FORVM, No. 181
Januar
1969

Theater: moralische Anstalt und Behörde

Nestroys „Der Unbedeutende“ war bei seiner Uraufführung 1846, knapp vor dem Revolutionsjahr, ein großer Erfolg. Um so merkwürdiger ist es, daß das Stück seither nicht mehr gespielt wurde. Die Intrige geht vom bürgerlichen Sekretär eines reichen Edelmannes aus, in ihrem Zentrum steht die Bemühung des Unbedeutenden, eines einfachen Zimmermannes, seinen und den Ruf der Schwester zu wahren. Es ist nichts Verbindliches an dieser Posse: der Intrigant fängt sich zwar zuletzt im Netz seiner Intrige, doch die Strafe ist nicht hart, das Böse wird nicht, wie üblich, unnachsichtig bestraft. Der Zimmermann steht allein, repräsentiert nicht seine Klasse, denn seine Umgebung — die klein- und gutbürgerliche, die damals in Österreich auf Selbstbehauptung aus war — wird mit den Untugenden ausgestattet, die seither zu ihrem Inventar an charakteristischen Eigenschaften gehören. In Beaumarchais’ Figur des Figaro ist die Rolle des unbedeutenden Zimmermanns vorgezeichnet. Doch während Figaro, um sich vor den Intrigen seines Herrn zu schützen, selbst fleißig mitintrigiert, entlarvt der Zimmermann Nestroys die Intrige, die seine Ehre zu beschmutzen droht, nicht aktiv, sondern durch sein Beharren auf einige Grundwünsche und Tugenden: Anständigkeit, Bescheidenheit, das Recht auf ein integres, kleines Glück.

Leopold Lindtberg inszenierte die Nestroy-Posse vor allem mit Bedacht auf Genauigkeit: im Ablauf der Intrige, die ohne Schnörkel, mit Tempo abläuft; in der Besetzung, in der es, bei über dreißig Rollen, keinen schwachen Punkt gibt; und in der handwerklichen Organisierung der diversen Bühnenbewegungen.

Auch Gerhard Klingenbergs Regie der „Figaro“-Aufführung hatte den Vorzug einer genauen und gut durchdachten Realisierung. Sowohl das Lustspielschema wie auch die revolutionäre Tendenz wirkten plausibel, nicht aufgesetzt: die Komödie war nicht als Schwank ausgelegt, verleugnete jedoch nicht ihre Ursprünge; Figaros Auflehnung gegen die feudalen Privilegien einer nur scheinbar aufgeklärten Herrschaft wirkte nicht allgemein rhetorisch, sondern individuell motiviert und daher um so verständlicher. Klingenbergs im Programmheft festgehaltene Forderung nach Individualitäten auf der Bühne, nicht nach Typisierungen kam der komödiantischen Begabung des Burgensembles voll entgegen.

Beide Aufführungen, der Nestroy wie der Beaumarchais, verkörpern eine bestimmte Art und Weise, Theater zu spielen, in Vollendung. Die Regisseure lieferten das Grundkonzept und die Mechanik des Ablaufs, die Schauspieler statteten ihre Rollen mit jenen kleinen Details aus, die den Rapport zwischen Bühne und Zuschauerraum herstellen. Man unterhielt sich, ohne die Tendenzen des Stückes, des Autors zu vergessen. Doch gerade die Perfektion der Aufführungen, vom Schauspielerischen her wahrscheinlich eine Perfektion, wie sie ein anderes deutsches Theater mit diesem Reichtum an Nuancen nicht zustandebringen kann, deckte etwas auf, was diese Art des Theaterspielens, oder vielleicht das Theater überhaupt, problematisch macht. Der Rapport zwischen Schauspielern und Publikum, der aus der perfekten Realisierung des Komödiantischen entsteht, setzt zugleich ein Einverständnis innerhalb der theaterbesuchenden Gesellschaft voraus, das es erlaubt, die dargestellten Figuren im vollen Umfang der Rolle wahrzunehmen und sich mit ihnen zu identifizieren. Das Einverständnis ist gefühlsmäßiger Natur, die Identifizierung ermöglicht die restlose Rezeption der Gestik und Mimik als festgelegte Zeichen für bestimmte emotionelle Zustände und verhindert zugleich die Rezeption des Theaterstücks als Bruchstück einer bestimmten historischen Situation. Die Bühne wird zur Totalität, das Momentane zum Dauernden, was vor und nach der Vorstellung, also jenseits der Bühnenrealität geschieht, kann vergessen werden. Das ist nicht Konsumtheater, denn dieses entläßt den Zuschauer unbelastet, befriedigt; das ist noch Theater als moralische Anstalt, das durch die Identifikation im Zuschauer bestimmte Emotionen auslöst, erzwingt. Aber das Spiel als auslösendes Moment und manipulierte Emotion als Endeffekt sind bloße Artefakte, verweisen auf nichts außerhalb ihrer selbst.

Während der Premiere des „Figaro“ gelang es einigen Studenten im Stehparterre, etliche Male das Schlagwort vom „Konsumtheater“ zu deklamieren, bevor sie von der Polizei ziemlich gewaltlos hinausgeführt wurden. Ihr Protest war schlecht organisiert, die Zurufe erfolgten einzeln, zaghaft und störten kaum. Es gibt eben auch für solche Demonstrationen eine Technik, die nicht einmal so wenig mit dem Schauspielen gemeinsam hat. Außerdem hätte aus einer Komödie, von der vor zweihundert Jahren die Große Revolution mitvorbereitet wurde, eine bessere Aktion abgeleitet werden können. Doch die schüchterne Wiener APO hielt sich an die Oberfläche, an die Tatsache einer festlichen Burgtheaterpremiere, und begnügte sich, was die Bedeutung des „Figaro“ betrifft, mit dem Klischee der Mozart-Oper.

Alban Bergs unvollendete Oper hat für den Weg in die Wiener Staatsoper mehr als dreißig Jahre gebraucht. 1937 wurde die „Lulu“ in Zürich aufgeführt, in Wien hörte man sie zunächst zweimal, 1949 und 1960, konzertant, später in einer Produktion der Wiener Festwochen auf der Bühne des Theaters an der Wien, und schließlich nimmt sie die Staatsoper, wieder in einer Inszenierung Otto Schenks, in ihr Repertoire. Gleichsam als Starthilfe dirigierte die Premiere (wie schon an der Wien) Karl Böhm, doch schon die zweite Aufführung betreute ein Hausdirigent, auch Anja Silja in der Titelrolle sang nur zweimal.

Die Wiener Staatsoper, ein Milliardenunternehmen mit ständigen Direktionsschwierigkeiten, vermag ihren Ruf als eines der ersten Opernhäuser der Welt nur noch durch die Konzentration der verfügbaren Mittel auf einige Premieren im Jahr zu wahren, die dann allerdings, wie eben die „Lulu“-Premiere, perfekt sind. Der Rahmen, in dem sich die Perfektion diesmal abgespielt hat, ist durch die korrespondierenden Auffassungen des Dirigenten und des Regisseurs gegeben. Die Oper entfaltet sich als realistisches Drama einer Frau, die ihrer Anziehungskraft auf Männer (und Frauen) einen steilen Aufstieg und dann einen steilen Fall verdankt.

Das Bemerkenswerte an der Regie Otto Schenks ist, daß man den psychologischen Verismo der Aufführung auch ohne Musik ablaufen lassen könnte, eine gelungene Opernvorstellung sozusagen auch für Taube. So wie Schenk auf die Distanz, die der Komponist möglicherweise zwischen Werk und Publikum legen wollte, verzichtet und die bunten Rampenlichter der Manege der ersten Szene später verschwinden läßt, betont Karl Böhm jene Qualitäten der Komposition, die einen Wiener Musikkritiker an Puccini erinnerten. Das Resultat ist die durch die Musik potenzierte Wirkung eines Theaters als moralischer Anstalt, die freilich in solcher Konzentration nur durch eine fehlerfreie, in sich geschlossene, darüber hinaus auch glänzende Leistung aller Beteiligten entstehen kann.

Die Bundestheater, deren bei weitem aufwendigstes Haus eben die Staatsoper ist, werden jährlich mit einem halben Prozent des österreichischen Staatshaushaltes finanziert. Das ist zwar, gemessen an den restlichen neunundneunzigeinhalb Prozent, nicht viel, im Vergleich zu anderen Posten im Bereich der Kultur jedoch eine ganze Menge. Daß jetzt ein langjähriger Beamter der Bundestheaterverwaltung, Hofrat Reif-Gintl, Direktor der Oper und damit ihr oberster künstlerischer Leiter geworden ist, unterstreicht nur die Tatsache, daß die Bundestheater allmählich weniger als Theater denn als Behörde funktionieren. Die Kunst der Verwaltung, auch der aufgeblähten, hat in Österreich eine lange Tradition, seit der Josephinischen Zeit, und warum soll also, im Gegensatz zu dem oft angestrebten und selten erreichten Ideal des Theaters als Organismus, das Theater nicht auch als Amt florieren. Außer den Beamten, von denen die administrativen Angelegenheiten erledigt werden, gibt es dann noch solche, die spielen und singen, und andere, die für die Beleuchtung und den Umbau sorgen. Alle sind selbstverständlich gewerkschaftlich organisiert. Und da eine staatliche Behörde eo ipso eine Neigung zur Geheimhaltung, wenn nicht Geheimniskrämerei in sich birgt, kommt es zu Auseinandersetzungen mit der Presse, mit der Kritik, mit den Institutionen also, denen die Wahrung des sogenannten öffentlichen Interesses anvertraut ist. So hat jetzt eine derartige Auseinandersetzung dazu geführt, daß der Österreichische Rundfunk und das Fernsehen bis auf weiteres keine Sendungen mehr aus der Oper bringen werden. Ob man mit den genannten Medien elitäre Kunst den Massen näherbringen kann, ohne den Charakter des Dargebotenen zu verändern, ist ohnehin fraglich.

(Noch vor Druck dieses Heftes ist der Zwist durch eine Kommission unter dem Vorsitz des für die Bundestheater ranghöchsten zuständigen Beamten im Unterrichtsministerium geschlichtet worden.)

Zu registrieren gibt es außerdem: in der Josefstadt eine arg gestrichene und auf die Herstellung der üblichen „Tschechow-Atmosphäre“ grob abzielende Inszenierung der „Drei Schwestern“ (Regie: Hermann Kutscher), einen unterhaltenden, sehr dezent und genau inszenierten und gespielten frühen Molnár, „Das Lamm“ (Regie: Peter Loos, mit Gertraud Jesserer, Brigitte Neumeister, Alfred Böhm, Erik Frey, Guido Wieland und Peter Vogel in den Hauptrollen, letzterer vergleichsweise zu laut und outrierend), und im Kleinen Theater der Josefstadt im Konzerthaus das dritte Stück des tschechischen Dramatikers Václav Havel „Von der Schwierigkeit, sich zu konzentrieren“ (Regie: Heinrich Schnitzler).

Ebenfalls noch vor Druck dieser Nummer wurde der plötzliche Tod des langjährigen Volkstheaterdirektors Leon Epp gemeldet. In seiner Direktionszeit hatte die Bühne am Weghuberpark das bei weitem interessanteste und aktuellste Programm zu bieten.

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