FORVM, No. 233
Mai
1973

Marx glaubt nicht an die Natur

Zur Kritik der Naturphilosophie. Plädoyer für einen antitechnokratischen Marxismus

1 Mit Engels und Lenin zurück hinter Kant?

Die marxistische Naturphilosophie hat seit je unter dem Handikap der vulgärphilosophischen Bücher von Engels und Lenin gelitten. Erst in jüngster Zeit scheint sich mit der „Entdeckung“ des Werks von Sohn-Rethel ein Ausweg abzuzeichnen.

Der Hauptfehler von Engels und Lenin besteht darin, daß sie hinter die Erkenntniskritik von Kant zurückgehen, indem sie in naiv-realistischer Weise meinen, es gebe eine so und so beschaffene Natur außerhalb unserer Wahrnehmungsorgane, von der wir in direkter Weise Kenntnis erlangen können. Lenin spricht in seinem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“ (1909) immer wieder von „Annäherungen an die objektiv-realen Formen des Seins“, welche er sich „asymptotisch“ vorstellt. Für flüchtige Leser klingt das subtiler als der naive Realismus, der glaubt, daß die Natur außerhalb des Sinnesapparatess an einem absoluten Ort quasi fertig verpackt zur Abholung bereitliege; in Wirklichkeit ist Lenins „Annäherung an das objektiv-reale Sein“ ein Griff nach dem Ding-an-sich: Wenn man sich nämlich einer Asymptote nähert, weiß man aus der Krümmung des Weges schon, wo jene liegt, man kann sie bestimmen, ohne hinzugelangen. Es war also mehr als eine professorale Marotte von Max Adler, dem linken Flügelmann des Austromarxismus, daß er die Marxisten ermahnte, die Fortschritte der Kantschen Erkenntnistheorie mitzunehmen. In diesem Punkt haben Engels und Lenin gesündigt, nie aber Marx.

Engels’ nachgelassene „Dialektik der Natur“ enthält kleinbürgerlich-heroische Phantastereien, die von den Orthodoxen peinlich umgangen werden. In der Einleitung spricht Engels von einem „ewigen Kreislauf der Materie“: „... wir haben die Gewißheit, daß die Materie in allen ihren Wandlungen ewig dieselbe bleibt, daß keins ihrer Attribute verlorengehen kann, und daß sie daher auch mit derselben eisernen Notwendigkeit, womit sie auf der Erde ihre höchste Blüte, den denkenden Geist, wieder ausrotten wird, ihn anderswo und in anderer Zeit wieder erzeugen muß.“ [1] Eine solche Ideologie entspricht der einfachen Reproduktion des Kapitals nach Marx. Engels, der erste Revisionist des Marxismus, überragte den bürgerlichen Materialismus à la Haeckel nicht so weit wie er glaubte. Die Kritik dieser Anschauungen ist ja nicht neu, Sartre und Alfred Schmidt etwa haben sie bereits geübt. Es kommt aber darauf an, ihre Zeit- und Klassenbedingtheit aufzuzeigen, nur so kann eine weiterführende Negation gelingen.

Ein solches Programm dialektischer Kritik muß der zentralen These von Lenin widersprechen, die da lautet: „Der Materialismus überhaupt erkennt das objektiv reale Sein (die Materie) als unabhängig von dem Bewußtsein, der Empfindung, der Erfahrung usw. der Menschheit an.“ [2] Diese These ist entweder inhaltsleere Ontologie (d.h., man kommt von dem „unabhängigen“ Bewußtsein sowieso nie zu der „Materie“ hin), oder sie meint etwas über die erfahrene und erfahrbare Gestalt des Materiellen — dann ist sie innerhalb des Marxschen Systems falsifizierbar. Unser Naturbild ist nämlich nicht beliebig oder von der Natur selbst bestimmt. Natur hat keine Gestalt „an sich“, die wir nur abzulesen brauchten. Eine solche Abschließung und Verabsolutierung des Naturbegriffs ist nicht möglich, global können wir lediglich sagen, Natur ist das grenzenlose „Äußere“, in dem wir uns als Produzenten bewegen. Das Medium unserer Erfahrung von diesem Äußeren ist die Arbeit. Die Struktur der Produktion ist zugleich der Spielraum unserer Phantasie, aus ihr entnehmen wir die Modelle, die wir dann nach außen projizieren. Was wir je konkret über die Natur denken, unser Naturbild, ist ein Abbild der Produktionsverhältnisse. Diese These soll im folgenden an der Geschichte des Atomismus exemplifiziert werden.

2 Das Atom — ein bürgerliches Individuum

Nach Heraklit wird „alles gegen das Feuer und das Feuer gegen alles ausgetauscht, so wie Waren gegen Gold und Gold gegen Waren“. Dieser Satz (Diels-Fragment Nr. 90) ist schon Lassalle und Marx aufgefallen. Der englische Altertumsforscher George Thomson hat die Deutung insofern verschärft, als er darin „den ideologischen Widerschein einer auf Warenproduktion beruhenden Gesellschaft“ erblickt. [3] Thomson sieht in den antiken Elementarvorstellungen Abbilder des Tauschwerts in der Natur: „Das parmenidische ‚Eine‘ kann zusammen mit der später geprägten Idee des ‚Stoffes‘ als Reflex oder Projektion der Substanz des Tauschwerts bezeichnet werden.“ [4] Die Idee, daß man verschiedene Qualitäten (Gebrauchswerte) auf denselben quantitativen Nenner bringen könnte (Tauschwert), ist offenbar aus der Warenproduktion abgezogen, und es liegt nahe, die Entstehung der Atomtheorie mit dem Auftauchen der Münzen in den kleinasiatischen Handelsstädten um -700 zu erklären, wo die ionischen Naturphilosophen gewirkt haben. Die Atome sind die Münzen, mit denen die Natur „tauscht“, und diese Münzen sind nach Marx wiederum nur Fetische, welche die wirklichen menschlichen Beziehungen, also die Eigentumsverhältnisse, entfremdet darstellen.

Marx: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtheit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.“ [5]

Die Atome sind also im ersten Durchgang Abbilder von Münzen, im zweiten Abbilder jener ionischen Händler, die erstmals in der europäischen Geschichte den Typus des autonomen Individuums kreieren.

Marx erwähnt schon in seiner Doktordissertation „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie“ (1841), daß sich Demokrit „ganz sinnlich einen und denselben Körper durch den leeren Raum in viele geteilt denkt, wie Gold, das in Stücke gebrochen ist.“ [6] Dies ist der Schritt von der Warenform in die Natur. Über den Rückbezug auf den gesellschaftlichen Individualismus sagt Marx an derselben Stelle: „Wie also das Atom von seiner relativen Existenz, der geraden Linie, sich befreit, indem es von ihr abstrahiert, von ihr ausbeugt: so beugt die ganze epikureische Philosophie überall da dem beschränkten Dasein aus, wo der Begriff der abstrakten Einzelheit, die Selbständigkeit und Negation aller Beziehungen auf Anderes, in seiner Existenz dargestellt werden soll. So ist der Zweck des Tuns das Abstrahieren, das Ausbeugen vor dem Schmerz und der Verwirrung, die Ataraxie.“ [7]

Caudwell, Farrington und Thomson haben gezeigt, daß die Geschichte der Atomtheorie mit der Genese des bürgerlichen Individualismus identisch ist. Der aus Atomen zusammengesetzte Körper entspricht der Polis, der antiken Demokratie, die aus freien, wenn auch sklavenhaltenden Individuen besteht. Mit Gassendi taucht die Atomlehre in der Renaissance wieder auf und ihre weitere Entwicklung verläuft parallel mit dem freihändlerischen Liberalismus. 1789 deklariert die Französische Revolution die Menschen- und Bürgerrechte, 1801 führt Dalton die Atomhypothese in die Chemie ein, die dann auf die Gaslehre ausgedehnt wird (Gay-Lussac 1802, Avogadro 1811). Als 1867 der gemäßigte Liberalismus in Österreich zur Macht gelangte, führte Boltzmann den Atomismus in die Wärmelehre ein (1868). In seiner Antrittsvorlesung über die Prinzipien der Mechanik rezipierte Boltzmann die These der französischen Aufklärung über den gesunden Eigennutz: „In erster Linie wird es nun ohne Frage für jedes Individuum von Wichtigkeit sein, daß sein Streben auf die eigene Erhaltung gerichtet ist, und es scheint der Egoismus nicht als Fehler, sondern als Notwendigkeit.“ [8] Ebenso notwendig ist die „egoistische‘‘ Bewegung der Atome für die Entstehung von Wärme.

Boltzmann hat Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung als die mathematische Methode der Behandlung „unabhängiger Individuen“ in die Thermodynamik eingeführt. Ähnliche liberale Schübe brachten den Einbruch statistischer Interpretationen in die Quantentheorie durch Max Born (1926) und in die Nachrichtenübertragungstechnik (1942) durch Norbert Wiener.

Schon der Kathedersozialist Ferdinand Toennies hatte die Geld-Deutung für den Atomismus: „Und folglich verhalten sich wissenschaftliche Begriffe, die ihrem gewöhnlichen Ursprung und ihrer dinglichen Beschaffenheit nach Urteile sind, durch welche Empfindungskomplexen Namen gegeben werden, innerhalb der Wissenschaft wie Waren innerhalb der Gesellschaft. Sie kommen zusammen im System, wie Waren auf dem Markte. Der oberste wissenschaftliche Begriff, welcher nicht mehr den Namen von etwas Wirklichem erhält, ist gleich dem Gelde, z.B. der Begriff Atom oder der Begriff Energie.“

Georg Lukács machte 1955 darauf nur die Bemerkung „antihistorische Überspannung von Begriffen“ und „Analogisieren“. [9] In „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923) war Natur für ihn noch eine gesellschaftliche Kategorie gewesen...

Auch Otto Bauer hatte 1916 schon die Deutung: „Die mechanistisch-atomistische Naturauffassung schuf die Welt nach dem Ebenbilde des Kapitalismus ... Nach dem Vorbild des Individuums ersannen sie das Atom: Individuum und Atom bedeuten dem ursprünglichen Wortsinne nach dasselbe; Individuum bezeichnet in der lateinischen, Atom in der griechischen Sprache das Unteilbare.“ [10]

In jüngster Zeit hat Alfred Sohn-Rethel versucht, Thomsons Ergebnisse begrifflich zu verallgemeinern. Das Hauptresultat ist, daß „Natur“ als Kategorie erst besteht, seit die Gesellschaft in Klassen geteilt ist, also seit der Spaltung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit in den Metallzeiten. Die klassenlose Gentilgesellschaft kannte noch die Einheit zwischen Gesellschaft und Natur, die Magie als zugeordnete Ideologie unterschied die beiden Bereiche nicht. [11]

Erst in der griechischen und chinesischen Antike entstand, ziemlich gleichzeitig, mit dem Auftauchen der Münzform des Warentausches der Naturbegriff vom heutigen Typ; die Dichotomie zieht sich durch alle Schichten: der Spaltung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit entspricht die Verdopplung der Ware in Geld und Ware (Tausch- und Gebrauchswert), und das dem Produzenten entfremdete Produkt seiner Arbeit erscheint ihm als Ware in Kategorien von „Natur“. Das Arbeitsprodukt verwandelt sich aus einem Bestandteil des Produzenten in ein „Objekt“, etwas Äußeres.

Die allgemeinste Form dieser Naturanschauung identifiziert Sohn-Rethel als Kants Transzendentalsubjekt, [12] d.h. als Vereinigung der A-priori-Anschauungen, die jede Epoche von der Natur hat (modern ausgedrückt: als die axiomatischen Systeme der Naturwissenschaften).

Um es mit den Worten Otto Bauers auszudrücken (Sohn-Rethel weiß nicht, daß er im Austromarxismus Vorläufer hat, [13] nämlich Bauer und Max Adler): „Nach dem Vorbild der menschlichen Arbeitsverrichtung stellen wir uns alle Veränderungen in der Natur vor ... Wird die bürgerliche Rechtsordnung, die den Bedürfnissen des Kapitalismus entspricht, als Naturrecht schechthin angesehen, das in der unveränderlichen moralischen Natur des Menschen begründet sei, so werden die Naturgesetze, mittels derer das Zeitalter des Kapitalismus die Welt nach seinem Ebenbilde schafft, zu Gesetzen des menschlichen Erkenntnisvermögens überhaupt.“ [14]

Bei Herbert Marcuse lautet das so: „Die Technik ist jeweils ein geschichtlich-gesellschaftliches Projekt: in ihr ist projektiert, was eine Gesellschaft und die sie beherrschenden Interessen mit den Menschen und mit den Dingen zu machen gedenken.“ [15]

Die Konsequenz ist für Sohn-Rethel klar: bei der Aufhebung der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit muß die metaphysische Spaltung zwischen Gesellschaft und Natur zusammenbrechen, und umgekehrt setzt ein solcher revolutionärer Akt die Überwindung des mathematisch-mechanischen Naturbildes in der Theorie voraus.

3 Marxistischer Strukturalismus

Ich möchte Sohn-Rethels Resultat so ausdrücken: Unser Naturbild ist eine Abbildung der Produktionsverhältnisse in den Bereich der Produktionskräfte.

Wenn wir diese These in das Marxsche Begriffsschema des „historischen Materialismus“ einpassen wollen, müssen wir die Grundbegriffe kurz diskutieren (um bequemer darüber reden zu können, habe ich das Schema aufgezeichnet). Marx definiert seine Grundkategorien in der berühmten Einleitung des Buches „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1859). [16] Er gliedert die „gesellschaftliche Produktion“ in drei Schichten: Produktivkräfte (PK) = Arbeitskraft, Technik usw., Produktionsverhältnisse (PV) = Eigentumsbeziehungen zwischen den Klassen, und Überbau (ÜB) = gesellschaftliche Bewußtseinsformen (Ideologie). Produktionsweise (PW) nennt Marx die Vereinigung von PK und PV, deren Wechselspiel die Geschichte vorantreibt.

Zwei Mißverständnisse tauchen ziemlich regelmäßig auf. Das erste bezieht sich auf die Abhängigkeit des Überbaus von der Basis. Marx meint nicht, wie viele glauben, daß Natur, Technik und Eigentum den Überbau bestimmen, also die ganze PW, sondern für ihn ist die Basis, auf der sich der Überbau erhebt, ausschließlich in den Eigentumsverhältnissen lokalisiert. Darauf weist beispielsweise Sohn-Rethel hin, wenn er sagt, „daß es die Produktionsverhältnisse sind, nicht etwa die Produktivkräfte und die materielle Beschaffenheit der Dinge, welche die bestimmenden Wirkungen auf die Bewußtseinsweise ausüben.“ [17] Die gegenteilige Anschauungsweise sei eine vulgärmarxistische Verkümmerungsform des Marxismus, [18] wie etwa die ontologische Entartung der Dialektik bei Engels in eine simple Abbildtheorie. [19] Das zweite häufige Mißverständnis der Marxschen Produktionskategorien ist ein erkenntnistheoretisches. Das oben wiedergebene Schema ist erkenntnistheoretisch invariant, d.h. es sagt über die gnoseologische Interpretation der verwendeten Begriffe nichts aus. Die Kategorien Überbau und Basis sind nicht etwa so gemeint, daß der Überbau den Geist und die PV bzw. PW die Materie repräsentieren — das wäre bloß ein Rückfall in die Philosophie Platos (Philosophen versus Heloten) oder Aristoteles (Form und Stoff). Marx meint, daß alle Kategorien zunächst im Gehirn des Einzelindividuums repräsentiert sind, grob gesprochen: der ÜB als Ideologie (Über-Ich nach Freud), die PV als Klassenbewußtsein, die PK als technisches know how. Erst der gesellschaftliche Prozeß, also Produktion und Warenaustausch, stellt die Intersubjektivität her. Sohn-Rethel pointiert gar: „Der Solipsismus ist die genaue Beschreibung des Standpunktes, auf dem im Warenaustausch die Interessen zueinander stehen.“ [20]

„Materiell‘ heißt für Marx lediglich, daß diese Kategorien vom Einzelsubjekt nicht beherrschbar sind, daß der Einzelne die Bestimmung des Überbaus durch die Eigentumsverhältnisse, die sich in seinem Kopf vollzieht, nicht aufheben kann. Daß das Individuum dieses Materielle, welches durch den intersubjektiven Prozeß der Produktion gesetzt wird, ontologisch „hereinholen“ könnte, indem es gleichsam stofflich ins Absolute hinausgreift, das sagt Marx nirgends, und es ist auch noch niemand gelungen, ihm das nachzuweisen — im Gegensatz zu Engels. [21]

Welchen Platz hat nun die „Natur“ im Schema von Marx? Zunächst ist sie das „Äußere“, der Arbeitsgegenstand, das, was durch die Produktion in unser Gesichtsfeld gezogen wird, indem wir mittels Arbeit aus dem Ding-an-sich ein Ding-für-uns machen. [22] Aber diese modale Auffassung der Kategorie Natur als eine unendliche Ursuppe von Möglichkeiten für die Produktion ist vielleicht noch zu metaphysisch, kantianisch. Solange wir nicht abstrakte Modallogik treiben, ist Natur immer nur das, was wir kennen, nicht das, was wir kennen können. Wir subsumieren also Natur unter die Produktivkräfte und berufen uns dabei auf Alfred Schmidt, der das Marxsche Naturbild folgendermaßen zusammenfaßt:

„Die Arbeit ist uno actu ein Vernichten der Dinge als unmittelbarer und ihr Wiederherstellen als vermittelter. Weil immer schon durch geschichtliche Arbeit filtriert, stellen die unabhängig vom Bewußtsein existierenden Dinge gerade in dieser Unabhängigkeit etwas Gewordenes dar, ein ins Für-Uns übersetztes An-Sich. Damit entfällt auch die primitive Vorstellung von der Erkenntnis als Abbild, bei der Bewußtsein und Gegenstand einander schroff entgegengesetzt werden und die für letzeren konstitutive Rolle der Praxis außer Betracht bleibt. Die gegenständliche Welt ist kein bloß abzubildendes An-Sich, sondern in hohem Maße ein gesellschaftliches Produkt.‘‘ [23]

Sohn-Rethels These, daß das Transzendentalsubjekt eine Spiegelung der Produktionsverhältnisse in der Ware sei, oder Max Adlers „gesellschaftliches a priori“, oder die obige Formulierung, daß das Naturbild (in seiner abstrakt-axiomatischen Gestalt) eine Projektion der Produktionsverhältnisse auf die Produktivkräfte darstelle — alle diese Thesen reflektieren ideologisch eine Entwicklung, die Marx seinerzeit vorhergesagt hat: daß nämlich die Wissenschaft immer mehr zur unmittelbaren Produktivkraft wird. Die „Natur-für-Uns“ rückt in Gestalt von Wissenschaft und Technik immer stärker in die PK ein. Was Naturwissenschaft in ihrer abstraktesten Form aussagt, wird nicht vom ÜB her bestimmt, oder von einer absolut irgendwo hausenden Natur, sondern von den PV. Dadurch rücken die Produktionsverhältnisse ins Zentrum der Marxschen Analyse, indem sie sowohl nach „oben“ (in den ÜB) wie nach „unten“ (in die PK) als prägendes Formprinzip ausstrahlen. Demgemäß ist der von Marx statuierte Konflikt zwischen PV und PK nicht nur ein Kampf ums Eigentum (PV-Ebene), bzw. um die Rechtfertigungsideologien (auf der ÜB-Ebene), er ist auch zugleich ein Kampf um die neue Wissenschaft (auf der PK-Ebene). Das Schicksal Galileis und Einsteins illustriert dies.

Einsteins Vertreibung aus Deutschland durch die völkische „Revolution“ hängt unmittelbar mit der politökonomischen Bedeutung seiner Relativitätstheorie zusammen. Die Abschaffung des absoluten Raumes durch die spezielle Relativitätstheorie 1905 widerspiegelt die zeitgenössische Krise des preußischen Absolutismus. [24] Die preußische Bürokratie verstand sich als der absolut ruhende Äther und war sauer, weil sie damals ihre Rolle als Ausgleichsagentur zwischen agrarischem Junkertum und aufsteigendem Industrie- und Bankkapital verlor, um der Kapitalsherrschaft über den Staat Platz zu machen („Stamokap“). In den zwanziger Jahren übertrug sich die Unruhe auf die depossedierten Kleinbürger, die mit Recht um ihren festen Platz in der Gesellschaft fürchteten, und dies ergab den politischen Ätherwind, der Einstein um die Ohren brauste.

Die hier skizzierte Interpretation ist eine Art marxistischer Strukturalismus, prinzipiell vereinbar mit der Theorie von Durkheim und Nachfolgern. Allerdings ist die Richtung Lévi-Strauss nicht gerade interessiert an der Analyse von Eigentumsverhältnissen, man hat manchmal das Gefühl, sie beschäftigen sich mit der Gentilgesellschaft deswegen so gern, weil sie da das unangenehme Geräusch der Klassenkämpfe vergessen können. Lévi-Strauss, der sich so sehr bemüht, die Kompatibilität seines Systems mit dem von Marx darzulegen, schreibt in seinem Hauptwerk: „Tatsächlich äußern Marx und Engels häufig den Gedanken, daß primitive oder angeblich primitive Gesellschaften mittels ‚Blutsbande‘ gesteuert werden (was wir heute Verwandtschaftssysteme nennen), und nicht durch ökonomische Beziehungen ... In ihren Augen spielten die Verwandtschaftsbeziehungen in den nicht- bzw. vorkapitalistischen Gesellschaften eine wichtigere Rolle als die Klassenbeziehungen.“ [25]

Für den orthodoxen Marxismus vom Engels-Typ, der gegenwärtig in Osteuropa mit dem Neopositivismus um die Bewahrung seiner Herrschaft ringt, muß unsere These idealistisch erscheinen, da sie die dort allein zugelassene Regel der Wirkung von „unten“ nach „oben“ (PK→PV→ÜB) verletzt. Der im Westen herrschende Neopositivismus wieder wird das, was die Gültigkeit seiner Axiome in Frage stellt, für unwissenschaftlich erklären: der Positivist setzt frohgemut sein Axiomensystem und interessiert sich nicht für dessen Herkunft, nur für die tautologische Umformung der Fundamentalrelationen.

4 Stufentheorie

Marx hat in der „Kritik der politischen Ökonomie“ vier Stufen der Klassengesellschaft unterschieden — „asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweise“. [26] Engels hat diesen historischen Ansatz auf die Naturgeschichte ausgedehnt, hierbei übrigens Hegel folgend. Schmidt moniert, daß man auf diesem Weg in Gefahr gerät, die Gesellschaft gegenüber der Natur als etwas Sekundäres anzusehen — gegen die Marxsche Intention. [27] Die Engelsschen Stufen bilden ein historisch gewachsenes Schachtelsystem, wo immer die höhere (spätere) Stufe die niedrigere (frühere) enthält, und korreliert damit ein System der Wissenschaften: „Klassifizierung der Wissenschaften, von denen jede eine einzelne Bewegungsform oder eine Reihe zusammengehöriger ineinander übergehender Bewegungsformen analysiert, ist damit Klassifikation, Anordnung, nach inhärenter Reihenfolge, dieser Bewegungsformen selbst“. [28]

Stalin hat dieses System 1938 in jenem berühmten Abschnitt aus dem vierten Kapitel der „Geschichte der kommunistischen Partei der Sowjetunion (B)“ kanonisiert; es hat in Osteuropa die Religion quasi ersetzt. In der bürgerlichen Philosophie gibt das reichlich Anlaß zu Spott — zu Unrecht, denn die Stufentheorie ist in der Tat die Gestalt, in der sich die Naturwissenschaften heute präsentieren. Eine Kritik, die nicht zugleich die Basis der heutigen Naturwissenschaft aufhebt, bleibt hilflos.

Verschiedene bürgerliche Naturwissenschafter und Philosophen haben Stufensysteme ausgearbeitet. So etwa der südafrikanische General und langjährige Premier (1919-1924, 1938-1948) J. C. Smuts, der dies „Holismus“ (die Lehre von den Ganzheiten) nannte (1926). Dieses Modell übernahm der englische Atmungsphysiologe J. S. Haldane (der jüngere Bruder des englischen Kriegsministers von 1905-1912 und Vater des bekannten „marxistischen“ Biologen J. B. S. Haldane), indem er die Erfahrung der spezifischen Lebensqualität, der Irreduzibilität der höheren Qualität, welche die Vitalisten verabsolutiert hatten, mit Physik und Chemie in einen rationalen Zusammenhang brachte. J. S. Haldane 1930: „Die physikalischen Wissenschaften haben als Grundlage ihrer weiteren Entwicklung rohe mathematische Daten, ausgedrückt in Begriffen von Raum und Zeit, Daten, die alsdann physikalisch und chemisch gedeutet werden. Ganz entsprechend haben die biologischen Wissenschaften als Grundlage für ihre weitere Entwicklung rohe physikalische und chemische Daten, die alsdann biologisch gedeutet werden.“ [29]

Die logisch am besten durchgebildete Form hat das bürgerliche Wissenschaftsbild in der Schichtenontologie Nicolai Hartmanns erfahren. In Hartmanns Kategorienanalyse werden verschiedene Begriffe wie Kausalität und Determination erstmals im Einklang mit der Naturwissenschaft exakt erklärt (Begriffsabgrenzung: Inneres und Äußeres von Verursachungssystemen usw.). In seiner „Stufenordnung“ ist die Dialektik des „Ineinandersteckens“ auf diejenigen Merkmale bezogen, die allen Stufen gemeinsam sind — eine Verallgemeinerung, welche den philosophisch dilettierenden Naturwissenschaftern nicht gelungen war. Hartmann: „Eine jede Art des Gefüges hat ihre eigene, ihrer Größenordnung allein gemäße Dynamik; jedes Gefüge hat ein besonderes Verhältnis von Form und Außen, seine eigentümliche Zentraldetermination, Begrenzungsform und Ganzheit ... Eigenform, Eigengesetzlichkeit, Eigendetermination der größeren Gefüge sind niemals bloße Funktionen der kleineren, die ihre Aufbauelemente bilden ... Jede Zentraldetermination ist ein determinatives Novum gegen jede andere: die niedere läßt der höheren unbegrezten Spielraum, die höhere der niederen unbegrenzte Selbständigkeit.“ [30] Was bedeutet die Stufentheorie gesellschaftlich, welche Produktionsverhältnisse bilden sich hier ab? Die Antwort ist einfach: die Klassenschichtung der Gesellschaft als solche. Am leichtesten demonstriert man das an einer extrem reaktionären Position wie der des österreichischen Ständestaatsideologen Othmar Spann. Spann war Ende der zwanziger Jahre Chefideologie der österreichischen Heimwehren und vertrat die kleinbürgerliche Bewahrungsideologie, die sich am mittelalterlichen Handwerkerideal festklammerte. Gegen Industrialisierung und Moderne versuchte Spann die alte Ordnung durch eine organizistische Ganzheitslehre zu befestigen, wo jeder seinen unverrückbaren (darauf kam es an!) Platz hatte: „Wo Ungleiche sich nach ihrer relativen Gleichheit zu organischen (untereinander verschiedenen) Gruppen finden, haben diese Gruppen (z.B. die Zünfte, die Feudalstände, die Kirche) jeweils verschiedene Einordnungszentren über sich, es entstehen so verschiedene, d.h. dezentralisierte Organisationsgewalten und Herrschergewalten, wie wir sie z.B. in jedem ständischen Staate sehen oder auch im menschlichen Organismus, wo Knochensystem, Nervensystem, Verdauungssystem je relativ eigene Lebenskreise, ‚Organsysteme‘ bilden ... Universalistisch kann nur Ungleichheit verlangt werden, aber allerdings nicht wildgewachsene Ungleichheit (die wäre macchiavellistisch oder anarchistisch, kurz, individualistisch), sondern organische Ungleichheit, Ungleichheit, die im Rahmen der Ganzheit bleibt, die aus dem Wesen der Ganzheit folgt, die aus dem inneren Verfichtungsplane (Funktionssystem) der Ganzheit sich ergibt.“ [31]

In abgeschwächter Form sind auch alle anderen Stufentheorien ideologische Befestigungen von Klassenunterschieden. Dies und nicht ihr ontologischer Charakter, den Alfred Schmidt Engels vorhält, [32] ist der gravierendste Mangel. Das Ursprungsmodell muß dabei nicht immer und unbedingt die Totalität der Klassenschichtung sein, es können auch Subsysteme abgebildet werden, wie etwa bei General Smuts die Militärhierarchie bzw. der südafrikanische Rassenstaat (Neger, bleib wo du bist).

Gegenwärtig ist in unseren Breiten die aktuellste Form einer Stufengliederung durch die Mitbestimmungsproblematik vorgegeben, durch die Idee der Autonomie der kleineren Einheiten in größeren, wobei die übergeordnete Ebene der Eigentumsverhältnisse nicht gestört werden soll. Dieser Gedanke ist 1958/59 von Benedikt Kautsky in das Salzburger Programm der SPÖ bzw. das Godesberger Programm der SPD eingeführt worden. Selbst die Marxsche Konzeption muß hier in ihrer Begrenztheit gesehen werden, schließt sie doch den Widerspruch durch ein vorgängiges hierarchisches Stufensystem gleichsam ein, während etwa in der Philosophie des Laotse oder seines Zeitgenossen Heraklit der Widerspruch unbedingt herrschte. Im Übergang zu einer klassenlosen Gesellschaft müßte die Stufenvorstellung zusammenbrechen.

Erzeugung einer 20-Tonnen-Panzerplatte, Sheffield 1861

5 Austromarximus und Neopositivismus

Daß die Spätblüte des Liberalismus in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Wiener Kreis die Ideologie der Technokratie hervorgebracht hat, ist paradox angesichts der hiesigen Schwäche der Produktivkräfte. Der Liberalismus war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Bürokratie aufgesogen worden, und wenn die alte Bürokratie ein rein politisches Herrschaftssystem trug, so ist der Neopositivismus die Ideologie der Integration der Bürokratie in die Industriestruktur. Der Wiener Kreis war der Liberalismus auf der Suche nach neuen Anwendungsgebieten für seinen Kalkül. In seiner industriellen Gestalt ist der Neopositivismus heute praktisch die Ideologie der Sozialdemokratie.

Der „Verein Ernst Mach“ im Wien der zwanziger Jahre, die Organisation des Wiener Kreises, stand in engem Bündnis mit der Sozialdemokratie. Vorsitzender des Vereins war der Nestor der Wiener Mathematik Hans Hahn, der zugleich als Obmann dem Verein sozialdemokratischer Hochschullehrer vorstand. DerLeitung des „Vereins Ernst Mach“ gehörten neben Schlick und Carnap die Sozialdemokraten Julius Tandler, Otto Neurath und der Physiker Hans Thirring an (Thirring war noch SPÖ Bundesrat in der 2. Republik). [33] Die ideologische Mittlertätigkeit zwischen dem „Verein Ernst Mach“ und dem „Verein Karl Marx“ besorgte Otto Neurath, der Erfinder der „Einheitswissenschaft“.

Auf der Tagung in Prag 1929, wo der Neopositivismus als Schule seinen äußeren Durchbruch erzielte, schilderte der Mathematiker, Sozialdemokrat und Neopositivist Hans Hahn die „Stimmung“, aus der diese Philosophie sich gesellschaftlich ableitet: „Der wahre Ausdruck unserer Zeit, der Zeit der Organisation mit ihrem festen Gefüge; das nur fest ist durch Arbeit am Einzelnen, der Zeit der Rationalisierung der Industrie, die in einem wohlumgrenzten Systeme wirksam ist, indem sie das Kleinste erfaßt, der Zeit der Sachlichkeit in Architektur und Gewerbe, der wahre Ausdruck dieser Zeit ist die wissenschaftliche Weltauffassung mit ihrer liebevollen, sorgfältigen, ins Einzelne gehenden Beobachtung des Gegebenen, mit ihren vorsichtigen, logischen Konstruktionen Schritt für Schritt, mit ihrer schlichten Sprache die keine andere Aufgabe kennt, als: das klar zu sagen, was gesagt werden soll.“ [34]

„Die Rationalisierung der Industrie ...“ — im Jahr 1931 erscheint das Buch von Otto Bauer „Rationalisierung — Fehlrationalisierung“. 1930 hatte Bauer im „Verein Ernst Mach“ einen Vortrag „Industrielle Rationalisierung und Wissenschaft“ gehalten, wo er seine Thesen darlegte, und der hier im Wortlaut des Referats des neopositivistischen Organs „Erkenntnis“, vormals Annalen der Philosophie, wiedergegeben ist (siehe Kasten). [35] Bauer internalisiert die Rationalisierungsidee in die Arbeiterbewegung. Was hier noch als dialektisch opponierte Tendenz erschien, ist bei Kreisky mittlerweile bruchlos akzeptiertes Programm geworden.

Die Idee der Rationalisierung ist tatsächlich von Beginn des Kapitalismus an tief in die Naturwissenschaft eingedrungen. Die Grundaxiome, aus denen sich die Physik ableiten läßt, etwa das Hamiltonsche Prinzip in der Mechanik (die Wirkung eines mechanischen Systems tendiert zum Minimum) oder das Fermatsche Prinzip in der Optik (der Lichtstrahl „sucht sich“ den schnellsten Weg) scheinen die moderne operations research der Industrierationalisierung auf die Natur anzuwenden — obwohl es umgekehrt ist: der Naturformalismus spiegelt ein ökonomisches Prinzip wider. Die Extremal-Rechnung läßt charakteristischerweise stets zwei Lösungen zu, eine minimale und eine maximale; sie drückt damit die Kostenminimierung und Profitmaximierung im Denken des Kapitalisten aus.

Die Rückholung dieser ökonomischen Idee aus der Naturwissenschaft in die politische Ökonomie hat die Wiener Grenznutzenschule vollzogen. Lenin wollte das nicht wahrhaben, als er in einer philosophischen Polemik schimpfte: „Marx hat eine ‚Ökonomie‘. Mach hat eine ‚Ökonomie‘. Ist es wirklich ‚zweifellos‘, daß zwischen der einen und der anderen auch nur der Schatten eines Zusammenhangs besteht?“ [36] Die Machsche Denkökonomie ist die Projektion der von Marx entdeckten Ökonomie des Profitdenkens auf die Natur. Die Grundaxiome der Naturwissenschaft, die eine bürgerliche Kunst ist, haben sämtlich denkökonomischen Charakter.

6 Krise des Neopositivismus

Gegenwärtig ist der Neopositivismus in eine Krise geraten, obwohl er mit dem allgemeinen Sozialdemokratismus (Keynesianismus) noch das Feld zu beherrschen scheint. Die Verschärfung des internationalen Konkurrenzkampfes, die Währungs- und Handelskrise, die auf einen Kollaps des Welthandels und eine neue strukturelle Weltwirtschaftskrise hinsteuert, wirft erneut die Frage nach der Grenze der kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf. In der innerpositivistisch-ratlosen Formulierung des „Club of Rome“ nimmt das die Gestalt eines Endzeit-Menetekels an (Energiekrise, ökologische Katastrophe ...). Die Verstärkung und Verhärtung der militärisch-staatlichen Struktur in diesem Prozeß setzt weitere Schranken in der Entwicklung der Produktivkräfte. Jüngst hat die US-Regierung eine Geheimhaltungspflicht für Forschungen auf dem Gebiet kontrollierter Thermonuklearreaktionen erlassen. Die Wasserstoffkernfusion durch Beschuß mit Licht aus Hochenergie-Lasern könnte das Energieproblem lösen; das Militär allerdings denkt an die Anwendung in Gestalt von „Todesstrahlen“ und blockiert die friedliche Nutzung. [37] Die zunehmende bürokratisch-technische Umzingelung der Lohnabhängigen führt zunächst zu individuellen Ausbruchsversuchen in Privatideologien, zu scheinbar willkürlichen Wallungen der projektiven Phantasie, die mit der Naturwissenschaft in Konkurrenz treten — etwa die Bücher von Erich von Däniken (gegenwärtig 9 Millionen Buchauflage). Was der Naturwissenschafter unwillig als Widerstand gegen die Anstrengung des Denkens am Däniken-Kult ablehnt, ist in Wirklichkeit berechtigte Auflehnung gegen die Technokratie und ihre Ideologie. Filme wie Stan Kubricks „2001“ sind Versuche, dem sich verdichtetenden Geflecht von Ratio und Rationalisierung zu entrinnen. Das ist auch der Geheimtip hinter der Droge LSD, deren Faszination eben darin liegt, daß sie für die Zeit des Trips den Zwang des rationalen Denkens aufhebt. Es ist eine typische Verfremdungsdroge, unbequem, nicht euphorisierend wie der Alkohol, zwingt zu intensiver Ansehung des Kleinsten, macht den Widerspruch groß. Die Aufhebung des Leibnizschen Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten, die Akzeptierung des Widerspruchs, das ekstatische Gefühl der Einheit des Widerspruchs im auslaufenden Trip führen in asiatische Meditationstechnik und Philosophie.

Eine grundsätzliche Kritik am technologischen Rationalismus muß kommen. Sie kann freilich nach rückwärts ausschlagen. Die neuen Großstaaten Europa, Japan, USA brauchen für ihren Rivalenkampf neue Kriegsfahnen. Irgendwas wie Nietzsche und Heidegger liegt in der Luft, irgendein Neovitalismus, der natürlich nicht von trockenen Schulmeistern des Konservatismus zwischen Gehlen und Habermas geliefert werden kann — am ehesten noch von einem linken Pseudorevoluzzer, der umschlägt wie seinerzeit der ehemals linke italienische Sozialdemokrat Mussolini aus dem italienischen Futurismus einen politischen Stil prägte. Im Wiener Aktionismus à la Muehl und Oswald Wiener, der wie der Futurismus noch beide Seiten offenhält, ist derartiges schon angelegt. Da hat vor einiger Zeit ein österreichischer „Nationaldemokrat“ namens Gerd Honsik einen tollen Effekt erzielt, als er mit einem rot beschmierten Fetzen in eine Fernseh-Live-Diskussion über Abtreibung hineinstürmte und mit dem Ruf „Ich komme gerade von einer Abtreibung!“ mit Todessymbolen für die kombiniert konservativ-neofaschistische Aktion Leben agitierte. War es nicht auch ein aktionistischer Effekt, als Hitler am Abend des 8. November 1923 im Müncher Bürgerbräu hysterisch auf einen Tisch sprang und mit dem Revolver in den Plafond schoß, um den Aufstand Bayerns gegen Preußen auszulösen?

Wenn es nicht gelingt, den technisch-naturwissenschaftlichen Rationalismus von innen her aufzubrechen, in einer progressiven Negation (wir wissen noch nicht, wie das aussehen könnte, aber wir müssen’s versuchen) — dann werden wir aufs neue von einem faschistischen Irrationalismus überrant.

Otto Bauer: Befreiung durch Technik — Resümee eines Vortrages

Anknüpfend an Urwicks Definition: „Rationalisierung ist die Anwendung des Denkmechanismus, der in der Physik entwickelt wurde, auf die Probleme des geschäftlichen Lebens“, unter Berufung auf Machs Anschauung, daß eine wissenschaftliche Disziplin dort entsteht, wo ein besonderer Stand zu ihrer Pflege sich entwickelt, Hinweis darauf, daß die Spezialisten planmäßiger Betriensorganisation (zum Teil ein Produkt der Not) in den riesigen Betrieben und Verbänden die Träger der wissenschaftlichen Rationalisierungslehre wurden. Der industrielle Bürokrat bedarf bestimmter „objektiver“ Formeln, schon um sich vor seinen Auftraggebern zu rechtfertigen; sie ersetzen Fingerspitzengefühl und Faustregel. Betriebsrationalisierung, Konjunkturlehre und Marktanalyse. werden lernbar. Weil die Arbeiterschaft durch den Achtstundentag ihre Kraft spart, müht sich der Unternehmer um Beseitigung nutzloser Arbeit. Die Arbeitsweise wird nicht mehr durch Kleinverhandlungen festgelegt, die Normen zu bestimmen ist Ingenieurarbeit.

Urwicks Definition ist zu eng. Das ingenieurmäßige Denken breitet sich viel weiter aus.
Gegen diese Ausbreitung lehnen sich nicht nur die Arbeiter auf, die unter der Intensivierung leiden, sondern auch der Ingenieurspezialist, der sich selbst durch einen rechnenden Automaten ersetzt und der interessanten freien Gestaltung beraubt.
Intellektuelle alten Schlages wehren sich gegen die neue Rechenhaftigkeit, die sie nicht beherrschen. Romantische Sehnsucht entsteht, die zum Teil im Faschismus, zum Teil in metaphysischen Wortgepränge Befriedigung findet.

Diese Auflehnung ist aber vor allem auch eine gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung, an welche. das rationalisierende Denken heute gebunden ist. Der einzelne Unternehmer kann auf Kosten des Einzelnen rationalisieren. Anders müßte sich der Staat verhalten, der gleichzeitig produzieren und Invalidenrenten zahlen muß. Rationalisierungsrechnung auf das ganze Volk angewendet, bedeutet nicht Arbeitslosigkeit, nicht Qual, sondern Verkürzung der Arbeitszeit, Mehrzeit für geistige Tätigkeit.

Man hat den Sozialisten vorgeworfen, sie wollen durch Bürokraten die freien Unternehmerpersönlichkeiten ersetzen, das haben inzwischen die kapitalistischen Großorganisationen selbst besorgt. Später wird diese Bürokratisierung der Befreiung dienen, einer Neuorganisation, die größer, heroischer ist als alle Romantik. Dann steht das mathematisch-wissenschaftliche Denken anerkannt im Dienste solcher Tat. Diese Freiheit des Denkens ist Ergebnis der Befreiung vom Kapitalismus.

Quelle: Erkenntnis, vormals Annalen der Philosophie, Bd. 2, Jg. 1930/31, S.78f.

[1Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Berlin 1932, S. 28.

[2Wladimir I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Moskau 1947, S. 350f.

[3George Thomson, Die ersten Philosophen, Berlin 1961, S. 236.

[4Ebenda, S. 254.

[5Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, Berlin 1953, S. 27

[6Karl Marx, Texte zu Methode und Praxis, Bd. 1, Reinbek 1966, S. 153

[7Ebenda, S. 151.

[8Engelbert Broda, Ludwig Boltzmann, Wien 1955, S. 128.

[9Georg Lucács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1955, S. 474.

[10Otto Bauer, Das Weltbild des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 1971, S. 20f.

[11Thomson, a.a.O., S. 291 ff.

[12Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, Frankfurt a.M. 1970, S. 171.

[13Über das Verhältnis Adler—Sohn-Rethel—Habermas vgl. NF Nov./Dez. 1971 (Aufsätze Fetscher, Springer, Sohn-Rethel).

[14Bauer, a.a.O., S. 13, 37.

[15Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft II, Frankfurt a.M. 1965.

[16Karl Marx, ZurKritik der politischen Ökonomie, Berlin 1951, S. 13f.

[17Sohn-Rethel, a.a.O., S. 118f.

[18Ebenda, S. 80.

[19Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt a.M. 21971, S. 52f.

[20Sohn-Rethel, a.a.O., S. 48.

[21Schmidt, a.a.O., S. 45ff, 192ff.

[22Ebenda, S. 124.

[23Ebenda, S. 205.

[24Vgl. Eckart Kehr, Der Primat der Innenpolitik, Berlin 1965.

[25Claude Lévi-Strauss, Strukturelle Anthropolagie, Postskript zum Kapitel XV.

[26Marx, Kritik, S. 14.

[27Schmidt, a.a.O., S. 199.

[28Engels, a.a.O., S. 266.

[29J. S. Haldane, Die philosophischen Grundlagen der Biologie, Berlin 1932, S. 56. Vgl. Jan Christiaan Smuts, Die holistische Welt, Berlin 1938, S. 89, 109f.

[30Nicolai Hartmann, Philosophie der Natur, Berlin 1950, S. 476ff.

[31Othmar Spann, Gesellschaftslehre, Leipzig 1983, S. 165f.

[32Schmidt, a.a.O., S. 53.

[33Erkenntnis, Bd. 2, Jg. 1930/31, S. 74.

[34Ebenda, S. 105.

[35Ebenda, S. 78f.

[36Lenin, a.a.O., S. 173.

[37Scientific American, February 1973, S. 46f.

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