Café Critique, Jahr 1999
Oktober
1999

Scheinland

Eine Anmerkung über das österreichische Bewußtsein, deutsch zu sein

Österreich ist die besondere Aufgabe, die dem deutschen Geist in Europa gestellt wurde. Es ist das vom Geschick zugewiesene Feld eines rein geistigen Imperialismus.

Hugo v. Hofmannsthal, Wir Österreicher und Deutschland (1915)
(Hofmannsthal 1979a: 393f.)

G’freit hab i mi scho ... an den Tag, wo man’n bekommen ham ... den Staatsvertrag ... Da san ma zum Belvedere zogn ...san dag’standen ... unübersehbar ... lauter Österreicher ... wie im Jahr achtadreißig ... eine große Familie ... a bissel a klanere ... weil’s Belvedere is ja klaner als der Heldenplatz. Und die Menschen waren auch reifer geworden ... Und dann is er herausgetreten ... der ... der ... Bundes-, der Poldl und hat die zwa andern Herrschaften bei der Hand genommen und mutig bekannt: ‚Österreich ist frei!‘ Und wie i des g’hört hab, da hab i g’wußt: Auch das hab ich jetzt geschafft. Es ist uns gelungen — der Wiederaufbau ...

Carl Merz, Helmut Qualtinger, Der Herr Karl (1961)
(Merz; Qualtinger 1986: 29f.)

I

Die vom Nationalsozialismus vertriebenen Intellektuellen hatten sich ihr kleines Land erträumt. Es war eine Art Romantik des Exils: Sie gab der verlassenen Stadt, der erinnerten Landschaft den Namen eines Landes, das — anders als vielleicht das deutsche — gerettet werden konnte, einen Namen, der die Tatsache der Vertreibung, Verfolgung und des Massenmords als Angelegenheit eines anderen, großen und feindlichen Landes erscheinen ließ.

„In der langen, mühseligen, wahrhaft patriotischen Arbeit“, schrieb der Schriftsteller Ferdinand Bruckner 1946, „werden dann nicht nur die Geistigen den Widerstand gegen den Ungeist gesichert haben — sie selbst werden auch endlich in ihrem Volk aufgehen.“ (Bruckner 1946a: 4f.) Nicht im Volk, in ihrem Volk sollten die Geistigen aufgehen — so unterschied sich der romantische Intellektuellentraum solcher Autoren und Künstler wie Bruckner, Oskar Kokoschka, Ernst Fischer oder Hugo Huppert, den die Volksfront-Taktik inspirierte, sehr scharf von dem vergangenen des Proletkult, der sich noch auf die Oktoberrevolution berufen hatte. Da dieses österreichische Volk aber nicht wirklich existierte — abgesehen von einer Bevölkerung, die sich mit wenigen Ausnahmen ziemlich rasch und erfolgreich in die nationalsozialistische Kriegs- und Vernichtungsanstrengung einarbeitete -, wurde es in der Vergangenheit angesiedelt, wo es in Wahrheit wiederum nur habsburgische Untertanen verschiedenster sozialer Herkunft und ein deutschnationales ‚Volks-Bewußtsein‘ gab.

Wenn man sich nicht wie Joseph Roth oder Stefan Zweig am habsburgischen Reich orientieren wollte, blieb nichts anderes übrig, als ins Reich der Kultur auszuweichen. Hier konnte das kleine Land in allen Facetten konstruiert werden. Theater-, Literatur- und Musikgeschichte lieferten das Anschauungsmaterial, mit dem der österreichische Geist dem deutschen Ungeist entgegengehalten werden konnte; Mozart und Schubert, Grillparzer und Lenau, Arthur Schnitzler und Gustav Mahler wurden immerzu als Bürger dieses imaginären Landes beschworen. Da aber das Alt-Wiener Volkstheater, insbesondere bei Raimund und Nestroy, aus welchen Gründen auch immer, kaum selbst irgendwelche nationale oder auch habsburgische Ambitionen zeigte, war es für diese Konstruktion das vermutlich dankbarste Objekt. Mit Bezug auf Nestroy wurde etwa eine Art Ontologie des österreichischen Seins begründet, wonach die Österreicher immer schon Österreicher waren, weil sie Österreicher sind: „Ob da [...] einst in Wien ein glanzvoller Kaiser residierte, oder ob ein blasser Herr Schuschnigg ‚Österreichs historische Erbpflicht‘ erfüllen wollte: immer gab es eine österreichische Fiktion, eine metaphysische Begründung, warum die Österreicher auf der Welt sind. Die Tatsache, daß sie auf der Welt sind, einfach anerkennen, wäre gleichbedeutend gewesen mit dem amtlichen Einverständnis, daß die Österreicher ein Volk sind. Völker brauchen keine metaphysische Begründung. Ihr Dasein beantwortet bereits alle Fragen nach dem Sinn ihrer Existenz.“ (Bruckner 1944: 9f.)

Verständlich, aber nicht minder metaphysisch ist diese Sehnsucht der Exil-Patrioten nach einem österreichischen, d. h. einem guten Land — nach einem Volk, das immer nur von seinen Verrätern an die Unterdrücker ausgeliefert wurde — zuletzt an die Nationalsozialisten. (Symptomatisch für die Konstruktion des Nationalen ist dabei, daß die weite Verbreitung des Antisemitismus in der Bevölkerung so gut als es nur ging verdrängt wurde. [1]) Die Substanz dieses Volks sollte davon unberührt geblieben sein. Und als Beweise konnten die ewigen Werke der Kultur gelten, in denen sich das Volk für immer verkörpert hatte, ganz besonders das österreichische. Die Patrioten, „die in der Dichtung und Musik den schönsten Ausdruck ihres Volkes verkörpert sehen“, sie fühlten sich, so Ferdinand Bruckner, „dem Genius nahe, in einer Zugehörigkeit, wie sie gerade dem österreichischen Menschen eigen ist, für den Verehrung und Intimität keine Gegensätze sind.“ (Bruckner 1944:9)

Etwas nüchterner war Berthold Viertel — die Nähe zu Karl Kraus und Bertolt Brecht ist spürbar. In einer Antwort auf Ernst Lothar, der davon phantasierte, daß sich angesichts der Nationalsozialisten „die Überlegenheit der österreichischen Kultur des revolutionären Geistes und des demütigen Herzens nur noch vertiefen“ habe können, schreibt Viertel im Jänner 1945: „Die Erlösung Österreichs von dem Fluch, Ostmark des Dritten Reiches zu sein, ist an sich eine große Sache. Ferner: welch eine Möglichkeit, hier einen neuen Anfang zu setzen! Diese Chance verdankt Österreich den Beschlüssen der Moskauer Konferenz.“ Aber, so fügt er hinzu, „wir dürfen nicht vergessen, was zu Hitler geführt hat und was unter Hitler geschah.“ (Viertel 1945: 7f.)

II

Vier Jahrzehnte später läßt Elfriede Jelinek in ihrem Burgtheater-Stück (Jelinek 1984: 49-51) die Sprachmasken einer prominenten Schauspieler-Familie des Dritten Reichs und der Nachkriegszeit, mit der die Autorin auf Paula Wessely, Attila und Paul Hörbiger anspielt, und eine merkwürdig zugerichtete Österreich-Allegorie aufeinandertreffen: „In der Art eines Altwiener Zauberspiels (Raimund, schau oba)“ schwebt ein alpenländischer Geist herbei — eine „Mischung aus Alpenkönig, Menschenfeind und Invalide. Er trägt ein Zauberstäbchen. Er ist, was man aber nicht sofort bemerken darf!, ganz mit weißen Binden (Verbandszeug) umwickelt wie eine ägyptische Mumie. Tritt aber unbekümmert und fesch auf. Vorerst. Einige Blutflecke, diskret angebracht, können zu sehen sein.“ Wie in einem Besserungsstück mahnt dieser Alpenkönig die noch führertreuen Mitglieder des Burgtheater-Ensembles: „Ihnare Entgleisungen schaden Ihnen mehr als sie nutzen. Tun sie nun endlich eppes fürs Österreicherland“ — und bittet sie um Geld für eine „unserer örtlichen Widerstandszellen“: „Sie können uns einen Scheck überreichen oder die Summe mit der Post überweisen. Sie erhalten für Ihnare Spende ein schönes Abzeichen.“ Doch Käthe, Schorsch und Istvan lassen von diesem Alpenkönig sich nicht bessern, sie reißen ihn stattdessen mit großem Hallo und Ländler tanzend in Stücke — „Ui jegerl, is des a Hetz!“. Schorsch ist allerdings dabei durchaus bereit zu zahlen, er singt: „Geb zehntausend Taler dir, alle Tag bleibst du bei mir!“ — während die andern heftig protestieren:

Istvan Hearst wüüst wirkli für die Lumpen zahln, die was gegen den Fiahrer stiarln tun?
Schorsch No, wer waaß ... in a paar Jahrln ...werma sehn, was unser Kriegerl dann so machen tut!
Istvan Geh tua net so schiach!
Käthe Garstiger Bub!
Schorsch Werma sehn, für wos guat is ...

Die Szene als Verhöhnung des österreichischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zu lesen wäre gewiß verfehlt. Jelineks Alpenkönig verkörpert nicht diesen Widerstand, sondern jene österreichische Identität, die sich auf ihn beruft, um auch die Nationalsozialisten in die neue, kleine postfaschistische Nation zu integrieren: „So seinds doch gscheit!“ sagt er zu der berühmten Schauspielerin, „Ich arbeite an Ihrer Biographie! Passens auf! Wie leicht is was gschehn! [...] Holten Sie ein, gnä Frau, hollodero. Ich bin Ihnare Biographie [...] Ich bin die Nachgeborenen! Ich bin die Jugend! Ich bin das hohe Alter! Ich bin Österreich! Ich bin die Zukunft!“

Die allegorische Form erfüllt in diesem Zwischenspiel vollkommen ihre Bestimmung: die österreichische Identität liebt es wie jede andere nationale, als zeitlose, aber geschichtsträchtige Substanz zu erscheinen, und der Jelineksche Alpenkönig hebt förmlich die Zeit auf, wenn er als nachgebornes Österreich in die Gegenwart der Nazis tritt. Die Geschichte wird zu einer Art integrierten Simultanbühne: was nur nacheinander dargestellt werden könnte, steht nebeneinander. Und das Nationale ist ja unter anderem die Auflösung der Geschichte in eine mythische Gegenwart.

Der österreichische Fall einer besonders verspäteten Nation — nämlich einer postfaschistischen Ursprungs — läßt die Mythisierung allerdings um einiges drastischer erscheinen, was auch dem Spott reichlich Nahrung bietet: „Seit noch nicht einmal fünfzig Jahren“, sagte Rudolf Burger, „gibt es ein tausendjähriges Österreich.“ (Burger 1993: 59) Tatsächlich waren sich hierzulande die zuständigen Kreise nicht zu blöd, ein „Millenium“, das tausendjährige Bestehen der kleinen Nation, offiziell zu feiern. (Man beruft sich dabei auf eine Schenkungsurkunde über feudalen Grundbesitz von 996, worin zum ersten Mal der Name „Ostarrichi“ für „Gebiete im Osten“ aufgetaucht war.) Der erstaunliche ideologische Zeitraffer hängt natürlich — was Rudolf Burger nicht wahrhaben möchte, Elfriede Jelinek aber zur Schau stellt — mit jenem anderen Tausendjährigen Reich zusammen, das selbst nur zwölf Jahre währte, aber Vernichtung und Massenmord für mehr als tausend Jahre herbeiführte.

III

So hat sich der einstige Wunschtraum der Vertriebenen, die Erlösungssehnsucht jener Romantik des Exils erfüllt – und ist nicht mehr wiederzuerkennen. Die von der Komintern initiierte und letztlich von den Alliierten beschlossene und realisierte nationale Selbständigkeit des „kleinen Österreich“ eröffnete nämlich die Möglichkeit, sich als „erstes Opfer Hitlers“ von der Teilnahme am Dritten Reich nachträglich suspendieren zu lassen.

Die große Familie der deutschen Volksgemeinschaft ist nun — wie Herr Karl sagt — „a bissel a klanere“: die der österreichischen Nation eben, wo es heimeliger und intimer zugehen kann; der „Bundes-Poldl“, Bundeskanzler Leopold Figl, tritt als rührender Hausvater an die Stelle des strengen Führers; die Menschen sind „reifer“ geworden – durch Vernichtung und Krieg gereift für den Wiederaufbau. An dessen Zenit, in den siebziger Jahren, übernahm schließlich der einst ins Exil getriebene Sozialdemokrat Bruno Kreisky die Regierung – und in bestimmter Hinsicht erreichte damit auch die Verdrängung der deutschen Volksgemeinschaft ihren Höhepunkt. Denn diese Periode eines späten New Deal, die für einige Zeit ein fast völliges Verschwinden der Arbeitslosigkeit brachte, hat zugleich eine eigenartige Form der „Schuldabwehr“ (Adorno) erlaubt: Der Sozialdemokrat jüdischer Abstammung wurde drei Mal hintereinander mit absoluter Mehrheit gewählt — und das, obwohl man seinen christlich-konservativen Gegenkandidaten als „echten Österreicher“ angepriesen hatte, um Kreisky als den unechten, jüdischen, den Emigranten zu stigmatisieren. Kreisky seinerseits intervenierte wiederum zugunsten des ehemaligen SS-Mitglieds und nunmehrigen FPÖ-Chefs Friedrich Peter und verfeindete sich im Namen des postfaschistischen Burgfriedens mit Simon Wiesenthal.

Die Drachensaat ging auf. Mit der Affäre um die Nazivergangenheit des Präsidentschaftskandidaten Waldheim begann Mitte der achtziger Jahre — um mit Freud zu sprechen — der Durchbruch des Verbotenen aus der Mitte der Abwehr. Im selben Jahr, in dem Waldheim gewählt wurde, erklomm Haider die Spitze der FPÖ. Der Zerfall der Nachkriegsordnung, das Ende des Warschauer Paktes und die Integration durch die Europäische Union machte es zunehmend schwieriger, den kultivierten Opferstatus und die verinnerlichte Neutralität, also die Verleugnung, Deutscher gewesen zu sein, aufrechtzuerhalten, sich weiterhin von der einstigen Teilnahme am Dritten Reich freizusprechen. Seither wollen die Selbstverständnis- und Identitätsdebatten kein Ende nehmen: die Kultur, an der man sich im Exil und in den ersten Jahren der Zweiten Republik gleichsam als regulativer Idee orientiert hatte, schien plötzlich fadenscheinig und veraltet oder untauglich zur Staatsbürgerkunde. Als wäre auch hier eine Mauer gefallen, mußte auf einmal ohne Umweg zur NS-Vergangenheit Stellung bezogen werden — im Guten oder im Bösen. Haider und seine Parteigenossen schöpften aus dieser Notwendigkeit ihre Stammwählerschaft, die Schriftsteller ihre Essaybände. (So entstand in den achtziger Jahren ein neuer Typus des österreichischen Schriftstellers, der zwar nach wie vor für den deutschen Markt produziert, aber nun, indem er als Thema die österreichische Identität den Deutschen nahebringt. Thomas Bernhards späte Texte leiten dazu bereits über.)

Der Wechsel vollzog sich hier natürlich nicht so abrupt, wie bei jenem anderen kleinen Nachfolgestaat des Dritten Reichs, der DDR, doch die innere Verwandtschaft wird durch die rasche Entwicklung eines rechtsextremen Potentials in beiden Ländern evident. Und es war vor allem der spektakuläre Aufstieg von Haider, der nach der Waldheim-Affäre die Herkunft Österreichs aus dem Dritten Reich nicht mehr in Vergessenheit geraten ließ. In selben Maß wie er auf die steigenden Arbeitslosenraten verweisen kann, sucht dieser Politiker den verborgenen, positiven Bezug zum Dritten Reich herauszuarbeiten. So lautete bekanntlich Haiders Bemerkung zu den Sozialdemokraten im Kärntner Landtag von 1992: „Im Dritten Reich haben sie ordentliche Beschäftigungspolitik gemacht, was nicht einmal Ihre Regierung in Wien zusammenbringt.“ (Zit. n. Bailer-Galanda; Neugebauer 1997: 73)

IV

Was die Österreicher mit den Ostdeutschen, die Össis mit den Ossis, gemeinsam haben, ist nicht zuletzt das ambivalente Verhältnis zu den Westdeutschen — den Größeren, Schnelleren, Produktiveren, das sich allerdings in Österreich nicht nur in politischen und ökonomischen Minderwertigkeitskomplexen, sondern ebenso in kulturellen Größenwahnphantasien niederschlägt. Und dies hat nicht allein mit der nationalökonomischen Bedeutung des Fremdenverkehrs zu tun. Die Ambivalenz, zu den mächtigeren Deutschen zu gehören und sich doch von ihnen abgrenzen zu müssen, reicht im Falle Österreichs nämlich weiter zurück — in eine Zeit, als Österreich kein kleines Land war, sondern ein Riesenreich, und tiefer im Osten verankert; ein Reich, in dem jene, auf die sich die heutigen Österreicher berufen, nur eine relativ kleine, allerdings politisch herrschende, ökonomisch profitierende und kulturell hegemoniale Bevölkerungsgruppe bildeten. Wer damals auf dem Gebiet des heutigen Österreich lebte und deutsch sprach, wurde in nationaler Hinsicht als Deutscher bezeichnet (nicht als Österreicher) und verstand sich auch selbst durchaus so; ob Abraham a Santa Clara, Mozart oder Hugo von Hofmannsthal: man definierte sich als Angehöriger der deutschen Nation. Nur wer sich vom nationalen Gesichtspunkt überhaupt distanzierte, wie etwa Grillparzer im Namen der ‚übernationalen‘ Habsburgischen Reichsidee, bezog sich verstärkt auf das Österreichische; wem Nation und Reich gleichermaßen fern waren, genügte zur Identität bereits eine Lokalisierung z. B. als Wiener.

Die Deutschösterreicher haben jedoch stets als Deutsche gehandelt, soweit sie sich Nichtdeutschen gegenüber positionierten und insbesondere wenn es ihnen um Reform oder Revolution ging – von den Josephinern des 18. Jahrhunderts über die Revolutionäre von 1848 bis zur deutschösterreichischen Sozialdemokratie; und sie bezogen sich mitunter noch in der Abgrenzung von Deutschland (die viele Juden und Jüdinnen verhängnisvolle Hoffnungen auf eine österreichische Identität setzen ließ) positiv auf ihr Deutschsein: Österreich als der „bessere deutsche Staat“.

Als Österreicher verstand man sich, wenn die Einheit des Habsburgerreichs gemeint war, als Deutscher aber, wenn es innerhalb dieser Einheit darum ging, seine Position als Herrenvolk zu behaupten, als jenes Volk, das alle wichtigen Stellungen im Staat besetzte, von der Produktivität den größten Nutzen zog und die Kultur dominierte (wie beschreibt doch Hofmannsthal 1916 die österreichische Musik bzw. Kultur: „ein Hauch von Slawischem, ein Glanz von Italienischem“, aber „aus der tiefsten Deutschheit geschöpft“; Hofmannsthal 1979b: 13). Diese Deutschen oder Deutschösterreicher waren das „Reichsvolk schlechthin“ (Habsburg 1961: 174), Träger des Staates, Herren der Wirtschaft und Leitbild der Kultur — eine Vormachtstellung auf ganz anderer gesellschaftlicher Grundlage als etwa die der Deutschsprechenden in der Schweiz, und nach außen hin immer an das nationale Gefüge Deutschlands gebunden. In den zwanziger Jahren sprach man dann stets von „Deutschösterreich“; die Kennzeichnung drückte zwar – von der äußersten Linken bis zu äußersten Rechten, mit Ausnahme der Monarchisten — den Wunsch nach dem Anschluß an Deutschland aus, war aber in Bezug auf die Vergangenheit wirklich ehrlicher als die Rede vom „neuen Österreich“ nach 1945.

All das begreift richtig, wer von der negativen Einheit des Nationalsozialismus aus die österreichische Geschichte betrachtet und nicht von der Österreichideologie der Nachkriegszeit – der Ideologie des kleinen Landes. So ist es im Grunde vollkommen korrekt, daß Daniel J. Goldhagen in seinem Aufsehen erregenden Buch die Österreicher — wie vielfach kritisiert wurde — nicht einmal erwähnt und bei Hitlers willigen Vollstreckern stets nur von „den Deutschen“ spricht. Er differenziert ja bei den Täterkollektiven auch nicht etwa zwischen Bayern und Sudetendeutschen. Hitler war kein Auslandsösterreicher und er war kein Kollaborateur. Der österreichische Bundskanzler Schuschnigg aber begründete im März 1938 die widerstandslose Übergabe des Landes an Hitler damit, „kein deutsches Blut vergießen“ zu wollen — weder das der „Österreicher“, noch das der „Reichsdeutschen“. Und wie um diese Aussage zu ratifizieren, begann man schon am nächsten Tag gemeinsam, die Juden und Jüdinnen zu erniedrigen, zu foltern und zu töten.

zuerst erschienen in Ästhetik & Kommunikation 107/1999


Literaturverzeichnis

  • Adorno, Theodor W. 1985. Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment. Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 9/2. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Bailer-Galanda, Brigitte; Neugebauer, Wolfgang. 1997. Haider und die Freiheitlichen in Österreich. Berlin: Elefanten Press
  • Bruckner, Ferdinand. 1946. „Patriotismus und Kultur.“ In: Österreichisches Tagebuch, 20. April 1946, S. 4f.
  • Bruckner, Ferdinand. 1944. „Nestroy und Österreich.“ In: Austro American Tribune, November 1944, S. 9f.
  • Burger, Rudolf. 1993. Überfälle. Interventionen und Traktate. Wien: Sonderzahl
  • Goldhagen, Daniel J. 1996. Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler
  • Habsburg, Otto v. Im Frühling der Geschichte. Wien
  • Hofmannsthal, Hugo v. 1979a. Wir Österreicher und Deutschland (1915). Gesammelte Werke in 10 Einzelbänden. Hg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt am Main: Fischer. S. 390-396
  • Hofmannsthal, Hugo v. 1979b. Österreich im Spiegel seiner Dichtung (1916). Gesammelte Werke in 10 Einzelbänden. Hg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt am Main: Fischer.S. 13-25
  • Jelinek, Elfriede. 1984. „Burgtheater. Allegorisches Zwischenspiel.“ In: Wespennest 56/1984, S. 49-51
  • Merz, Carl; Qualtinger, Helmut. 1986. Der Herr Karl. Wien (Burgtheater Programmbuch Nr. 5)
  • Priester, Eva. 1946/1949. Kurze Geschichte Österreichs. 2 Bde. Wien: Globus
  • Scheit, Gerhard 1989. Franz Grillparzer. Reinbek: Rowohlt
  • Scheit, Gerhard. 1995. Hanswurst und der Staat. Wien: Deuticke
  • Tietze, Hans. 1933. Die Juden Wiens. Wien-Leipzig: E. P. Tal
  • Viertel, Berthold. 1945. „Austria Rediviva.“ In: Austro American Tribune, Jänner 1945, S. 7f.

[1In der einst für die linken Patrioten maßgeblichen Kurzen Geschichte Österreichs, die Eva Priester im englischen Exil begonnen hat und deren beide Bände 1946 und 1949 in Wien erschienen sind, werden weder die Zerstörung des Wiener Ghettos und die Verbrennung der Juden im Jahre 1421, noch die Ausschreitungen von 1619 und die Vertreibung von 1770/71, die alle unter reger Anteilnahme der christlichen Wiener Bevölkerung vonstatten gingen, erwähnt. All dies hätte die Autorin ohne Schwierigkeiten etwa von dem Emigranten Hans Tietze erfahren können, der 1933 ein Buch über Die Juden Wiens publiziert hatte (Tietze 1933).