EuropaKardioGramm, EKG 5-6/1995
Oktober
1995
EU-Regierungskonferenz 1996

Sicherheitsstaat Europa

Im „Spannungsfeld“ zwischen Erweiterung und Vertiefung der europäischen Integration werden die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten grundsätzlich zwischen zwei Optionen zu entscheiden haben: Entweder wird das Maastrichtmodell als Staatswerdungsprozeß auf dem Weg zum Bundesstaat der „Vereinigten Staaten von Europa“ fortgesetzt, oder die Regierenden nehmen die Kritik an der Staatsgründung von oben ernst und orientieren sich an einer sowohl ökonomisch als auch sozial und demokratisch dauerhaften Integration Gesamteuropas.

Neben den bereits 1991 festgelegten Reformaufgaben zeichnet sich seit dem Gipfel von Korfu im Juni 1994, jenseits der notwendigen technischen Änderungen in dem zum Teil höchst komplizierten und unklaren Vertragswerk, eine umfassendere Umstellung der Institutionen auf eine für zumindest 20 Mitgliedstaaten tragfähige Basis ab. Fast alle politischen Strömungen schlagen eine Abkehr vom Prinzip der Einstimmigkeit bei Ratsentscheidungen vor, um so eine Blockade durch ein oder mehrere Mitgliedsländer gegenüber weiteren Integrationsschritten zu verhindern.
Ein zweiter Schwerpunkt wird die „Lösung“ außen- und sicherheitspolitischer Probleme der EU sein, mit einer Institutionalisierung der GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) und deren Ergänzung durch eine verteidigungspolitische Dimension.

Die Vergemeinschaftung der dritten Säule (Innere Sicherheit und Justizzusammenarbeit) und die Übernahme der Schengener Verträge dürfte ebenfalls Gegenstand der Verhandlungen sein.

Trotz aller Lippenbekenntnisse wird sich die Regierungskonferenz höchstwahrscheinlich nicht mit den Themen Arbeitslosigkeit und Osterweiterung befassen.

Diesen Reformprozeß soll eine „Reflexionsgruppe“, bestehend aus jeweils einem Vertreter der Mitgliedstaaten, zwei Vertretern des Europäischen Parlaments und einem Vertreter der EU-Kommission, vorbereiten. Ausgangspunkt für deren Beratungen sind die „internen und externen Probleme der EU“. Arbeitslosigkeit, das Informationsdefizit der EU-BürgerInnen und eine „erhöhtes Sicherheitsbedürfnis“ aufgrund transnationaler Kriminalitätsformen sind für die BeraterInnen der EURegierungen interne Probleme. Als externe Aufgabenstellungen nennt die Reflexionsgruppe Instabilitäten in Europa nach Ende des kalten Krieges, Migration und Risiken des ökologischen Ungleichgewichts.

Auf der Agenda der Staatschefs dürften somit vorrangig institutionelle Fragestellungen das Verhältnis zwischen Kompetenzerweiterung, Entscheidungseffizienz und demokratischer Kontrolle — sowie die Themenbereiche Innere und Äußere Sicherheit stehen.

Europas „Neue Weltordnung“

Die Europäische Union soll der „primäre Garant für Friede und Prosperität in Europa sein“ und ein höchstmögliches Niveau der „äußeren Sicherheit“ erreichen. Mit den Worten des Spaniers Carlos Westendorp — dem Vorsitzenden der EU-Reflexionsgruppe — besteht die vorrangige Aufgabe in diesem Zusammenhang darin, „alles zu tun, damit die Union wirklich eine äußere Identität erhält, die es ihr gestattet, sich im Rahmen der internationalen Beziehungen in einen globalen Akteur zu verwandeln und so ihre Werte zu fördern, ihre Interessen zu verteidigen und an der Schaffung einer neuen Weltordnung mitzuwirken“.

Die im Maastrichter Unionsvertrag festgelegte und bis dato gültige Absichtserklärung, über die Westeuropäische Union (WEU) als verteidigungspolitischen Arm der EU zukünftig eine eigene „europäische“ Verteidungspolitik zu etablieren, soll durch den Maastricht-IIVertrag endgültig fixiert werden: „Angesichts der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen in Europa ist auch die notwendige Verwirklichung einer echten gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union entschlossen in Angriff zu nehmen.“ (Zwischenbericht der EU-Reflexionsgruppe, Westendorp-Bericht, September 1995.)

1998 endet die 50jährige Gültigkeitsdauer der 1948 gegründeten WEU. Ob zu diesem Zeitpunkt das Militärbündnis vollständig in der Europäischen Union aufgegangen sein wird oder ob die WEU noch pro forma eigenständig im Rahmen der Europäischen Union existiert, darüber wird anläßlich der EU-Regierungskonferenz politisch gestritten. Einigkeit herrscht hingegen weitgehend über das Verhältnis „Europas“ zur nordatlantischen Allianz NATO. Die Europäische Union wird über ihre militärische Dimension den europäischen Pfeiler der NATO darstellen. Die Fusionierung von WEU und EU liegt für die Mehrheit der Mitgliedstaaten in der Logik des Maastrichter Unionsvertrages.

Befreiungsschläge der WEU

Seit Ende 1992 gehören alle EU-Staaten als Vollmitglieder oder Beobachter der WEU an. Mit der sogenannten Petersberger Erklärung vom 19. Juni 1992 hat der Ministerrat der WEU beschlossen, die militärischen Einheiten der einzelnen Mitgliedstaaten für UN-Einsätze unter WEU-Befehlsgewalt zu stellen. Die Palette möglicher Aufgaben reicht von „humanitären und Rettungseinsätzen“, friedenserhaltenden Operationen und Kampfeinsätzen zur Krisenbewältigung bis zu Maßnahmen offensiver Gewaltanwendung.

Seit Mai 1995 ist Griechenland das 10. Vollmitglied des europäischen Militärbündnisses. Die Neo-EU-Mitglieder Österreich, Finnland und Schweden erlangten mit ihrem EUBeitritt Beobachterstatus in der WEU.

Mit der Gründung des deutsch-französischen Eurocorps wurde 1992 der Grundstein für einen EU-eigenen militärischen Körper gelegt. Damals einigten sich Frankreich und Deutschland in einer ersten Ausbaustufe, die „Euroarmee“ bis zum Jahr 1995 mit etwa 50.000 Mann auszustatten. 12.000 spanische Soldaten, die dem Eurocorps angegliedert wurden, vervollständigen zeitgerecht die erste Ausbaustufe der Euroarmee. Dadurch ist die EU mit 50.000 einsatzfähigen Soldaten aus den vier Mitgliedstaaten interventionsbereit.

Frankreich, Italien und Portugal gründeten Mitte 1995 zwei multinationale Truppenverbände, die der WEU unterstellt wurden und anderen WEU-Mitgliedern zur Beteiligung offenstehen: EUROFOR und EURO-MARFOR ergänzen das Eurocorps, welches nun endgültig seine erste Ausbaustufe erreicht und ab 1.10.1995 vollständig einsatzbereit ist.

Derzeit beschäftigt sich die WEU mit dem weiteren Ausbau eigener militärischer Infrastruktur, neuen Einsatzszenarien sowie mit der Klärung des institutionellen Verhältnisses zwischen WEU, EU und NATO. Über die Errichtung eines Satellitenzentrums und die Beschaffung eigener Satellitendaten, eines militärischen Lagezentrums und einer „nachrichtendienstlichen Arbeitseinheit“ wird die WEU mit „Aufklärungskapazitäten“ ausgestattet. Bereits seit 1.10.1992 arbeitet die WEU-Planungszelle an Einsatzszenarien. Die „Europäische Rüstungsagentur“, die sich mit Rüstungsbeschaffung und -planung beschäftigen soll, nimmt ebenfalls Gestalt an. Diese Agentur wird als WEU-Organ im Institutionenrahmen der EU/WEU angesiedelt sein.

Die letzten WEU-Manöver und die Suche der WEU-Planungszelle nach der „Rolle der WEU in Evakuierungsoperationen“ lassen den Schluß zu, daß sich das westeuropäische Militärbündnis auf sog. „low intensity warfare“ — Kriege mit niedrigem Gewaltniveau vorbereitet, analysiert die Zeitschrift „antimilitarismus informationen“ — ami — (Heft Nr. 7-8/95). Befreiungskriege à la Bosnien, Rwanda und Somalia stehen offensichtlich am Zielkatalog der WEU-Strategen.

Pragmatische Praxis

Die bis heute feststellbaren unterschiedlichen Standpunkte über Grad und Tempo der Militarisierung der europäischen Integrationspolitik lassen einen Kompromiß erkennen, der die bisherige Praxis des Integrationsprozesses fortschreibt: Wahrscheinlich wird die WEU in Etappen vollständig in der EU aufgehen. Überdies werden Entscheidungsregeln im Bereich Sicherheitspolitik festgelegt, die es einigen Mitgliedsländern erlauben, an militärischen Operationen der EU/WEU nicht teilzunehmen, ohne den Entscheidungsprozeß nachhaltig zu stören.

Das Institutionengebäude der Europäischen Union ruht auf den sogenannten „drei Säulen“. Für die erste Säule, den gesamten Binnenmarktbereich, gelten grundsätzlich Mehrheitsentscheidungen. Dieser Politikbereich ist in EU-Terminologie „vergemeinschaftet“, d.h. als EU-Kompetenz festgeschrieben. Die zweite und dritte Säule — die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Politik der Inneren Sicherheit und der Justizzusammenarbeit — sind hingegen zwischenstaatlich organisiert. Ziel des Maastricht-Revisionsprozesses ist es, die zwischenstaatlichen Politikbereiche als eigenständige EU-Kompetenzen zu vergemeinschaften. Der Erfolg der Maastricht-II-Konferenz wird vom Umfang und von der Geschwindigkeit dieser Kompetenzübertragungen abhängen.

Noch vor Beginn der eigentlichen Konferenzarbeiten kann festegestellt werden, daß über Zwischenlösungen Teilbereiche der gegenständlichen Materien — wie zum Beispiel der Schengen-Vertrag — in das Institutionengeflecht der EU übernommen werden. Erste Schritte auf dem Weg zur Euroarmee der Union sind getan, mit der etappenweisen Verschmelzung von WEU und EU wird die Regierungskonferenz weitere beschließen.

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