FORVM, No. 358/359
November
1983

Sozialismus als radikale Kritik am Staat

31 Thesen zu einem verfehlten Thema, gestellt vom Bayerischen Seminar für Politik

REMOTA IGITVR JVSTITIA
QVID SUNT REGNA NISI
MAGNA LATROCINIA

Augustinus De civitate Dei IV/4

1)

Spricht man über Sozialismus als radikale Kritik am Staat, kann man das Thema nur radikal verfehlen. Der traditionelle Sozialismus ist keine radikale Kritik am Staat. Der traditionelle Sozialismus ist die Fortsetzung des kapitalistischen Industriestaates mit anderen Mitteln, die die gleichen sind, nur ärger.

Bürgerliche Bürokratie ist arg, sozialistische Bürokratie ist ärger.

2)

In der Staatsanbetung konvergieren demokratischer Sozialismus und totalitärer Kommunismus. Der historische Grund liegt in ihrer tiefgreifenden Verwandtschaft. Oberster Zweck des modernen Staates ist die Vernichtung aller vorkapitalistischen Lebensformen, die Durchsetzung der Industrialiserung.

3)

Sozialdemokratie ist Durchsetzung der Industriegesellschaft mit den Mitteln des bürgerlich-demokratischen Staates. Sowjetkommunismus ist Durchsetzung der Industriegesellschaft mit den Mitteln der asiatischen Despotie.

Darin liegt ein kleiner Unterschied. Er kann für die Betroffenen lebenswichtig, lebensrettend sein.

4)

Doch wird der lebensrettende kleine Unterschied zwischen sozialdemokratisch-bürgerlichem Industriestaat auf lebensbedrohliche Weise immer kleiner. Der kommunistische Staat baut die Todesschußapparate ab; der demokratische Staat rüstet die Polizei auf.

5)

Die neueste Form des westlichen Industriestaates — die menschenleere Produktion, der computergesteuerte Mensch, die Vergiftung des Vaterlandes mit Atom- und Chemiemüll — kann nur noch in den Formen des offenen oder versteckten Bürgerkriegs durchgesetzt werden.

6)

In der Anbetung des Staates als Vehikel des industriellen Fortschritts treffen sich nicht nur Sozialdemokratie und Sowjetkommunismus, sondern diese beiden und der Kapitalismus in allen seinen demokratischen wie faschistischen Spielarten.

7)

Der historische Grund hiefür liegt in ihrer Verwandtschaft. In ihrer obersten historischen Zielsetzung, Durchsetzung der Industriegesellschaft, sind staatsbegeisterte Sozialdemokratie und staatsbegeisterter Sowjetkommunismus Varianten des Kapitalismus, nicht sein Gegenteil, sondern seine Ergänzung:

8)

Die Durchsetzung des Kapitalismus im weltweiten Maßstab kann nicht überall mit denselben Mitteln erfolgen. Das ist der historische Grund für, je nach Notwendigkeit:

  1. Zusammenarbeit des Kapitalismus mit der Sozialdemokratie, Fachausdruck: Sozialpartnerschaft;
  2. Zusammenarbeit des Kapitalismus mit dem Sowjetkommunismus, Fachausdruck: Entspannung;
  3. Zusammenarbeit des Kapitalismus mit den faschistischen Diktaturen, Reagan & Kohl: wer mit uns freundlich ist, mit dem sind auch wir freundlich.

9)

Die Sozialdemokratie hat zum historischen Ziel nicht die Vernichtung des Kapitalismus, sondern die Vernichtung der vorkapitalistischen Strukturen und die Symbiose mit dem Kapitalismus. Das ist der historische Grund, warum sich Sozialdemokratie und Kapitalismus zu ihrem gemeinsamen Erstaunen als Karyatiden des bürgerlichen Staates wiederfinden. Die Weltgeschichte macht uns zu ihren Narren, sagte der alte Engels.

Sozialismus der Weg, Industriestaat das Ziel.

10)

Sozialdemokratie und Kapitalismus befinden sich im welthistorischen Gelegenheitsverhältnis wechselseitiger Unentbehrlichkeit.

  1. Der Kapitalismus braucht die Sozialdemokratie als Ordnungsmacht in der Arbeitswelt. Andernfalls könnte er diese Ordnung, unentbehrlich für den Fortgang der Poduktion und die immer grausameren Formen der technologischen Innovation, nur aufrecht erhalten mit den Mitteln des unverhüllt faschistischen Terrorstaates.
    Gäbe es die Sozialdemokratie nicht, müßte der Kapitalismus sie erfinden.
  2. Die Sozialdemokratie braucht den Kapitalismus als Existenzgrundlage. Sie ist die Interessensvertretung der Lohn- und Gehaltsabhängigen im Kapitalismus. Gibt es keinen Kapitalismus, braucht man keine solche Interessensvertretung, keine sozialdemokratischen Parteien, keine Gewerkschaft.

11)

Weil mit Abschaffung des kapitalistischen Staates auch die sozialdemokratischen Parteien, auch die Gewerkschaften überflüssig sind, wollen sie den Kapitalismus nicht abschaffen, sondern daran mitwirken als seiner Majestät des Industriestaates loyale Opposition.

12)

Als traditionellen Ehrensold für die Mitwirkung am kapitalistischen Industriestaat bekommt die Sozialdemokratie jedes Jahr oder jedes zweite Jahr Lohn- und Gehaltsprozente, Verbesserungen des Sozialstaates und ihr Funktionärskader hochdotierte Positionen.

13)

Im Anstellungsdekret steht: der Zuwachs, den wir gemeinsam erarbeiten, den verteilen wir zwischen uns. Doch jetzt wächst nichts mehr. Jetzt ist nichts mehr zu verteilen. Jetzt fragt sich der Kapitalismus:

  1. Wenn ich die Fabriken und Büros menschenleer machen kann — wozu brauche ich die Sozialdemokratie als Ordnungsmacht in der Arbeitswelt?
  2. Wenn ich den verbleibenden, geschwächten Rest von Lohn- und Gehaltsabhängigen mit der Polizei in Schach halten kann — wozu brauche ich die Sozialdemokratie?
  3. Wenn ich die Arbeitslosenmillionen, abgesehen von der Polizei, auch noch durch das „soziale Netz“ halbwegs bei Laune und Ruhe halten kann, was beides, Polizei wie soziales Netz, viel billiger ist als die Erhaltung technologisch unnötiger Arbeitsplätze — wozu brauche ich die Sozialdemokratie?

14)

Dementsprechend fragt sich die Sozialdemokratie selber: wozu brauche ich mich?

15)

In der neuen Phase des kapitalistischen Industriestaates wird die Sozialdemokratie als bisher unentbehrliche Ordnungsmacht ersetzt durch den Computer als die billigere Ordnungsmacht.

Werden die Arbeiter und Angestellten wegrationalisiert, wird auch die Sozialdemokratie wegrationalisiert.

Das ist der historische Grund für die Existenzkrise der Sozialdemokratie.

16)

Jede Existenzkrise ist eine Chance.

Fällt die bisherige Existenzgrundlage weg, sucht man sich eine neue.

17a)

Es schwinden, Schnee an der Sonne der neuen Technologie, die Arbeiter- und Angestelltenmassen, von deren Vertretung die Sozialdemokratie lebt. Als AG zum möglichst teuren Verkauf von Arbeitskraft veraltet ihre Produktionspalette rasend schnell.

17b)

Es wachsen, Lawine losgetreten von der neuen Technologie, die Massen der jungen Kopfarbeiter jeden Alters, die nicht mehr kapitalistisch leben wollen, sondern alternativ. Noch ist es eine Minderheit, aber ein Wahlsieg ist die clevere Addition von Minderheiten.

18a)

Es schwindet die Gläubigkeit der Industriestaaten, ihre zerstörerische Lebensform in alle Welt exportieren zu können.

18b)

Es wächst die Ratlosigkeit der Industriestaaten, was nach gelungener Zerstörung der historisch gewachsenen Strukturen der Dritten Welt sonst noch zu tun sei. Ein Drittel der Welt wird von der Industriegesellschaft aktiv vergiftet, zwei Drittel der Welt wird von der Industriegesellschaft passiv dem Hunger, der Folter, der Diktatur preisgegeben.

19)

Es schwindet der Glaube an Entwicklungshilfe: Wir Ratlosen müssen von der „Dritten Welt“ lernen, aus ihrer von uns zerstörten agrardemokratischen Vorgeschichte lernen, was die anarchistische Alternative zum Ungeheuer Industriestaat sein könnte.

Dies ist die sublime Rache der von uns massakrierten farbigen Welt; die Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf.

20a)

Es schwindet die Fähigkeit des Industriestaates, seine Zerstörungspotenz auf dem inneren Markt abzuarbeiten. In der ökonomischen Krise wendet sich die kapitalistische Zerstörungspotenz nach außen. Kapitalismus mit dem Rücken zur Wand ist das gefährlichste Raubtier, warnte Lenin; das gilt auch von dem durch Lenin geschaffenen sowjetkommunistischen Staatskapitalismus.

Die beiden Raubtiere US und SU springen einander an die Kehle, wogegen nichts einzuwenden wäre, außer daß sie uns mit umbringen.

20b)

Es wächst der Widerstand gegen solchen kollektiven Selbstmord. Friedensbewegung ist plötzlich nichts Kommunistisches, sondern lebensnotwendig. Sogar die intelligenteren CDU-Politiker, sogar die dümmsten SPD-Politiker beginnen zu begreifen.

21a)

Es schwindet überhaupt bei den Parteien die Potenz, wie das normal ist im Prozeß des Alterns, zur Lösung der Probleme dieses Zeitalters. Sie waren Spezialisten in der Herbeischaffung von materiellem Wohlstand um den Preis der Zerstörung von Stadt, Land und Seele. Jetzt stehen sie da und verstehen die Welt nicht mehr, wie das bei den Alternden normal ist.

21b)

Es wächst, außerhalb der Parteien und mit neuen politischen Formen der Organisation und Durchsetzung, ein neuer Idealismus, eine neue Romantik. Die Grünen sind eine religiöse Bewegung; religio heißt Bindung; gesucht wird, gefunden wird eine neue Bindung des Menschen an die Natur. Die Natur wird Gegenstand der Politik. Die Politiker staunen wie die Ochsen vorm neuen Tor.

22a)

Es schwindet der traditionelle Freiheitsraum im parlamentarisch-demokratischen Industriestaat, damit das Wertvollste an ihm. Was bleibt ist die polizeistaatliche Durchsetzung der neuen Technologie.

22b)

Es wächst die radikale Verdrossenheit am Staat als kältestem aller Ungeheuer. Auch der Sozialstaat ist ein kaltes Ungeheuer, kein Schritt zum Sozialismus, sondern milliardenschwere Subvention zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktion.

Je unfinanzierbarer der Sozialstaat in der Krise wird, desto einsichtiger werden auch die beschränktesten Sozialdemokraten.

23a)

Es schwindet die Substanz des traditionellen Sozialismus. Aller bisherige Sozialismus — ausgenommen der Anarchismus, als einzig anständig gebliebener, dem Kapitalismus sich nicht prostituierender Sozialismus — war Fortsetzung der bürgerlichen Aufklärung, Fortsetzung der bürgerlichen Revolution. Der Mensch im Mittelpunkt; dazu ist der Mensch gar nicht geeignet.

23b)

Es wächst ein neuer Sozialismus, der historisch erste Sozialismus, der nicht von übergelaufenen bürgerlichen Berufsintellektuellen in die Arbeiterklasse importiert und ihr aufgepropft wird — sondern authentischer Sozialismus, der in der massenhaften neuen Kopfarbeiterklasse selber entspringt, eine vollgerüstete Athene aus dem Kopf des Zeus:

Sozialismus ist das Produkt des Kapitalismus.

Der neue Sozialismus ist das Produkt des neuen Kapitalismus.

24)

Der neue Sozialismus ist nicht bürgerlich-revolutionär-progressiv-aufklärerisch, sondern konservativ-religiös-antikapitalistisch. Er ist Kampf um den Wiederanschluß des Menschen an die Natur, auf deutsch: an die Schöpfung. Er ist Kampf um die Wiedergewinnung von Schönheit.

Das schönste Rot ist grün. Die Sozialdemokraten stehen davor wie die Ochsen vorm neuen Tor.

Was tun?

25)

Sozialdemokratie begann als Bewegung der industriellen Facharbeiter. Wäre die Sozialdemokratie dies geblieben, wäre sie längst tot. In Revision des marxistischen Grundirrtums: die Arbeiterklasse wüchse zur überwältigenden Mehrheit — fischte sich die Sozialdemokratie die Massen der kleinen und mittleren Angestellten und Beamten.

Ideologische Widerspiegelung dieses realpolitischen Purzelbaums war der sogenannte Revisionismusstreit um die Jahrhundertwende.

Er zerriß die Partei fast. Aber eben nur fast. Dahinter war sie lebensfähiger denn je, nach qualvollem Warten im Oppositionseck sogar mehrheitsfähig.

26)

Dahin sind Willy Brandts Glanzjahre.

Jedoch und ebendrum: Eines ähnlichen realpolitischen Purzelbaums muß die rheumatische Tante Sozialdemokratie wiederum fähig sein. Sie übt schon, es ist peinlich anzuschauen.

Aber was sein muß, muß sein.

Widerspiegelung des realpolitischen Purzelbaums ist die im Gang befindliche Ideologiedebatte zwischen nicht einmal mehr Rosaroten und schon Hellgrünen in der Partei.

27)

Die alte Dame Sozialismus muß zurück in ihre Jugend. Auf der historischen Tagesordnung steht die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Utopie. Wir Sozialisten haben die Welt nur verändert, es kömmt aber darauf an, sie verschieden zu interpretieren.

28)

Der Abgrund zwischen Theorie und Praxis, ein beliebtes Ausflugsziel des linken Konferenztourismus, wächst und wächst. Sogar Sozialdemokraten reden wieder von Sozialismus. Wie groß muß ihre Verzweiflung sein?

Sie ist desto größer, als es weit außerhalb der Partei den neuen Sozialismus längst schon gibt. Millionen Junge jeden Alters leben ihn, während wir darüber konferieren.

29)

Wer ist ausgestiegen? Wir sind sehr ratlos, aber die Wörter manipulieren wir immer noch oder sie uns. Vielleicht sind wir die Aussteiger; ausgestiegen aus ein paar Milliarden Jahren Ökonomie der Natur. Die Zerstörungsepoche des gemischt kapitalistisch-sozialistischen Fortschritts ist ja keine zweihundert Jahre alt.

30)

Der neue Sozialismus entsteht außerhalb der alten Sozialdemokratie. Er sickert in sie ein, in gewaltigen homöopathischen Dosen. Ehrlich währt am längsten, gestohlen ist bald was. Diebstahl von Ideen ist ein sozialdemokratisches Kavaliersdelikt.

31)

Die alte Tante Sozialdemokratie ist eine robuste historische Erfolgskonstruktion. Niemand kann sie umbringen, außer sie sich selbst.

Warum sollte sie?

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