kein konjunkturelles Phänomen, sie lassen vielmehr eine andere Melodie erahnen.

Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit sind allerhöchstens die vorletzten Wahrheiten der Menschheit. Wahrscheinlich nicht einmal das. So paradox es dem modernen Individuum erscheint, gerade darum geht es: Nicht mehr die Gerechtigkeit zu verinnerlichen, sondern sich ihrer zu entledigen! Sie trägt nirgendwo hin, wo wir nicht schon gewesen. Im Zeichen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ist heute keine emanzipatorische Praxis mehr zu entwickeln. Diese sind nichts anderes als Grundprinzipien des Kapitals. Der Sozialismus ist jenseits davon. Kommunisten sind nicht jene, die die Gerechtigkeit verwirklichen wollen, sondern solche, die die Notwendigkeit zur Gerechtigkeit abschaffen möchten.

[1Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms (1875), MEW, Bd. 19, S. 31.

[2Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms (1875), MEW, Bd. 19, S. 31.

[3Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Stuttgart 1969, S. 127.

[4Ebenda, S. 129.

[5Ebenda, S. 120.

[6Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften (1803), Werke 2, Frankfurt am Main 1986, S. 486.

[7Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Werkausgabe Band VIII, Frankfurt am Main 1991, S. 630.

[8Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), zweite, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage 1960, Wien 1992, S. 60-61.

[9Jacques Derrida, Marx‘ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main 1995, S. 11.

[10Zit. nach Neue Zürcher Zeitung, 23. /24. Februar 2002, S. 7.

[11Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie (1845/46), MEW, Bd. 3, S. 47.

[12Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58), MEW, Bd. 42, S. 171.

[13Ebenda, S. 170.

[14Karl Marx, Das Kapital, Erster Band (1867), MEW, Bd. 23, S. 309.

[15Karl Marx, [Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie“] (1879/80), MEW, Bd. 19, S. 382.

[16Karl Marx, Das Kapital, Dritter Band (1894), MEW, Bd. 25, S. 351-352.

[17Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947), Frankfurt am Main 1971, S. 142.

[18Friedrich Engels, Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagewerk (1881), MEW, Bd. 19, S. 247ff.

[19Karl Marx, Lohn, Preis und Profit (1865), MEW, Bd. 16, S. 152.

[20Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 18ff.

[21Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), MEW, Bd. 4, S. 488.

[22Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 229.

[23Karl Kraus, Sittlichkeit und Kriminalität (1908), Frankfurt am Main 1987, S. 113.

[24Friedrich Engels, Materialien zum Anti-Dühring (1876-78), MEW, Bd. 20, S. 580.

[25Ebenda, S. 581.

[26Ebenda.

[27Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 29.

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