Heft 4-5/2004
Juni
2004

Versöhnung auf Sudetendeutsch

Wie um zu zeigen, die VertreterInnen der Sudetendeutschen Landsmannschaft Österreichs (SLÖ) seien alles andere als Ewiggestrige, die die Sprache der Jugend nicht sprächen, ließen diese Ende 2003 mit folgender Presseaussendung aufhorchen: „Nach JA der Tschechen zur EU - An alle Bürger der EU. Warnung: Computervirus in der Gemeinschaft (...) Mit dem Beitritt der Tschechischen Republik wird das Virus Vertreibung und Völkermord in das Netzwerk der EU eingespeist. Leider hat die EU, auf das vom Europaparlament geforderte Antivirusprogramm“Aufhebung der Vertreibungsdekrete„, bei der Abstimmung im EU- Parlament gegen die Stimmen der Bayerischen CSU-EU-Abgeordneten und einigen weiteren Gegenstimmen und Enthaltungen, verzichtet. So wird die Tschechische Republik, deren Grundlagen Geschichtslügen, sowie die Vertreibung und der Völkermord an über drei Millionen Sudetendeutschen und Ungarn sind, 2004 in die EU aufgenommen und damit auch das Virus Vertreibung. (...) Jeder Staat auf der Welt, der Minderheiten los werden will und eine sogenannte“Ethnische Säuberung„plant, kann sich auf das Beispiel Tschechische Republik berufen, die trotz dieses unverjährbaren Völkermordes in die“Rechts- und Wertegemeinschaft EU„aufgenommen werden soll. Das Computervirus Vertreibung und Völkermord ist damit am 09.04.2003 in das EU-Internet eingespeist worden, seine Adresse sollte lauten: www.Tschechische-Republik - Völkermord-Spezialist.CR“ [1]

Dieser sowohl infame als auch infantile Anwurf fasst die Wahnvorstellungen der SLÖ zur Osterweiterung allgemein und zur Tschechischen Republik im speziellen zusammen. Aber hinter der Hetze steckt auch taktisches Interesse: Die EU wird als „Wertegemeinschaft“ gesehen, mittels derer man versucht, der als skandalös empfundenen Nachkriegsordnung zum eigenen Vorteil den Rest zu geben. Dabei wird auf Hilfe der Staaten Deutschland und Österreich (das mit der Regierungsbeteiligung der FPÖ, zu deren traditionellem Klientel die SLÖ zählen, eine ausgezeichnete Plattform bildet) zwar zurückgegriffen, aber die verwandelte politische Landschaft ermöglicht es den Vertriebenenverbänden, eigenständiger zu handeln als noch zu Zeiten des Kalten Krieges, wie Samuel Salzborn analysiert: „Während die Vertriebenenverbände vor dem Ende der Systemkonfrontation in der Hoffnung auf Realisierung des von ihnen eingeforderten“Rechtes auf die Heimat„stets auf die Bundesrepublik als sie vertretenden Anwalt setzen mussten, entstand durch die Transformationen des osteuropäischen Politik-, Rechts- und Wirtschaftssystems die Chance auf eine aktive Außenpolitik, die zwar noch auf den diplomatischen Schutz durch die Bundesrepublik, jedoch nicht mehr zwanghaft auf ihre konkrete außenpolitische Aktivität im Sinne der Vertriebenenverbände in den betreffenden Staaten angewiesen war.“ [2] Da aber die Versuche der VertriebenenlobbyistInnen, den Beitritt der ČR von der Aufhebung der Beneš-Dekrete abhängig zu machen, scheiterten, wird nunmehr versucht, über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Aufhebung der Dekrete bzw. Wiedergutmachungszahlungen und Restitution von Gütern anzustreben.

Federführend bei dieser Beschwerde sind der Witikobund, eine Vereinigung die man, nachdem sie 1949 von ehemaligen sudetendeutschen Funktionären des Nationalsozialismus aller Ränge gegründet worden war, als Kaderorganisation der SL bezeichnen könnte, und eine Sudetendeutsche Initiative.

Zwischen dem Witikobund und den SL gab es im Vorfeld Meinungsverschiedenheiten, da diese dem Vorsitzenden des Witikobundes, Horst Rudolf Übelacker, zu versöhnlerisch vorgingen und er 2002 klagte: „Die Spitzenvertreter [der SL, F.R.] in München, allesamt CSU-Mitglieder, sind offen auf Verzichtkurs gegangen, allen voran Bernd Posselt, MdEP. Nach mehreren Anläufen der Aufweichung von Positionen, wofür er in der SL-Bundesversammlung (Exil-Parlament) nachdrücklich gerügt wurde und sich entschuldigte, brachen die Dämme bei ihm in Prag. Dort erklärte er – wie bekannt – am 24. März 2002 in einem FS-Live-Interview, was er (nicht etwa er persönlich, sondern als SL-Bundesvorsitzender!) verlange: ‚Nichts!’“ [3]

Schuld und Abwehr

Mittlerweile scheint man sich aber geeinigt zu haben, denn im Juni 2003 berichtet die SLÖ von einer Strategietagung zur kommenden EU-Osterweiterung, was sie sich unter Versöhnung vorstellt: „In Arbeitskreisen wurden besonders historische, rechtliche und wirtschaftliche Fragen ausführlich diskutiert. Einigkeit herrschte darüber, daß sich durch die geänderten Verhältnisse die Aussichten auf die Durchsetzung der gerechtfertigten Ansprüche verbessern werden. Gerade die Anwendung der europäischen Rechts- und Werteordnung wird die Tschechische Republik zu einem Umdenken gegenüber den Sudetendeutschen bewegen. (...) Innerstaatlich [innerhalb der ČR, F.R.] sollte damit eine Aufarbeitungs-Offensive über die dunkle Vergangenheit folgen, um das kommunistische und chauvinistische Geschichtsbild des Großteils der tschechischen Bevölkerung zur Wahrhaftigkeit hinzuführen. Das ist die beste Grundlage für eine Versöhnung.“ [4]

Aus diesem Ansinnen ist ersichtlich, dass die Restitutionszahlungen nur einen Teil der Ziele der SL darstellen, und dass ihr Unterfangen auf mehr abzielt als auf Ländereien im Osten, nämlich auf eine Uminterpretation der Geschichte, durch die jede historische Unterscheidungsmöglichkeit verschwimmen und der Unterschied zwischen TäterInnen und Opfern im Getöse des Rufs „Wir sind doch alle Opfer“ untergehen soll. Wird der Beschwerde stattgegeben, so würde das eine geschichtspolitische Zäsur darstellen, die die Sichtweise der SL europaweit rechtlich und so quasi objektiv bestätigen würde.

Für diese Neuinterpretation der europäischen Geschichte geht die SLÖ neuerdings strategische Koalitionen mit anderen Organisationen ein, die ähnliche Ziele haben, wie mit dem Weltbund der Ungarn, einer Vereinigung, die das Rad der Geschichte noch weiter zurückdrehen will und eine Revision des Vertrags von Trianon fordert und die völkische Parzellierung Europas vorantreiben will.

Der Schutt der antifaschistische Nachkriegsordnung von Potsdam soll weggeräumt und dabei unter der Hand die Rolle der Sudetendeutschen von begeisterten VolksgenossInnen im „Mustergau Sudetenland“ in Opfer umgelogen werden. Das Bedürfnis, sich nur als Opfer darzustellen, hat bei den Sudetendeutschen schon eine lange Tradition. Auch der Turnlehrer, Führer der Sudetendeutschen Partei und Gauleiter des Sudetenlandes Konrad Henlein, der Anfang 1945 noch Liberec mit dem Volksturm verteidigen wollte, sah sich im Mai als Opfer, wie ein Augenzeuge berichtet: „(...) nun brach ein Strom bitterster Anschuldigungen aus seinem Mund. (...) ´Ich habe das alles nie gewollt, sie haben mich getäuscht, sie haben mich erst belogen, dann haben sie mich entmachtet, sie haben meinen Namen missbraucht.´“ [5]

Diese schon wahnhaft zu nennende Weigerung, für die eigenen Taten die Verantwortung zu übernehmen, findet man auch noch heute. So ist auf der Homepage der SLÖ folgende „Erklärung“ für die Vertreibung der Sudetendeutschen zu finden: „Für unsere Vertreibung gab es zwei Hauptgründe: Das Verlangen der Nationalisten in der Tschechoslowakei, einen tschechoslowakischen Nationalstaat zu schaffen, und die Absicht Stalins, Millionen ausgeraubte Ost-, Südost-, Sudetendeutsche und Altösterreicher in den Rest von Deutschland und nach Österreich zu pferchen, um dort ein soziales Chaos zu schaffen, das die Vorstufe zu einer kommunistischen Machtergreifung sein sollte.“ [6] Kein Wort von der treibenden Rolle der Sudetendeutschen Partei, die sich breiteste Unterstützung der Sudetendeutschen erfreute, bei der Zerschlagung der ČSR, oder von der breiten Unterstützung in der Bevölkerung für die Massaker der Nazis. So berichtete der Regierungspräsident von Aussig (Ustí nad Labem) über die Stimmung der Sudetendeutschen angesichts der Auslöschung der Dörfer Lidice und Ležáky, deren Bevölkerung Verbindungen zum Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor und Gastgeber der Wannseekonferenz Reinhard Heydrich nachgesagt wurden: „Die deutsche Bevölkerung hat sich an der Mitfahndung nach den Tätern nicht nur sehr rege beteiligt, sie hat nicht nur die scharfen Maßnahmen der deutschen Staatsführung einheitlich als gut und richtig angesehen, sondern sie hat ganz allgemein die konsequente Verfolgung der reichsfeindlichen Elemente im Protektorat mit wahrer Genugtuung aufgenommen. [kursiv i. O., F.R.]“ [7]

Józef, Jakub und die Terroristen
Bruno Schulz, 1937

Überhaupt wird die Geschichte des Nationalsozialismus und dessen Opfer, die im gesamten Tschechischen Gebiet auf ca. 260.000 geschätzt werden, von den SL nur sehr selektiv wahrgenommen. Das wiederum ist in Österreich, das immer noch vom Mythos des ersten Opfers des Nationalsozialismus zehrt, nichts Neues, deshalb stoßen die SL in weiten Bevölkerungsschichten auch auf Verständnis, teilen sie doch psychologische Mechanismen der Abwehr, die Theodor W. Adorno in der Studie „Schuld und Abwehr“ analysierte. Den Kern des Abwehrmechanismus beschreibt Adorno so: „Wenn die Wahrheit oder zumindest Elemente der Wahrheit von den Abwehrmechanismen verarbeitet werden, vollzieht sich durchweg eine Verschiebung. Man verkehrt die eigene Schuld in die der anderen, indem man Fehler, welche diese begangen haben oder begangen haben sollen, zur Ursache dessen erklärt, was man selbst getan hat. Dieser Mechanismus hat aber eine wohlbekannte psychologische Seite: die der Projektion.“ [8] Diese Projektion ist aber immer ambivalent, sie pendelt immer zwischen purer, wahnhafter Projektion und dem bewussten Versuch, sich die eigene Geschichte schön zu lügen: „Der Projektionsmechanismus ist wesentlich mit Rationalisierung verbunden, und es fällt angesichts der Virtuosität des Rationalisierens oft überaus schwer, eine Grenze zu ziehen zwischen dem zweckmäßigen Versuch, durch Aufmachung eines Schuldkontos für den Partner sich selbst zu entlasten, und der unbewussten und zwanghaften Übertragung eigener Neigungen und Triebtendenzen auf andere, denen man daraus Vorwürfe macht.“ [9] So wird der selbst betriebene Massenmord an Juden und Jüdinnen auf die TschechInnen projiziert: „Das tschechische Volk war zwar, und das beweisen Mordaufrufe und die exakt formulierten Beneš-Dekrete, das habgierigste und brutalste aller Völker, die das Kriegsende 1944/45 dazu nützten, sich ihrer jahrhundertelangen Mitbürger durch“Säuberung„zu entledigen.“ [10] Auch im Gründungsdokument der Vertriebenenverbände, der sogenannten „Charta der Heimatvertriebenen“, findet sich folgende nur auf den ersten Blick kryptische Stelle: „Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden. [sic]“ [11] Nicht Juden und Jüdinnen sollen also erstes Ziel der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gewesen sein, sondern die Vertriebenen phantasieren sich selber in die Rolle des Opfers hinein.

Aus der Perspektive des Opfers heraus kann die SLÖ auch trefflich das Weltgeschehen kommentieren, alte Freunde und Feinde wiederentdeckend: „Die unfaire Politik der USA ändert sich nicht. Unter Ausschaltung der betroffenen vertriebenen Palästinenser, hat Präsident Bush mit Israel-Premier Ariel Sharon Pläne des Landraubes beschlossen. Die Paralelle [sic] läßt sich zur sudetendeutschen Tragödie ziehen: 1918 besetzte tschechisches Militär gesetzwidrig die deutschen Gebiete Böhmens und Mährens. (...) Dann die Potsdamer Konferenz Anfangs August 1945: US-Präsident Harry S. Truman nimmt die Vertreibung von bereits 700.000 Sudetendeutschen als Realität zur Kenntnis – sie soll nur“human„ablaufen. Bis heute setzt sich die völkerrechtswidrige US-Politik fort!“ [12] Überhaupt hegt die SLÖ große Sympathien für die palästinensische Sache, gibt es doch neben der gemeinsamen Vergangenheit der Kollaboration mit dem Nationalsozialismus auch andere Überschneidungen: Der Kampf gegen einen als „unnatürlich“ gebrandmarkten Staat und das völkische Verständnis von Heimat, das sich hauptsächlich um die Kategorien Blut und Boden dreht.

Edvard Beneš se zasloužil o stát!

Auf tschechischer Seite reagiert man angesichts solcher Wahngebilde mit gekonnten Sticheleien. So lehnte der tschechische Senatspräsident Petr Pithart eine Verleihung eines europäischen Preises durch Edmund Stoiber ab, da dessen CSU bei der Abstimmung über den EU-Beitritt der ČR zu den Scharfmachern gehört hatte. Und im Frühling wurde ein von den KommunistInnen eingebrachtes Gesetz verabschiedet, das nur aus dem Satz „Edvard Beneš hat sich um den Staat verdient gemacht“ besteht. Die SL schäumen heute noch vor Wut und geißeln Beneš als „Vertreiberpräsident“, der „für seinen hochverräterischen Beitrag zur Zerschlagung des Habsburgischen Vielvölkerstaates (1918/1919) und offenbar auch für den Völkermord an den Sudetendeutschen und seine Auslieferung der CSR an die kommunistische Hemisphäre erst im April des Jahres 2004 per Gesetz mit“ einem „´Lorbeerkranz´“ [13] ausgezeichnet werde.

Insgesamt aber sieht die Situation für die ČR nicht gerade rosig aus, denn sollte die von Sudetendeutschen eingebrachte Beschwerde Erfolg haben, würde das neben den finanziellen Einbußen auch das deutsch-österreichische Unterfangen einer Neuinterpretation der Geschichte, die im Nationalsozialismus nur Opfer, aber keine TäterInnen kennt, einen gewaltigen Schritt vorwärtsbringen und einer Sichtweise einen Präzedenzfall liefern, die die SLÖ so ausdrückt: „Mit Politikern, die 60 Jahre nach einem Krieg noch in Kategorien von Siegern und Besiegten denken, die alle Feindbilder in die Zukunft unseres vereinigten Europas hineinprojizieren wollen, wird unserer Wertegemeinschaft noch großer Schaden zugefügt werden.“ [14] Erst wenn diese letzten Kränkungen beseitigt sind, die an den Nationalsozialismus, dessen Niederlage, und dessen (Sudeten)deutsche Täter und Täterinnen gemahnen, könnte man sich ungestört an die Neuordnung der „Wertegemeinschaft Europa“ machen.

[2Samuel Salzborn: Heimatrecht und Volkstumskampf. Außenpolitische Konzepte der Vertriebenenverbände und ihre praktische Umsetzung, Hannover 2001, S. 12.

[5Volker Zimmermann: Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung in der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (1938-1945), Essen 1999, S. 453.

[7Zimmermann, a.a.O., S. 332

[8Theodor W. Adorno: Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment, in: Ders.: Soziologische Schriften II, GS 9.2, Frankfurt a. M. 1997, S. 232.

[9Ebd., S. 233

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