Café Critique, Jahr 2000
April
2000

Postfaschistische Intimität

Über eine Kleinfamilie namens Österreich

Das Gerede vom „Rechtspopulisten“ kommt Haider, seiner Bewegung und allen volksgemeinschaftlich Gesinnten überaus gelegen. Auf diese Weise können sie so tun, als wäre das Land eines wie jedes andere auch. Haider wird nicht zögern, des öfteren darauf aufmerksam zu machen, daß alle erfolgreichen, nicht-linken Politiker automatisch Rechtspopulisten seien. Und ist Tony Blair, mit dem er sich so gern vergleicht, nicht eigentlich auch ein Rechtspopulist?

Von Populismus zu reden, ist entschieden die bequemste Art, vom Nationalsozialismus zu schweigen. Nur im Bezug auf den Nationalsozialismus aber läßt sich begreifen, warum Haider dem Volk so nahe ist, daß man ihn nicht mehr Populist nennen sollte; warum er einer ist, der dem Volk nicht aufs Maul schaut, weil er dieses Maul ist.

Zu reden wäre also durchaus von einer österreichischen Besonderheit. Die Nähe, die zwischen Haider und seinen Anhängern zu beobachten ist und die der Populismusbegriff nicht fassen kann, braucht nicht viele Worte, um jene pathischen Projektionen zu aktivieren, die hierzulande die Volksgemeinschaft wachrufen; es genügen Anspielungen und Andeutungen oder manchmal sogar mimische und gestische Hinweise, um das antisemitische Ressentiment und die Treue zu den nationalsozialistischen Tätern zu signalisieren. Distanziert sich Haider auch fallweise mit Worten von seinen früheren Bemerkungen zum Nationalsozialismus, allein der Ton und der Ausdruck, womit er etwa bei der Pressekonferenz zum Koalitionsabkommen zu einem Überlebenden des Holocaust gesprochen hat, bedeutet den Seinen: so selbstbewußt – des Massenmords bewußt - darf man jetzt wieder mit Juden reden.

Diese Intimität, die das private ebenso wie das öffentliche Leben in Österreich beherrscht, ist keine Folge der Kleinheit des Landes – in San Marino haben die Menschen sicherlich mehr Distanz zueinander. Die Intimität, die sich in Österreich breitgemacht hat und die alles darin so eng werden läßt, beruht im Kern auf dem gemeinsam begangenen Massenmord im Dritten Reich, genauer: darauf, daß diese Taten nach 1945 als eine Art Geheimnis gemeinsam gehütet worden sind. Anders als bei den „Reichsdeutschen“, wie die Deutschösterreicher einstmals die außerhalb Österreichs lebenden Deutschen nannten, war man durch Staatsvertrag und Neutralitätsstatus lange Zeit davor gefeit, sich in irgendeiner Weise mit der Vergangenheit beschäftigen und davon distanzieren zu müssen.

Österreichische Identität hieß nach 1945: sich klein machen. Nach welchen Maßgaben dies geschah, hat Haider nicht zufällig offengelegt, als er gegen den „blutleeren Begriff des ‚Verfassungspatriotismus‘“ polemisierte: „der Wunsch eines jeden Volkes nach nationaler Identität, mit einem Gemeinwesen, in dem Grund- und Menschenrechte gelten, ist letztlich stärker als solche ideologischen Konstrukte. Die brüchige Krücke ‚Verfassungspatriotismus‘ ist zwar ohne Bedeutung, aber auch die logische und historische Konsequenz aus dem Umstand, daß die politische Klasse dieses Volkes es zugelassen hat, die eigne Geschichte insgesamt zu kriminalisieren, anstatt sie aufzuarbeiten. Der Selbsthaß und der nationale Masochismus dieser Deutschen ist so tragisch-erbarmungswürdig, daß wir Österreicher schon aus diesem Grunde nicht dazugehören wollen, sondern unsere eigenen Wege suchen und gehen.“

Die politische Klasse in Österreich mußte die Verbrechen des Dritten Reichs nicht eingestehen, denn es gab ein nationales Alibi: Österreich habe gar nicht existiert, als die Österreicher Nazis waren. Es waren die Alliierten, die dem Land – wie unbeabsichtigt auch immer – dieses Alibi verschafften: indem sie die Grenzen von vor 1938 wiederherstellten, erlaubten sie den Österreichern, sich als „erstes Opfer Hitlers“ darzustellen.

Solcherart entstand eine Volksgemeinschaft in komprimierter Form, so komprimiert, daß sie wirklich von einem einzigen, allerdings genialen Mann verkörpert werden konnte: Helmut Qualtingers Herr Karl: „G’freit hab i mi scho ... an den Tag, wo man’n bekommen ham ... den Staatsvertrag ... Da san ma zum Belvedere zogn ...san dag’standen ... unübersehbar ... lauter Österreicher ... wie im Jahr achtadreißig ... eine große Familie ... a bissel a klanere ... weil’s Belvedere is ja klaner als der Heldenplatz. Und die Menschen waren auch reifer geworden ... Und dann is er herausgetreten ... der ... der ... Bundes-, der Poldl und hat die zwa andern Herrschaften bei der Hand genommen und mutig bekannt: ‚Österreich ist frei!‘ Und wie i des g’hört hab, da hab i g’wußt: Auch das hab ich jetzt geschafft. Es ist uns gelungen - der Wiederaufbau ...“

Die große Familie der deutschen Volksgemeinschaft ist nun „a bissel a klanere“: die der österreichischen Nation eben, wo es heimeliger zugehen kann; der „Bundes-Poldl“, der ehemalige Bundeskanzler und nunmehrige Außenminister Leopold Figl, tritt als rührender Hausvater an die Stelle des strengen Führers; die Menschen sind „reifer“ geworden – durch Vernichtung und Krieg im Großen gereift für den Wiederaufbau im Kleinen.

Und die nationale Identität hat sich als das Bewußtsein ausgeprägt, den alliierten Siegermächten etwas vorzugaukeln. Zu diesem Zweck wurde auf verschiedene Traditionen des kommunistischen Widerstands und des antifaschistischen Exils zurückgegriffen. Während die Staatskommunisten und Volksfront-Schriftsteller (Ernst Fischer, Berthold Viertel ...) dachten, sie würden nun endlich die Identität vorgeben können, dienten sie gleichsam nur als Stuntmen und Kostümbildner für den postfaschistischen Heimatfilm, den man den ehemaligen alliierten Siegermächten vorführte. Die übrigen verständigten sich bei dieser nationalen Vorführung nur flüsternd und in Andeutungen. Seither gilt, wer zu laut über die Vergangenheit spricht, als jemand, der das eigene Nest beschmutzt.

Als 1961 Qualtingers Herr Karl, der hemmungslos ausplauderte, was Österreich im Innersten zusammenhält, im österreichischen Fernsehen gesendet wurde, kam es zu einer landesweiten Protestwelle: aus allen Schichten der Bevölkerung erreichten die Autoren Drohbriefe, die im Grunde nur eine Fortsetzung von Herrn Karls Monolog darstellten: „...kaum ist Gras über die Geschichte gewachsen, kommt so ein Kamel und frißt es wieder ab“, äußerte ein höherer Angestellter über die Darstellung des Nationalsozialismus; „Ein Dreckfink, wer sein eigenes Nest beschmutzt!“, schrieb eine einfache Wienerin.

Auch die keynesianisch-weltmännische Politik Kreiskys konnte an dieser verschworenen Familiarität nichts ändern, so sehr sie um kulturelle Öffnung und bürgerliche Differenziertheit bemüht war. Da sie den Ursprung der Provinzialität, die postfaschistische Lüge, nicht angreifen wollte, sie vielmehr durch den Pakt mit der FPÖ offen bejahte, blieb im Grunde alles beim Alten. Und auf dieses Alte hat Haider schließlich seine modernen Kommunikationsformen innerhalb und außerhalb der Partei aufgebaut: sie beruhen also auf lange eingeübten Strategien der Andeutung und Verschlüsselung, der Anspielung und des Kokettierens, die aber nun auf der Basis der neuen Medien reproduziert und gesteigert werden können. Wenn die neue Regierung jetzt erklärt, die Formen der direkten Demokratie zu fördern (schon eine über 15prozentige Beteiligung an einem Volksbegehren soll zwingend eine Volksabstimmung nach sich ziehen), so geht es wesentlich darum, die auf Distanz und Differenziertheit angelegte repräsentative Demokratie durch eine Verallgemeinerung jener postfaschistischen Intimität auszuhöhlen.

Mit der Nestwärme im verheimlichten Nachfolgestaat des Dritten Reichs hängt nicht zuletzt zusammen, daß sich nach 1945 kaum mehr eine wirklich liberale Presse etablieren konnte; daß die Presselandschaft bis heute so provinziell ist wie kaum anderswo auf der Welt, während das Fernsehen – das Medium der Distanzlosigkeit schlechthin - aus der Provinzialität mehr und mehr Profit zu schlagen vermag. Der Herr Karl war insofern genau am richtigen Ort erschienen, im genuinen Medium postfaschistischer Intimität. Hier entsteht ein neuer Raum, in dem sich diese sekundäre Volksgemeinschaft auf ungeahnte Weise entfalten kann: sei’s plump aggressiv, wie im Musikantenstadl, oder journalistisch differenziert, in den Talkshows. Vor kurzem (15.3.2000) fand im österreichischen Fernsehen mit ungewöhnlich hoher Einschaltquote eine dreieinhalbstündige Gesprächsrunde zu der Frage statt, wie der Schaden vom Land abgewendet werden könne, der ihm durch die Maßnahmen des „Auslands“ drohe. Dabei nahm man die postfaschistische Lieblingspose ein: die des Opfers. Gleich am Beginn wurden Schüler präsentiert, die im Ausland beschimpft worden seien, weil sie aus Österreich kamen: Kinder eignen sich immer am besten als Opfer-Darsteller (das ist spätestens seit den Ritualmordlegenden bekannt). Zu diesem runden Tisch des Selbstmitleids wurden nun nicht nur die wichtigsten Politiker, sondern Vertreter aller Berufsgruppen eingeladen: Arbeiter und Unternehmer, Schüler und Lehrer, Bauern und Tourismusagenten, Zeitungsjournalisten und Militär, Operndirektor und „Sacher“-Chefin - am Ende, dem Ganzen ihren Segen gebend, natürlich die hohe Geistlichkeit. Es handelt sich bei solcher Formation natürlich um ein äußerst aggressives Selbstmitleid: „Wie ein Mann“ solle dem Ausland gegenübergetreten werden, hieß es, und vom „nationalen Schulterschluß“ war die Rede. Der Vorwurf der Vaterlandsverräterei stand ständig im Raum, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei bemühte sich mit wechselndem Erfolg, ihn für seine Person und seine Partei zu entkräften. Ein perfekter virtueller Ständestaat – der auch noch seine offenen oder heimlichen Feindbilder herzeigte: einen österreichkritischen Mann des EU-Auslands und einen der Jüdischen Gemeinde. Es fehlte nur noch, daß jeder Vertreter ein Attribut seines Standes in der Hand gehalten hätte: der Bauer die Mistgabel, der Arbeiter den Vorschlaghammer, der Wissenschaftler den Zirkel, „der Jude“ den Geldbeutel ... Als der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde als Beispiel für den Antisemitismus in der FPÖ darauf hinwies, daß er von einem Europaabgeordneten dieser Partei als „Berufsjude“ und als „geldgierig“ bezeichnet worden ist, antwortete der neue freiheitliche Verteidigungsminister, daß diese Äußerung doch von Peter Sichrovsky stamme – einem FPÖ-Mitglied jüdischer Herkunft. Man muß dabei das Grinsen des Verteidigungsminister gesehen haben, um zu wissen, was postfaschistische Intimität ist.

Wen wundert es, daß noch die Gegner Haiders von der allgegenwärtigen Distanzlosigkeit geprägt sind. Noch die Art und Weise, gegen Haider zu reden und zu schreiben, wird durch sie wesentlich entschärft. Solche Zivilgemütlichkeit verbreitet die wöchentlich erscheinende Zeitschrift „Falter“, die Gartenlaube des Widerstands, in der jeder bereits kritische Schärfe zu beweisen glaubt, der von Rassismus spricht, wo andere vom Populismus schwätzen. Denn die ganze Protestbewegung seit November 1999 läuft regelmäßig auf Verharmlosung hinaus, sobald eine Großveranstaltung stattfindet. Mit eigenartiger Spontanität entsteht hier sofort oppositionelle Heurigenstimmung: Da tritt der Ostbahn-Kurti – der nicht zufällig so heißt: der liabe Kurti im Gegensatz zum schlimmen Jörgl - wie ein punkiger Heurigensänger auf, und alles, was er sagt, sei’s noch so negativ kritisch gemeint, wird allein dadurch, wie er es sagt, zum patriotisch Positiven. Kommen dann noch Volksschauspieler wie Karl Merkatz hinzu, der als Darsteller des ewigen antifaschistischen Fleischhauers Bockerers Bekanntheit genießt (in der neuesten Folge des Antel-Films, findet er die Russen bereits schlimmer als die Nazis), und Schauspielerinnen wie Dolores „Dolli“ Schmiedinger, die als besorgte, aber ulkige Hausfrau der Nation dem Haider gleichsam mit dem Kochlöffel droht, dann ist die Idylle des Widerstands perfekt. Die Organisation, die diese Veranstaltungen auf die Beine stellt, übersetzt das französische Vorbild „SOS racisme“ eben ins Österreichische und nennt sich konsequenterweise „SOS Mitmensch“.

Gegen solchen Antifaschismus in Krähwinkel hilft nur die satirische Kunst eines Karl Kraus, des großen Intimfeinds Österreichs. An ihm haben sich stets jene orientiert, denen die postfaschistische Intimität ein Greuel war. So etwa Helmut Qualtinger und Carl Merz, als sie ihren Herrn Karl kreierten: Allein die Art, wie Qualtinger dem imaginären Gesprächspartner, einem Mann der jüngern Generation, nahe rückt, ihn ins Vertrauen zieht und Anteil nehmen läßt an den geschehenen Untaten, sagt mehr über die Geschichte der Zweiten Republik als sämtliche Untersuchungen der österreichischen Zeithistoriker. „Wann san Se geborn? Achtadreißig? Naja, also mir san alle... i waaß no ... am Ring und am Heldenplatz g’standen ... unübersehbar warn mir ... man hat gefühlt, ma is unter sich ... es war wia bein Heirigen ... es war wia a riesiger Heiriger ...! Aber feierlich. Ein Taumel. (Er lacht.) Na, drum san Se ja achtadreißig geborn ... Wann? Im Dezember, naja ...“

Die besten Texte von Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und Werner Schwab sind haßerfüllte Inversionen postfaschistischer Intimität – wenn auch die Kenntnisse, wie nur Intimfeinde sie besitzen, bei Bernhard durch bildungsbürgerliche Posen, bei Jelinek durch poststrukturalistischen Jargon mitunter verstellt werden. Charakterisiert Bernhard aber einen deutschen Nazi, so beschreibt er ihn unbewußt aus der Perspektive eines österreichischen Sohnes: der „deutsche Mittagstisch“ steht in einem österreichischen Haus: „Frau Bernhard (mit dem Gesicht in der deutschen Mutterschürze): Schließlich habt ihr ja alle den Nationalsozialismus mit dem Löffel gegessen.“ Und Elfriede Jelinek fabriziert nach den Schnittmustern Heideggers gewissenhaft ihre Dirndln, Lederhosen und Jogginganzüge, in denen sie die österreichische Volksintimität auftreten läßt: „Der Mann: Wir sind nämlich die eigentlich Abgeschiedenen, - Die Frau: und davon leben wir gut.“

Am Ton solcher Texte jedenfalls hätte ein Widerstand gegen Haider sich zu orientieren, der bereit wäre, die postfaschistische Inimität aufzusprengen und die sekundäre Volksgemeinschaft zu verraten.

zuerst erschienen in Jungle World 16/2000