Café Critique, Jahr 2007
Juli
2007

Neuer Mensch als kollektives Ungeheuer

Ein Beitrag zum Begriff des Staatskommunismus

So totalitarismustheoretisch hat Hannah Arendt gar nicht gedacht, wie es viele gerne hätten, die sich auf sie berufen. „Von einem streng moralischen Standpunkt aus“, sagt Arendt, „waren Stalins Verbrechen sozusagen altmodisch. Wie ein gewöhnlicher Verbrecher hat er sie niemals zugegeben, sondern mit einer Wolke aus Heuchelei und Doppelzüngigkeit umgeben, während seine Gefolgs­leute sie als temporäre Mittel im Verfolg der ‚guten‘ Sache rechtfertigten oder, wenn sie ein wenig anspruchsvoller wa­ren, mit den Gesetzen der Geschichte, denen sich der Revolutionär zu unterwerfen und, wenn nötig, zu opfern hätte.“ [1] Das Verbrechen der Nazis hingegen, das sein Ziel in sich selbst hatte, und darum eine im definitiven Sinn des Wortes auf Totalität angelegte Vernichtung war, ermöglichte die massenhafte Identifikation mit dem bloßen Töten und Zerstören; Heuchelei und Doppelzüngigkeit waren der innerste Ausdruck der Einheit von Volk und Führer, die gleichermaßen ihren eigenen Lügen glaubten. So ist die Volksgemeinschaft an der „Sache“ nicht mehr zu kritisieren, die sie vorgibt zu verfolgen – sie realisiert nichts anderes als diese Sache: „In dieser Hinsicht sind die deutschen Entwicklungen viel extremer und vielleicht auch enthüllender. Es gab nicht nur die grauenhafte Tatsache der mit Sorgfalt errichteten Todesfabriken und das völlige Fehlen von Heuchelei bei jener sehr erheblichen Zahl [von Personen], die an dem Ausrottungs­programm beteiligt waren. Gleich wichtig, doch vielleicht noch erschreckender war die selbstverständliche Kollabo­ration seitens aller Schichten der deutschen Gesellschaft, einschließlich der alteingesessenen Eliten, die die Nazis unangetastet gelassen hatten und die sich mit der Partei an der Macht niemals identifizierten. Mit Blick auf die Tatsachen, glaube ich, ist es gerechtfertigt zu behaupten, daß das Nazi-Regime moralisch, nicht gesellschaftlich, extremer gewesen ist als das Stalin-Regime in seiner schlimmsten Gestalt.“ [2]

Aber die schlimmste Gestalt des Stalin-Regimes hat noch mit der „guten Sache“ zu tun, an der sich dieses Regime in jeder Gestalt kritisieren läßt. Darum muß hier eine bestimmte Vorstellung wie die vom Neuen Menschen für die allgemeine Praxis des Terrors als unmittelbar verantwortlich gelten – soweit sie nämlich geeignet war, alle anderen Vorstellungen, die noch von gedanklicher Durchdringung der Wirklichkeit zeugten und sich auf die Kritik von Marx berufen konnten, auszulöschen. Der Widerspruch ist demnach nicht erst zwischen Theorie und Praxis, sondern schon im Ideologischen dingfest zu machen – während im Fall des Nationalsozialismus beides ganz überflüssig ist.

Es war der Staat selber, der sich als Neuer Mensch verkleidet hat: dessen Ideal bedeutete Zwang zum Kollektiv, worin sich das Kommando des Staats formierte. Kommunistisch wäre jedoch das wahre Gegenteil: freie Assoziation der Individuen. So müßte als gültiger Begriff für alle Herrschaftssysteme im Geiste Lenins und Stalins endlich einer geprägt werden, der den Widerspruch im Ideologischen auf die Spitze treibt und zugleich den Souverän als Zweck des Ganzen und Inhalt der Verkleidung zu erkennen gibt: also Staatskommunismus.

Der Staat kostümierte sich, damit man nicht merke, daß sein Absterben, das dem Kommunismus erst leben einhauchen könnte, längst eine jener Propaganda-Phrasen geworden war, mit der die Bürokratie den Staat ausbaute. Dieses Kostüm travestierte aber nicht zufällig die gängigen Ansichten vom Allgemeinmenschlichen, die in ihrer Gesamtheit die säkularisierte Religion des Bürgertums darstellen – als den Schlußpunkt, den man hinter die Aufklärung setzen wollte.

An die Stelle des höheren Wesens war einmal das des Menschen getreten, das heißt: an die Stelle personaler Herrschaft und Abhängigkeit, „Gott gegeben“, rückten die vielfach vermittelten Herrschaftsformen des Kapitals, die sich anthropologischer Legitimierung geradezu von selbst anbieten. So ist halt der Mensch, sagt man angesichts der bürgerlichen Gesellschaft – wenn also „einer auf den Tod des anderen geht“ (Hegel); oder: homo homini lupus (Hobbes). Der Neue Mensch sollte dann das Rudel sein, das sich die Beute teilt.

Leviathan und das Allgemeinmenschliche

Wer immer den Menschen definiert, sei’s für die Gegenwart oder die Zukunft, spricht aus der Perspektive des Souveräns, versetzt sich in die Position des Staats, um in eben dessen Sinn konstruktiv zu denken. Hobbes hat das provozierend offen ausgesprochen. Er gehört zu jenen „finsteren Denkern“ – Adorno nennt ihn neben Freud –: finster darin, daß sie sich eben „nicht als Reaktionäre bequem abfertigen“ ließen und lassen. [3] Indem Hobbes den Staat unverhüllt affirmiert, wird er dessen wichtigsten Stützen, den indirekten Apologeten, verdächtig. (Foucault hingegen, der zu diesen heiteren Naturen revisionistischer Staatskritik zählt, verdrängt sorgsam den Souverän, um zuletzt noch für dessen worst case ein besseres Image zu kreieren. [4]) Bei der Lektüre des Leviathan wird in allen Konsequenzen kenntlich, daß es die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals war, die den modernen Souverän eben als jenen praktizierenden Humanisten inthronisierte, der immer schon auf „Bio-Politik“ gesetzt hat [5] und lediglich die Herrschaftsmethoden perfektionierte: „Hat z. B. eine Frau ein Kind von ungewöhnlicher Gestalt geboren und verbietet das Gesetz die Tötung eines Menschen, so entsteht die Frage, ob dieses Kind ein Mensch sei, und es erhebt sich also die weitere Frage, was ein Mensch sei. Hier wird niemand zweifeln, daß die Entscheidung dem Staate zusteht, ohne daß man auf die Definition des Aristoteles, wonach der Mensch ein vernünftiges Geschöpf ist, Rücksicht nehmen kann.“ Um den Staat in seiner modernen Form zu etablieren, muß die Religion in ihre Schranken gewiesen werden, sie verliert ihre Definitionsmacht: „Von all diesen Gegenständen, nämlich Recht, Politik und Naturwissenschaften, hat Christus erklärt, daß es nicht zu seinem Amt gehöre, darüber Vorschriften und Lehrsätze aufzustellen, bis auf den einen, daß die einzelnen Bürger bei allen Streitigkeiten hierüber den Gesetzen und Urteilssprüchen ihres Staates zu gehorchen hätten.“ [6]

Darum wird erst in der bürgerlichen Gesellschaft wirklich fraglich, was der Mensch sei. Solange die Menschen mit Boden und Stammesgesellschaft, und das heißt: mit den Produktionsmitteln gleichsam verwachsen sind, solange sie nicht getrennt davon wahrgenommen werden, werden müssen, ist das Menschliche an sich kaum irgendwo Thema. Hobbes hingegen, Zeitgenosse der ursprünglichen Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln, geht bereits vom vereinzelten Individuum aus, und braucht deshalb einen Begriff vom Allgemeinmenschlichen. Im Unterschied zu Platon und Aristoteles, die noch die Sklaverei zu begründen hatten, bildet für ihn dabei die Gleichheit der Menschen die Bedingung der Möglichkeit politischen Denkens. Es ist diese Gleichheit, die sie zu Wölfen macht – sie haben die Macht, einander zu töten („equality of ability to kill one another“), aber sie leben mit einer Ohnmacht, zu der ihre eigene Reproduktion sie nötigt: sie können die Mittel zu einem angenehmen Leben nur noch sicherstellen durch den Erwerb von zusätzlichen Mitteln. [7] Die Gleichheit in der ability to kill und im Akkumulationsdrang zwingt sie wechselseitig zu Verträgen, woraus dann das Ungeheuer entsteht, der „Leviathan“. Dieses „künstliche Tier“ ist nun das absolut Ungleiche: es geht aus den Verträgen hervor, welche die Gleichen untereinander abschließen: selber aber steht es nicht unter Vertrag, schließt mit den Untertanen keinen ab. Der Souverän befindet sich, um mit Carl Schmitt zu sprechen, immer außerhalb des Rechts, auch und gerade in einem Rechtsstaat, in dem er zugleich innerhalb des Rechts steht. Dieses Ungeheuer ist es, das auch den Menschen Ungleichheit erst aufzwingt, um sie nämlich zu befrieden: so werden sie Mann und Frau, Herr und Knecht, Führer und Geführter. Was Hobbes darlegt, ist natürlich nicht der historische Prozeß, seine Staatstheorie entwirft den Staat vielmehr more geometrico, so daß hier wirklich die Quadratur des Kreises herauskommt, mit der Hobbes in der Mathematik Schiffbruch erlitt. Und siehe da, sie entspricht der innersten Konstitution des Staats unvergleichlich besser als jede historische Darstellung.

Stalin und der Neue Mensch

Das Ungeheuer, das aus der Russischen Revolution hervorging, weil sie als Weltrevolution scheiterte, mußte ganze Phasen der Akkumulation des Kapitals nachholen, um nicht sogleich den anderen Ungeheuern zum Opfer zu fallen. Diese Aufholjagd endete nun damit, daß die Gleichgemachten untereinander keine wirklichen Verträge mehr schließen konnten – nur Scheinverträge, wie das Spielgeld, das der Staat ausgab, um die Befehlsausgabe ökonomisch abzurunden. Stattdessen wurden sie feierlich propagandistisch als „Arbeiterklasse“ gepriesen und romantisch als „Volk“ besungen, de facto aber auf einen „Zurechnungspunkt“ (Hans Kelsen) gebracht, zu einer einzigen Rechtsperson zusammengefaßt, um sie aller Rechte zu berauben. Sie wurden also gezwungen, mit dem Staat selber einen imaginären Vertrag abzuschließen, aber einen, der die Leibeigenschaft wieder einführt. Denn die Individuen können ja nur Recht für sich beanspruchen und gegenüber dem Staat geltend machen, wenn sie untereinander Verträge abschließen, die vom Staat gedeckt werden: das ist die Bedingung der Möglichkeit jenes „Minimums an Freiheit“ (Franz Neumann), wie es dem Individuum – sollte sonst alles gut gehen – unter der Herrschaft von Staat und Kapital zusteht.

Zum Vertrag nicht befähigt, mußte die „Rechtsperson ohne Rechte“ befehligt werden und zur Arbeit unmittelbar gezwungen, während Arbeit unter bürgerlichen Bedingungen erst durch den freiwilligen Abschluß eines Arbeitsvertrags und durch ihn eben nur auf Zeit zum Zwang wird. So durften die Bürger, die keine Bürger waren, die gesamtgesellschaftliche Fabrik, Grund und Boden des Souveräns, nicht verlassen und wurden kaserniert, weil sie doch, mit ihrer Arbeitskraft verwachsen, direkt dem Kommando des Staats unterstanden, wie die Leibeigenen dem Lehnsherrn. Diese konnten in die freie Stadt flüchten, jene in den freien Westen. Dafür umsorgte einen der Staat auch mehr, im günstigsten Fall wie ein wohltätiger Patron, der sich um sein Vieh und seine Leibeigenen eben wirklich kümmert. Ein solches Kommando verinnerlichen und sich gleichwohl nicht als Staatsvieh fühlen, das konnte nur, wer mit dem Souverän vollkommen eins wurde: totale Identifikation mit dem Staat, der einen kommandiert, freiwillige Aufgabe aller Rechte, die einem unter bürgerlichen Verhältnissen zustehen mögen. [8] Möglich ist diese Identifikation jedoch allein im Bewußtsein, eine Volksgemeinschaft zu sein, zur Vernichtung wie zum Selbstopfer bereit.

Wenn an die Stelle des Tausches mit der Arbeit das Diktat über sie tritt und also der Besitzer der Ware Arbeitskraft kein „selbständiges Zentrum der Zirkulation“ (Marx) bildet, dann sieht der Genosse Arbeiter dem Volksgenossen zwar zeitweilig zum Verwechseln ähnlich – etwa bei den Massenveranstaltungen, die den „Arbeiterstaat“ ästhetisierten. Was aber von 1917 bis 1989 fehlte, war eben die durchschlagende Eigeninitiative in der Identifikation, die vollständige Hingabe an die pathische Projektion, die Bereitschaft zum Opfer. Die Identifikation mit dem Wert, der sich nicht mehr verwertet, die Vernichtung um ihrer selbst willen, blieb aus. [9]

Dieses Manko, das der einzige Bonus des Staatskommunismus war, auszugleichen, dafür wurde die Ideologie vom Neuen Menschen geschaffen. Sie diente als Ersatzdroge, als Surrogat, eingesetzt überall dort, wo die pathischen Projektionen vom stalinistischen Apparat nicht ausreichend in Dienst genommen werden konnten, weil solche Projektionen doch in sich selbst die Tendenz zur Verselbständigung von aller Zwecksetzung haben. Der Neue Mensch aber als Selbstzweck inszeniert, sollte den Menschen vollständig zum Mittel des Staats machen. Der Erfolg der Lehre Lyssenkos – größter Fauxpas der Sowjetunion auf dem Gebiet der Naturwissenschaften – ist in diesem Zusammenhang signifikant. Lyssenko stellte die Vererbung durch Chromosome in Abrede und behauptete, es gebe keine Gene, diese seien vielmehr eine Erfindung der bürgerlichen Wissenschaft. Er griff dabei auf Lamarck zurück, der bei allen Lebewesen von der Vererbbarkeit der erworbenen Merkmale ausgegangen war: Eigenschaften, die sich Umwelt- bzw. Milieueinflüssen unmittelbar verdanken, die also, zumal bei den menschlichen Wesen, anerzogen werden können, würden die nächste Generation qua Geburt prägen. Auf dieser Grundlage, die Darwins Erkenntnisse revozierte, wurde der total gesunde und von allem „Unwerten“ gereinigte Mensch, den man als Zielvorstellung mit dem Sozialdarwinismus durchaus teilte, als rein gesellschaftliches Resultat gedacht – als Fortschritt einer neuen Gesellschaft durch bloße Erziehung und nicht als Rückkehr aus der verderblichen „Zivilisation“ in den einzig wahren „Kampf ums Dasein“. Der Neue Mensch konnte somit projektiert werden, ohne den sozialdarwinistischen Vorstellungen zu folgen, deren logische Konsequenz in letzter Instanz immer die physische Selektion – die Ausmerzung des „unwerten“ Lebens – ist.

Dabei handhabte man selbst die physische Selektion in den Arbeitslagern – nicht jedoch als vorausgesetzten Selbstzweck der Vernichtung, sondern als Ergebnis der Arbeit, die der Mensch auf dem Weg zum Neuen Menschen zu leisten habe: Massenmord und Massensterben als Epiphänomene von Erziehung. So war das Arbeitslager vor allem ein Mikrokosmos der stalinistischen Arbeitsgesellschaft, worin im Prinzip dieselben Produktionskriterien und -methoden angewandt wurden wie in der übrigen Gesellschaft – allerdings unter unendlich verschärften Bedingungen. Zur Zeit des ersten Fünfjahresplans etwa führten auch die Lager die „wirtschaftliche Rechnungsführung“, den „Wettbewerb“ und das „Stoßbrigadlertum“ ein. [10] Die Zwangsarbeitslager waren im Grunde das, was die Linke (in Ost und West) immer in den NS-Vernichtungslagern sehen wollte, es handelte sich wirklich um eine entsetzliche Version der kapitalistischen Fabrik, entsetzlich darin, daß sie den Arbeitern restlos alle Rechte nahm - während die NS-Vernichtungslager wie eine Industrie gewordene Projektion funktionierten. Die sowjetischen Zwangsarbeitslager wären als Konzentrationslager im Wortsinn zu sehen: die ganze staatskommunistische Gesellschaft wurde hier konzentriert, und so verwirklichte der Archipell Gulag eine Grundtendenz der staatshörigen Arbeiterbewegung in reinster und barbarischster Form: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ - dieses biblische Arbeiterbewegungsmotto fand sich auf den Spruchbändern vieler Lager.

Erfreulich nur, daß so wenige bereit waren, Neue Menschen zu werden. Es war eben eine Ersatzdroge, die allein wirkt, wenn der einzelne zum Selbstbetrug bereit ist: man mußte es sich einreden. [11] Im Scheitern des Realen Sozialismus mit dem irrealen Menschenbild zeigt sich nicht das ewige Wesen des Menschen, das dem Sozialismus zuwider sei, vielmehr der Rest eines ursprünglich revolutionären, kommunistischen Impulses – am deutlichsten natürlich im Schlendrian und in der Arbeitsscheu: Hatte die kollektive Rechtsperson schon keine Rechte, dann wollte jeder einzelne wenigstens etwas vom Recht auf Faulheit retten.

Die „neue Gesellschaft“ ist nicht am „alten Menschen“ – was immer das sein mag – zugrunde gegangen, sondern am Staat. Eine, die sich wirklich befreite, wüßte schlechterdings nicht anzugeben, was der Mensch sei und was aus ihm werden könne. Sie hätte es vielleicht überhaupt nicht mehr nötig, vom Menschen zu sprechen.

zuerst erschienen in Phase 2 Nr. 24/ Sommer 2007

[1Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. [1965] Hg. v. Jerome Kohn. München – Zürich 2006, S. 14

[2Ebd.

[3Theodor W. Adorno: Die revidierte Psychoanalyse. Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main 1997, Bd. 8, S. 36

[4So spricht Foucault von der „Bio-Macht, deren höchste Funktion nicht mehr das Töten sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens“ sei (Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. [1976] Frankfurt am Main 1983, S. 166ff.) – als wäre für den Staat das eine vom anderen zu trennen, es sei denn im Vernichtungswahn der Krisenbewältigung; als hätte heutige Machtausübung mit dem Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheidet, nichts mehr gemein. Das historische Kontinuum staatlicher Herrschaft wird durch solchen Strukturalismus in voneinander sorgsam isolierte „Dispositive“ zerteilt, nur um vom Souverän, der sich durchhält, zu schweigen, d. h.: ihn nicht als politische Seite des Kapitals wahrzuhaben, deren höchste Funktion per definitionem das Töten ist, und der das Leben eben nur durchsetzt, soweit es die Verwertung des Kapitals erlaubt. Entweder erscheint dann auch der Nazistaat als einer, der das Leben durchsetzt, oder islamische Theokratie, bei der Foucault ja Märtyrertum und Todeskult bewunderte, als subversive Aktion.

[5Obwohl er von den Foucaultschen Begriffen nicht loskommt, hat Giorgio Agamben wenigstens eine Ahnung von Hobbes und weiß, daß „die Produktion eines biopolitischen Körpers“ keine moderne Erfindung, sondern „die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ist.“
(Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002, S. 16). Die Ahnung führt bei ihm jedoch nicht zur Kritik der politischen Ökonomie, sondern zur blanken Verherrlichung dessen, was den Ausnahmezustand inhaltlich ausmacht, als ein solcher aber formell nicht mehr bezeichnet werden soll: vom „Brauch“ ist vielmehr gut heideggerisch die Rede, um die Barbarei nicht beim Namen zu nennen. (Ausnahmezustand. Homo sacer II.1. Frankfurt am Main 2004, S. 104) Wer nach dem Nationalsozialismus noch den „finsteren Denkern“ nacheifert, den unterscheidet im Resultat dann auch nichts mehr von den indirekten Apologeten.

[6Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. [1642] Berlin/DDR 1967, S. 287

[7Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. [1651] Hg. v. Iring Fetscher. Frankfurt am Main – Berlin – Wien 1976, S. 75

[8Wenn Georg Lukács die „Selbsterkenntnis des Arbeiters als Ware“, also „daß diese Ware die Möglichkeit besitzt, zu einem Bewußtsein über sich selbst zu gelangen“ (Geschichte und Klassenbewußtsein. [1923] Darmstadt-Neuwied 7. Aufl. 1981, S. 296 ff.), zum Ausgangspunkt der Revolution nimmt, dann ist die Distanz des Subjekts zu sich selber, wie sie das Recht im Verhältnis von Warenhüter und Ware ermöglicht, bereits liquidiert und die Klasse als Manövriermasse des autoritären Staats ins Auge gefaßt. Lukács begreift „die Klasse nicht als einen realisierten Ausdruck abstrakter Arbeit (des Werts), deren Abstraktion sich nur an endlichen Individuen selbst vollziehen kann. Die Klasse vollzieht in idealisierter Form, was der Tauschverkehr an den Produkten und Individuen vornimmt.“ (Hans-Jürgen Krahl: Konstitution und Klassenkampf. Frankfurt am Main 1971, S. 164) Lukács begreift die Klasse nicht kritisch als einen solchen Ausdruck des Werts, weil er selbst vom endlichen Individuum abstrahiert hat. Es kehrt bei ihm schließlich wieder als Vollzugsorgan der Partei bzw. des Staats: „Als einzelnes empirisches Individuum kann Lukács zufolge der einzelne Proletarier nur post festum die Entscheidungen der Zentrale nachvollziehen.“ (202)

[9Vgl. Gerhard Scheit: Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt. Freiburg 2004, S. 73-88

[10Ralf Stettner: „Archipell GULag“: Stalins Zwangslager. Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Entstehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems 1928-1956. Paderborn usw. 1996, S. 285

[11Dazu waren die Intellektuellen da. Und so wurde der Neue Mensch eigentlich nur in Kunst und Literatur verwirklicht. Zum Glück gab es auch da einige Sabotageaktionen, vgl. hierzu Gerhard Scheit: Neue Dramatiker in der DDR. In: Horst A. Glaser (Hg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte. Bern-Stuttgart-Wien 1997, S.425-442