Triumph des juristischen Willens
Der Nationalrat hat sich 1999 überraschend für die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure ausgesprochen. Vier Jahre später entschließt sich das Justizministerium zur Fahnenflucht auf höchstem Niveau. Eine Zwischenbilanz.
Zuletzt war es ein Feilschen um juristische Textsorten. Halbsätze aus irgendwelchen Verordnungen wurden ins Treffen geführt gegen diesen und jenen Paragrafen. Ein kaum auf Deserteure und Kriegsdienstverweigerer angewendetes Gesetz der provisorischen Bundesregierung aus dem Jahre 1945, das Aufhebungs- und Einstellungsgesetz für Strafverfahren und Verurteilungen der NS-Justiz, unterlag schließlich gegen ein gänzlich in Vergessenheit geratenes Gesetz aus dem Jahre 1946, die sogenannte Befreiungsamnestie. Fazit des Justizministeriums: Der Nationalrat bezog sich bei seinem Beschluss von 1999 auf das falsche Gesetz, die Verurteilungen durch die NS-Militärgerichtsbarkeit sind mit der — erst kürzlich wiederentdeckten — Befreiungsamnestie aus dem Jahre 1946 längst aufgehoben. Bemerkt hatte das damals freilich niemand. Justizminister Böhmdorfer hat den Justizausschuss im Herbst über diese kolossale Entdeckung informiert und damit ist — so das Ministerium in einem Schreiben an den Deserteur Richard Wadani — die parlamentarische Behandlung der Sache vorläufig abgeschlossen.
Die Wehrmachts-Juristen wussten folgerichtig zu urteilen. In einer Volksgemeinschaft, die sich als Ganzes der Barbarei verschrieben hatte, lagen Todesurteile gegen Deserteure in der Natur der Sache. Wer nichts gegen Deportationen und Massenmord einzuwenden hat, wird die Exekution aus politischen Gründen (der Sinn der Urteile war, die aus der Volksgemeinschaft und ihrer Armee Flüchtenden auszumerzen) nur schlüssig finden. Man kann annehmen, dass sie die Zehntausenden Exekutionen mit gutem Gewissen angeordnet haben. Zu ihren Taten konnten die meisten von ihnen jedenfalls auch nach 1945 unbeschadet stehen.
Den Juristen im Justizministerium ist sechzig Jahre später in ihrem plötzlich an den Tag gelegten juristischen Eifer eine gewisse Unbehaglichkeit anzumerken. Gewiss, dem Gesetzgeber sei es mit der Befreiungsamnestie nicht um ein Zeichen der Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure gegangen, schreibt einer von ihnen an Wadani, aber mehr sei unter den gegebenen politischen Umständen nicht zu haben, meint ein anderer am Rande eines entsprechenden Symposiums im Parlament.
Was ist von der Republik zu haben, vier Jahre nachdem sich der Nationalrat überraschend dazu durchgerungen hat, die Ehre der Opfer der NS-Militärjustiz in aller Öffentlichkeit einmal wiederherzustellen? Was ist der Staat 2004 jenen bereit zu geben, die der Armee des nationalsozialistischen Regimes, vereidigt auf den Führer höchstpersönlich, die Gefolgschaft aufgekündigt haben? Was werden jene Deserteure und Wehrkraftzersetzer hören, welche die erbarmungslose Verfolgung aller militärischen, polizeilichen, juristischen und zivilen Gliederungen des nationalsozialistischen Apparates und der Volksgemeinschaft überlebt haben? Dass sie zu Recht in den Lagern waren, wie es der amtierende Sozialminister einmal nahe gelegt hat? Was werden die Angehörigen geköpfter Kriegsdienstverweigerer und erschossener Deserteure erfahren? Dass Desertieren aus der Wehrmacht wirklich nicht schick und o.k. war, wie der freiheitliche Abgeordnete Bauer meinte. Was wird die Öffentlichkeit erfahren? „Wir wollen die Desertion moralisch nicht höher stellen, als die Ableistung der Dienstpflicht, der sich die meisten Soldaten gestellt haben, weil sie es für ihre Pflicht hielten, für ihr Vaterland zu kämpfen“, wie der ÖVP-Abgeordnete Kukacka zum Besten gab? Nichts von all dem — das wurde schon oft genug gesagt und es sitzt. Die Deserteure werden stattdessen vermutlich einen milden Brief des freiheitlichen Justizministers erhalten mit dem Hinweis, dass sie schon 1946 amnestiert, also begnadigt worden sind. Sie haben sozusagen noch einmal Glück gehabt. Es ist Gnade vor Recht ergangen.
Optimisten ließ der Nationalratsbeschluss von 1999 glauben, die Republik werde sich tatsächlich einmal offen zu ihrer eigenen Grundlage bekennen, nämlich der militärischen Niederlage der Nazi-Armee und damit zu jenen, die sie offensichdich verachtet, bekämpft oder zumindest geschwächt haben. Dieser treuselige Glauben scheint einmal mehr enttäuscht zu werden. Es war offensichtlich falsch, darauf zu setzen, dass ein Staat, der gewisse Züge des Nationalsozialismus noch Jahrzehnte nach dem Untergang des Dritten Reiches nicht abstreifen und deshalb kein gutes Wort über Deserteure verlieren konnte, sich zur Rehabilitierung der Tapferen hinreißen lässt. Der Nationalrat ist wohl fähig, die Schandtaten des Nationalsozialismus alljährlich rituell zu bedauern, die Opfer zu bemideiden und in jüngster Zeit auch mit barer Münze teilweise zu entschädigen, nicht aber, aufrichtig und konkret jenen zu danken, die in einem Herzen der Bestie, den militärischen Formationen mit fast 1,3 Millionen Österreichern, den Spieß umgedreht, die Maschinerie sabotiert, mit dem Feind kollaboriert, die Wehrmacht verraten oder einfach verlassen haben, um ihr ganz persönliches Wohlergehen über jenes der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu stellen.
Es ist wohl letzteres Motiv, das eine pauschale Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure per einfachem Gesetzesbeschluss bisher verhindert hat. Es habe eben Deserteure gegeben, heißt es immer, wenn auf diese simple und klare Möglichkeit hingewiesen wird, die der Wehrmacht und ihrem Angriffskrieg aus ganz eigennützigen Gründen ade gesagt haben — ohne politisches, religiöses oder sonst wie ehrenwertes Motiv. Sie haben nur gegen Adolf Hitlers oberste Regel für die Volksgenossen verstoßen, und das wird ihnen bis heute übel genommen: „Wir wollen nichts sein für uns, sondern nur für unser Volk. Wir wollen nichts erringen für uns, sondern alles nur für Deutschland, denn wir sind vergänglich, aber Deutschland muss ewig leben.“ Die Weigerung des Nationalrates, die Wehrmachtsdeserteure per Gesetz unmissverständlich, pauschal und ohne wenn und aber zu rehabilitieren und damit offen zu signalisieren, dass sie richtig gehandelt haben, zeigt, wie gut Adolf Hitlers Losung in der postnazistischen Gesellschaft angekommen ist.
Fortsetzung der Verfolgung mit anderen Mitteln
Mit der Wiederentdeckung des Amnestiegesetzes ist den Juristen ein geradezu idealtypisch postnazistischer Coup gelungen. Sie paßt zu der vorherrschenden Tendenz, die Rehabilitierung der Deserteure nicht als zu leistenden Rechtsakt zu sehen, der ein Stück republikanische Normalität herstellen würde, sondern als Gnadenakt, den man den alten Männern vor ihrem Tod noch möglicherweise gewillt ist, zuzugestehen. Diese „Lösung“ des Problems ist bezeichnend für die irre Selbstgefälligkeit einer Republik, die sich von Anfang an als unschuldiges Opfer der Nationalsozialisten dargestellt, ja gefeiert hat und zugleich nicht mit den Nationalsozialisten brechen konnte, weil sie in einer kurzen Phase der Abrechnung gewahr wurde, wie viele von ihnen in Mitten der Gesellschaft hausten. Die darauf einsetzende Versöhnung musste dazu führen, dass als Heimkehrer jene bezeichnet wurden, die aus der Kriegsgefangenschaft endassen wurden und nicht jene, die den Lagern der Vemichtungsmaschinerie entkommen waren oder aus dem Exil kamen; dass Kriegsopfer nicht jene waren, die von der Militärmaschine des Dritten Reiches im Angriffs- und Vernichtungskrieg getötet worden sind, sondern durch den Befreiungskrieg der Alliierten starben; dass Helden nicht jene genannt wurden, die unter der Übermacht der Volksgemeinschaft sich gegen den Nationalsozialismus stellten und ihm die Gefolgschaft versagten, sondern jene, die bis zum letzten Atemzug für die Barbarei weiterzukämpfen gewillt waren.
Wer also im Nachkriegs-Österreich als Deserteur bekannt war, musste sich auf eine Fortsetzung der Verfolgung mit anderen Mitteln einstellen. Die Niedertracht, dass von den nationalsozialistischen Militärbehörden Verfolgte und in Konzentrationslager deportierte Bürger der zweiten Republik bis heute nicht mit Pensionsersatzzeiten für die Monate und Jahre ihres Leidens rechnen können, ist ein Mosaikstein nationalsozialistischer Kontinuität. Ein anderer ist die überdurchschnittlich hohe Ablehnung von Anträgen auf Opferfürsorge nach Verfolgung wegen militärischer Delikte. Ein weiterer ist die fortwährende Beschimpfung als Verräter, was allen, die den Verrat als gute Tat gegen den Nationalsozialismus beurteilen können, als Verhöhnung vorkommen muss.
Geehrt werden jährlich die Soldaten der Wehrmacht, begnadigt also nun die Deserteure. Wen wundert es, dass sich etliche von ihnen mit Grausen abwenden, wenn sie mit den aktuellen Entwicklungen in der Causa konfrontiert werden. Wer will sich dauernd rechtfertigen müssen — zumal gegenüber jenen, die mit Blindheit geschlagen sind. Es blieb dem ÖVP-Abgeordneten Fasslabend vorbehalten, das erzwungene Schweigen der Deserteure schulterzuckend als Opportunität zu bezeichnen. Die Frage nach dem Zustand einer Gesellschaft, in der das Schweigen über eine Desertion aus der Hitler-Wehrmacht überhaupt als Opportunität noch gelten kann, ist diesem Denken ganz verstellt.
Die Juristerei, die Böhmdorfers Beamte sich nicht schämen durchzuführen, kommt einem gehörigen demokratischen Infantilismus gleich. Was 1946 schlecht, unbeabsichtigt und unbemerkt gemacht und sodann vergessen wurde, wird 2004 nicht besser gemacht, absichtlich hochgehalten und als bemerkenswerter Fund bezeichnet. Das Vorgehen des Justizministeriums verleugnet die Tatsache, dass die demokratische Republik nur entstehen konnte, weil die Nazi-Wehrmacht von den Alliierten niedergekämpft wurde — unter wenn auch zahlenmäßig geringer Beteiligung von Überläufern, Deserteuren und Fahnenflüchtigen. Ihnen ist gegen die Mehrheit Recht zu geben. Wer das verweigert, betreibt selbst Fahnenflucht auf höchstem Niveau.
Die Identifikation mit der Deutschen Wehrmacht scheint ungebrochen. Anders kann der nun schon Jahre dauernde Eiertanz um die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure nicht gedeutet werden. Jenseits von halbherzigen Bekenntnissen zur Verantwortung für die Nazi-Gräuel steht die Republik offenbar mit beiden Beinen im Marschgewand des Dritten Reiches. Darüber hat uns das Justizministerium und der Nationalrat im Jahr 2003 neuerlich aufgeklärt.