Streifzüge, Heft 84
Juli
2022

Versprechen, Verstellen, Verwechseln

Tauschen wie Täuschen gehen etymologisch zurück auf das mittelhochdeutsche tuschen bzw. tiuschen, was meint: „unwahr reden“, „lügnerisch versichern“. In seiner heutigen Bedeutung ist es erstmals im 15. Jahrhundert bezeugt. Tauschen wie Täuschen meint: Jenes soll für dieses stehen. Dieses soll gleich jenem gelten. Wenn jenes und dieses verschieden und doch gleich sind, dann sind tauschen und täuschen wirklich eins. Um Sachen tauschen zu können, müssen wir uns in den Dingen täuschen. Es gilt etwas für etwas anderes zu halten. Das Formprinzip des Marktes setzt auf Identität, wo keine ist. Duo cum faciunt idem, non est idem. Tauschen resp. Täuschen beschreibt die Identität des Nichtidentischen. Im Geld kommt das dann in aller Kenntlichkeit zu sich. Alles Nichtidentische ist an diesem identisch. Alles kann in allem, vor allem aber kann alles in und durch Geld ausgedrückt werden. Geld macht alles flüssig. Es ist die Gallerte, in der alle Waren schwimmen.

Jedes Tauschen ist ein Vertauschen. Karl Marx hat diesen Punkt bereits in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten angesprochen: „Da das Geld als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes alle Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten.“ (Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW, Ergänzungsband 1, S. 566.) Um tauschen zu können, täuscht man Gleichheiten vor, die auf stofflicher Ebene blanker Unsinn sind. 4 Tonnen Weizen sind nicht 240 Paar Schuhe oder 19 Computeranlagen. Ihre diskrete Eigenheit wird ihnen im indiskreten Tausch entzogen. In der Abrechnung werden sie auf der Skala des Werts gleichgemacht: „Jede Ware ist der andren gleich (oder vergleichbar) als Tauschwert (qualitativ: jede repräsentiert nur noch ein quantitatives Plus oder Minus des Tauschwerts).“ So Marx in den Grundrissen. (MEW Bd 42, S, 85) Oder Guy Debord: „Die Warenform ist durch und durch die Mitsichselbstgleichheit, die Kategorie des Quantitativen. Das Quantitative ist es, das sie entwickelt, und nur in ihm kann sie sich entwickeln.“ (Die Gesellschaft des Spektakels (1967), Berlin 1996, § 38, S. 32)

Der Gebrauchswert ist hier bloß noch Mittel zum Zweck des Tauschwerts. Jeder Inhalt ist der Form ganz untergeordnet, ja er tritt nicht nur hinter sie zurück, er ist in ihr gefangen, ist ein Momentum dieser Welt. Produkte werden dekonturiert, entselbstet: „Was aber in dem Realisieren des Zwecks an sich geschieht, ist, dass die einseitige Subjektivität und der Schein der gegen sie vorhandenen objektiven Selbständigkeit aufgehoben wird. In Ergreifung des Mittels setzt sich der Begriff als das an sich seiende Wesen des Objekts; in dem mechanischen und chemischen Prozesse hat sich die Selbständigkeit des Objekts schon an sich verflüchtigt, und in ihrem Verlaufe unter der Herrschaft des Zwecks hebt sich der Schein jener Selbständigkeit, das Negative gegen den Begriff, auf. Dass aber der ausgeführte Zweck nur als Mittel und Material bestimmt ist, darin ist dies Objekt sogleich schon als ein an sich nichtiges, nur ideelles gesetzt. Hiermit ist auch der Gegensatz von Inhalt und Form verschwunden. Indem der Zweck durch Aufhebung der Formbestimmungen sich mit sich selbst zusammenschließt, ist die Form als identisch mit sich, hiermit als Inhalt gesetzt, so dass der Begriff als die Formtätigkeit nur sich zum Inhalt hat. Es ist also durch diesen Prozess überhaupt das gesetzt, was der Begriff des Zwecks war, die an sich seiende Einheit des Subjektiven und Objektiven nun als für sich seiend, die Idee.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse I (1830), Werke 8, Frankfurt am Main 1986, S. 366–367)

So weit Hegel im § 212 seiner Enzyklopädie. Und im Zusatz dazu lesen wir: „Die Vollführung des unendlichen Zwecks ist so nur, die Täuschung aufzuheben, als ob er noch nicht vollführt sei. Das Gute, das absolut Gute, vollbringt sich ewig in der Welt, und das Resultat ist, dass es schon an und für sich vollbracht ist und nicht erst auf uns zu warten braucht. Diese Täuschung ist es, in der wir leben, und zugleich ist dieselbe allein das Betätigende, worauf das Interesse in der Welt beruht. Die Idee in ihrem Prozess macht sich selbst jene Täuschung, setzt ein Anderes sich gegenüber, und ihr Tun besteht darin, diese Täuschung aufzuheben. Nur aus diesem Irrtum geht die Wahrheit hervor, und hierin liegt die Versöhnung mit dem Irrtum und mit der Endlichkeit. Das Anderssein oder der Irrtum, als aufgehoben, ist selbst ein notwendiges Moment der Wahrheit, welche nur ist, indem sie sich zu ihrem eigenen Resultat macht.“ (Ebenda, S. 367)

Qualität als Quantität

Tausch bedeutet, dass jede Qualität als Quantität zu begreifen, zu beziffern und auf dieser Grundlage auch zu erwerben ist. Jede Rechnung beweist dieses und bürgt dafür. Täglich werden wir damit konfrontiert: Links steht der Gebrauchswert (Menge, Titel, Marke), rechts der Tauschwert, charakterisiert durch eine Zahl mit Komma, die den genauen Preis ausweist. Rechts unten sind die einzelnen Posten dann zusammengezählt. Die Rede ist vom Kassenbon. Die entsprechende Summe ist jedenfalls zu entäußern, um in den Besitz der Lebensmittel zu gelangen. Die Rechnung ist nicht bloß eine Bestätigung, sie ist ein Zeugnis, das dem Käufer Rechenschaft über seinen Einkauf gibt, wodurch er die finanzielle Zweckmäßigkeit seines Tauschhandels überprüfen kann. Jede Rechnung ist eine Abstraktionsleistung. Das heißt: ich abstrahiere vom konkreten Objekt (Qualität) und beziehe mich auf den Tauschwert oder Preis (Quantität), der jenen Gebrauchswert ausdrücken soll. Jede besondere Qualität stellt sich dar als eine spezifische Quantität desselben. Diese Abstraktifizierung, die haben wir intus. Wir sind berechnende Wesen.

Berechnende Wesen sind wir, weil wir Käufer und Verkäufer der Waren sind. Durch den Tausch wird jedes Gut indiskret. Um sich zu verkaufen, ist Indiskretion nicht nur erlaubt, sondern geboten. Das Interesse ist stets ein Geschäftsinteresse, die Ware muss sich im Verkauf realisieren, denn nur so kann sie sich verwerten. Was sie als Gebrauchswert ist, was sie kann, das ist alles sekundär, vorrangig geht es um den Deal, der abgeschlossen werden soll. Die Ware muss sich herrichten, präsentieren nicht als das, was sie ist, sondern als das, was gekauft werden soll. Ein nicht kommodifiziertes Produkt würde in seiner Verteilung ganz anderen Kriterien gehorchen: Seine Stärken und Schwächen (soweit bekannt) benennen, keine falschen Hoffnungen erwecken, nicht mit irgendeinem Preis locken und keineswegs durch irgendeinen Kniff sich aufdrängen. Nicht die Zahl des Absatzes triebe die Produzenten und Händler, sondern ausschließlich der bekömmliche Konsum der zu versorgenden Menschen. Es ginge um Wohl und Wirkung, nicht um Verkaufszahlen. Sich anzubieten, würde sich verbieten. Solch ein Gut würde sich nicht in Reklame versetzen, sondern lediglich über sich Auskunft geben. Es stünde auch nicht gleich einer Ware unter dem permanenten Druck der Entäußerung. Kein Diktat des Absatzes würde es beeinträchtigen. Wo es kein Geschäft zu erledigen gibt, folgt auch kein kommerzieller Ausschluss.

Tausch als Täuschung beherbergt unterschiedliche Aspekte. Einmal meint die Gleichsetzung, wie beschrieben, Täuschung durch die Abstraktion im Tausch. Ein andermal meint sie aber auch die Vortäuschung eines bestimmten Gebrauchswertes durch leibhaftige Werbung. „Der Gebrauchswert, der im Tauschwert implizit mit inbegriffen war, muss jetzt in der verkehrten Realität des Spektakels explizit verkündet werden, und zwar gerade weil seine Wirklichkeit durch die überentwickelte Warenwirtschaft zersetzt wird und weil eine Pseudorechtfertigung zum falschen Leben nötig wird“, schreibt Guy Debord. (Die Gesellschaft des Spektakels (1967), § 48, S. 39) Täuschung ist also das, was die Ware prägt. Das profane Ding ist voll phantastischer Mucken: „Jeder sieht, was du scheinst, und nur wenige fühlen, was du bist.“(Niccolò Machiavelli, Der Fürst (1532), XVIII. Kapitel, Stuttgart 1978, S. 74) Wir selbst, die Monaden des Markts, sind „geborene“ Täuscher. Was wir loswerden und anbringen wollen, wollen wir möglichst teuer bewerten, was wir kriegen und übernehmen wollen, wollen wir möglichst billig erstehen. „Ich weiß, sie nennen den Esel ein Pferd, wenn sie ihn verkaufen, und das Pferd einen Esel, wenn sie es einkaufen wollen“, heißt es in Brechts „Leben des Galilei“. (Bertolt Brecht, Leben des Galilei (1938/39), Gesammelte Werke 3, Frankfurt am Main 1967, S. 1256) Bürgerliches Leben könnte man beschreiben als die Matrix der Täuscher im Tausch. Diese Wesensart ist uns zweite Haut, erscheint uns biologisch vorgegeben, nicht gesellschaftlich gemacht. Wir sind so. Wir können nicht anders.

Vorstellen als Verstellen

Objektiv realisiert sich der Wert durch die Konkurrenz, subjektiv jedoch versuchen wir an seinen Schranken je nach Position nach oben oder unten zu lizitieren. Beim Feilschen geht es stets darum, wer besser blufft, also täuscht. Beim Aushandeln von Preisen geben wir zu, dass diese nicht fix sind, sondern letztlich erst im Prozess fixiert werden und auch dann nur einen kurzen Moment gelten. Als Agenten der Zirkulation setzen die Marktteilnehmer ihr vermeintliches Gewicht ein, um für sich günstige Preise zu erzielen. Alle wollen diesbezüglich das Gleiche, aber gegeneinander. Ab einer abnormen Abweichung des Preises vom angenommen Wert gerät jeder überzogene Betrag in den Verdacht des Betrugs. Mit dem Preis verbunden ist immer auch eine gewisse Preisgerechtigkeit, die gar nicht zu Unrecht mit dem Wert assoziiert wird. Das entsprechend frequentierte Adjektiv lautet „preiswert“.

Eine Aussage über das Produkt und seine Eigenschaften wäre zu wenig. Es geht nicht bloß um das Sprechen, es geht um das Versprechen, um Animation und Indiskretion, das sind die jeweiligen Aufgaben und Merkmale. Die robuste Wahrheit lautet: Ware trägt Reklame in sich. Waren müssen PR-mäßig ausgerüstet sein und aufgerüstet werden. Der Verkauf folgt einer komplexen Strategie. Zumindest solange es sich bei den Käufern um Konsumenten handelt, nicht um Händler oder Fabrikanten. Der Verkauf erfordert entwickelte psychologische Geschicke. Produktwerbung ist wichtiger als Produktentwicklung oder Produktqualität. Interessanter als die Werbeprospekte wäre allemal die Veröffentlichung der Werbekonzepte. In der offenen Gesellschaft hat alles transparent zu werden, außer das Betriebssystem selbst. Dieses bleibt opak. Am freien Markt regiert das Betriebsgeheimnis.

Was für jeden Gegenstand gilt, gilt erst recht für den Hauptgegenstand, den Menschen. Wie den Objekten, ergeht es auch den Subjekten. Das bürgerliche Exemplar steht unter dem elementaren Zwang, sich in Wert zu setzen, (sich) zu verkaufen, um kaufen zu können. Das bedingt natürlich unzählige und aufdringliche Spielarten der charakterlichen Maskierung, sei es Bluff oder Fassade, Mode oder Marke. Anbieten, Anpreisen, Anmachen sind bürgerliche Formen der Selbstverstellung. Täuschung als Modus der Vermarktung meint Täuschung auf Ebene des Tauschs. Besonders zynisch und demütigend geht es zu beim Verkauf der Ware Arbeitskraft. Die Frage „Wie stelle ich mich richtig vor?“ gibt zu, dass das Vorstellen ein Verstellen bedingt. Das Verstellen, die obligate wie adäquate Maskierung, ist also eine notwendige, unhinterfragte und automatisierte Gedankenleistung des (sich) tauschenden Subjekts.

Der Tauschwert prägt das Wesen der Tauscher als Täuscher: Billig kaufen, teuer verkaufen! Das ökonomische Gebot erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Täuschung im Kapitalismus ist objektiver Zwang, nicht subjektives Manko. Maske ist (Vor-)Täuschung durch Rolle. Das erfassen wir auch, sind also keine Betrogenen. Uns wird nicht nur übel mitgespielt, wir sind die üblen Spieler. Masken wissen von der Täuschung und auch von der Rolle, erkennen aber deren Bedeutung nicht, obwohl sie deren Handhabung verstehen. Die Differenz zwischen Wissen und Erkennen ist für Charaktermasken konstitutiv. Masken tauschen sich aus, ihre Exponenten verkehren als Kommunikatoren dieser. Als Masken sind sie sich täuschend ähnlich, ja fast gleich. Maskiert erfüllen sie die Pflicht an der Position, die die folgsamen und hörigen Subjekte mit sich, d.h. ihrem Menschsein verwechseln. Der Tausch ist allgegenwärtig. Er ist nicht nur ein ökonomisches Prinzip, er ist die Form unserer Begegnung und unseres Umgangs. Zweifellos, wir tauschen uns aus. Wenn wir uns treffen, sind wir austauschfähig und somit austauschbar. Wir sind nicht mehr dieselben, wenn wir den anderen gegenübertreten, aber die Rollen, die wir dann spielen, die spielen wir bis zum Ende. Wenn auch nicht immer überzeugend, so doch überzeugt.

Robert Musil schreibt: „Denn man lügt heute weniger aus Schwäche als aus Überzeugung, dass ein Mann, der das Leben meistert, lügen können muss.“ (Der Mann ohne Eigenschaften I (1930), Reinbek bei Hamburg 1987, S. 594) Dieses Lügen-können-Müssen ist zweifellos eine Bedingung, die bürgerliche Existenz zu meistern, stets geht es darum, Eindrücke dieser Fasson auszutauschen. Es geht um die Schaustellung. „Jede Ware ist nämlich, sofern sie ausgestellt ist und sich anbietet – und nur also solche, nur als Angebot ist sie Ware – bereits ihre eigene Beurteilung; und zwar ihr Eigenlob.“ (Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen I (1956), München 1987, S. 162) Eigenlob stinkt, sagt der Volksmund. Doch gerade diese Selbstbeweihräucherung ist das Um und Auf des Geschäftsvorganges. Die Ware ist zweifellos indiskret, ein verlogen Ding. Sie will einen Preis erzielen und veräußert werden. Diese Verlogenheit haben ihre Besitzer, die Warenhüter, zu gewährleisten. Eine ganze Reklameindustrie ist daher entstanden, sie produziert nichts anderes als die fälligen Beeindruckungen, die in einen Kaufvorgang münden sollen. Alles gilt es zu unternehmen, um Geschäfte in Gang und zum Abschluss zu bringen.

Hörige Schöpfer

Immanuel Kants diesbezügliche Rechtfertigung liest sich auch heute noch mit großem Interesse. In Umschweifen schreibt er: „Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler: sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgendjemand dadurch zu betrügen; weil ein jeder andere, dass es hiemit eben nicht herzlich gemeint sei, dabei einverständigt ist, und es ist auch sehr gut, dass es in der Welt so zugeht. Denn dadurch, dass Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wirklich erweckt, und gehen in die Gesinnung über. – Aber den Betrüger in uns selbst, die Neigung zu betrügen, ist wiederum Rückkehr zum Gehorsam unter das Gesetz der Tugend, und nicht Betrug, sondern schuldlose Täuschung unserer selbst.“ (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht (1798), Werkausgabe, Band XII, Frankfurt am Main 1991, S. 442 f.) Die Vertrautheit der Normalität, die Kant hier preist, hat es in sich. Ihr Zustandekommen hat was von Heim- und Hintertücke. Herzlich ist da wahrlich wirklich nichts. Übersetzt man dieses Erziehungsmodell grauer Pädagogik in einfaches Deutsch, heißt das: Der wechselseitige Betrug unseres Lebens ist eine schuldlose Täuschung, geradewegs unseren Tugenden entsprechend. Das ist auch gut so, daher haben wir Einverständnis zu garantieren, ja Gehorsam zu leisten. – Genauso hat die Regie unsere Rolle auch angelegt. Es handelt sich zweifellos um eine Affirmation gebrochener Integrität.

Die Lenkung dieser Gesellschaft erfolgt implizit durch objektive Bewegungsgesetze des Kapitals, die Ablenkung hingegen ist explizite Aufgabe der Kulturindustrie. Das Personal ist stets nachrangig. Es versucht die Form zu nutzen, ihr entsprechend zu agieren. Dafür empfängt es Lohn und erheischt Status. Ablenkung darf nicht als Manipulation aufgefasst werden. Manipulation hieße ja, dass die Leute eigentlich etwas anderes möchten. Das aber wäre unter gegebenen Umständen eine verwegene Unterstellung. Werbung wirkt nicht, weil die Leute getäuscht werden sollen, sondern weil sie getäuscht werden wollen. Sie sind dieser Imagination regelrecht verfallen, ihr reflexiv nicht gewachsen. Sie erfüllen die Gebote nicht deswegen, weil sie diese als richtig erachten, sondern weil sie beeindruckt sind. Es ist keine Frage der Entscheidung, sondern eine des Vollzugs. Synthese geht vor Analyse. Je schwächer die Reflexion, desto bestimmter die Handlung. Täuschung ist um vieles stärker als Enttäuschung. Zehrt die Täuschung von der fiktionalen Potenz der Träger, so offenbart die Enttäuschung eine faktische Impotenz derselben. Enttäuschung bezeugt Verlust und Verlorenheit. Wer will solche Wirklichkeiten schon wahrhaben? Die Frage, ob man lieber getäuscht oder enttäuscht werden will, erledigt sich praktisch von selbst.

Die Ware mag auch Ding und Sache, Gegenstand und Gut sein –, reduziert man sie darauf, verkennt man den Charakter des spezifischen Produktes aber völlig. Es geht nicht um Besorgen und Versorgen, es geht ums Umsetzen, ums Kaufen und Verkaufen, die Zirkulation ist da die Retorte der gesamten bürgerlichen Gesellschaft. In den Marktspielen muss die Ware fraglos als Attraktion erscheinen, nicht einfach als krude Sache, sie muss beworben und bespielt, also arrangiert werden. Sie muss sich verkünden als unmittelbare Gelegenheit, offenbaren als außergewöhnliches Offert. Stets lockt sie, vornehmlich durch Bilder, die sie von sich zeichnet und durch Signale, die sie sendet. „Insofern sie Imagination, Wünsche, Sensibilität, kurz Subjektivität anregt, gehört Werbung zum künstlerischen Schöpfen. Es handelt sich aber um höriges Schöpfen im Dienste der Ware.“ (André Gorz, Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie, Zürich 2003, S. 56) Die Ware tritt uns gegenüber als eine Erscheinung, sie ist ein konzentriertes gesellschaftliches Verhältnis, das sich uns nicht bloß zeigt, sondern regelrecht aufdrängt. Sie will nicht einfach zu uns, sie will was von uns. Nur dann können wir sie haben. Transparenz ist nicht erforderlich, Stringenz reicht. Es gibt kaum einen dümmeren Satz als den, dass einen Werbung nicht interessiert. Als wäre das eine Frage des Willens. Wir interessieren sie auf jeden Fall, und das wirkt.

Gebrauchswertversprechen

Ein Rasenmäher muss den Rasen mähen können, eine Motorsäge muss Holz schneiden können. Was banal klingt, ist aber keineswegs immer der Fall. Waren werden mitunter schlechter. Die Gefahr, dass man absoluten Ramsch erwirbt, ist stets gegeben. Eventuell treten neue Werkzeuge und Maschinen als mangelhafte Geräte schon in die Welt. Ihre Fehler sind Geburtsfehler. Oft sind solche Erzeugnisse bereits nach den ersten Handhabungen nicht oder kaum noch zu gebrauchen. Altersschwäche ist Zeichen ihrer Jugend. Sie haben keine Zukunft und sie machen keine Freude. Waren werden zusehends vulnerabel. Ihre Fragilität bringt einen nicht selten zum Verzweifeln. Sie halten nicht, was sie versprechen. Tausch, Täuschung und Enttäuschung liegen auch hier eng beieinander.

Jeder Tausch birgt Täuschungen. Vorstellung und Resultat können nie ganz übereinstimmen. Die aktuelle These ist nun aber die, dass Erwartung und Qualität immer deutlicher voneinander abweichen. Systemische Mängel werden durch die Kulturindustrie ausgeglichen und weggezaubert. Wir haben partout zu glauben, was ganz einfach nicht mehr glaubhaft ist. Gebrauchswerte müssen nicht unbedingt funktional sein, sie müssen aber eine bestimmte Funktionalität suggerieren. Daher blüht auch die allseitige Simulation. Die Haltbarkeit der Produkte (oder bestimmter Details) muss tendenziell abnehmen, will die Verwertung nicht leerlaufen. Haltbarkeit ist eine ernsthafte Gegnerin der Wertrealisierung. Waren entwickeln sich primär nicht anhand technischer Kriterien, sondern entlang der Verwertungsschiene. Produkte stehen keineswegs auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, sondern lediglich auf der Höhe ihrer Profite. Da der Wert des einzelnen Produkts tendenziell abnimmt, muss auch der Gebrauchswert einen schleißigeren Charakter aufweisen, will er diesen Fall bremsen.

„Serienprodukte sind zum Sterben geboren“, sagt Günther Anders, ihr „Fälligkeitstermin“ wird gleich mitgeliefert. (Die Antiquiertheit des Menschen. Band II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 38) Man denke etwa an die exemplarischen Erfahrungen im Bereich der vor dreißig Jahren noch aufsteigenden, heute schon als Auslaufmodell fungierenden CD und CD-Player. Vieles, was diese Technologie versprochen hatte, hat sich nicht erfüllt: CDs hüpfen, kratzen und hängen gleich den alten Schallplatten, CD-Hüllen sind nach einigen Jahren bereits Sondermüll, und auch die CD-Geräte selbst haben eine äußerst bescheidene Lebensdauer. Kinderfest sind sie sowieso nicht. Schnell geht etwas kaputt. Moderne Produkte werden auf ihr Ablaufdatum hin produziert. Man ärgert sich, aber man kauft nach, um sich in den Konventionen zu bewegen. Neuanschaffung ist billiger als Reparatur. Obsoleszenz wird und ist obligat, da mögen auch die gegenteiligen Beteuerungen in puncto Nachhaltigkeit noch so boomen.

Gebrauchswerte, die halten, hält die Marktwirtschaft nicht aus. Sie negieren den Absatz zukünftiger Waren. Was nun aber nicht bedeutet, dass das Gebrauchswertversprechen überhaupt reine Illusion wäre. Keineswegs. Geräte verunglücken nicht an der Technik, sondern am Wert. Sie dürfen und sie sollen nicht, was sie könnten. Man kann daher auch nicht schlichtweg diese oder jene Apparaturen verdammen, man muss aber jede Hardware und Software, deren Verwertung und Verwendung einer radikalen Untersuchung unterziehen, vor allem ob der gesellschaftlichen Bezüge, in denen sie sich bewegen, zu Gebrauch und Nutzung, insbesondere zu Verbrauch und Vernutzung zwingen. Es ist geradezu der Schein der Möglichkeit, der die Kunden nicht zu Unrecht beeindruckt, doch dieser Aspekt hält der Realität nicht stand, die mit ihm anderes anstellt als versprochen.

Was sein soll? Grosso modo soll Produzieren und Akquirieren flott erfolgen, wenig mühselig und aufwendig sein, andererseits sollen die Produkte beständig sein. Aus einer komplizierten Zirkulation soll wieder eine einfache Distribution werden. Produktionszeiten sind zu verkürzen, Konsumtionszeiten zu verlängern! Es ist auch das ökologische Gebot der Stunde: Alles, was wir haben, soll sich langsamer verbrauchen. Das ist freilich ein völlig wirtschaftsfeindliches Credo. Gegenwärtig haben wir die umgekehrte Situation: Je qualifizierter ein Produkt sein könnte, desto mehr disqualifiziert es sich für den und auf dem Markt. Wer braucht schon Tonträger und Abspielgeräte, Glühbirnen und Strümpfe, die halten? Die Wirtschaft doch nicht, die kann sich derlei nicht leisten. Es würde sie ruinieren. Produkte, die nicht umzubringen sind, müssen regelrecht umgebracht werden, da sie ansonsten die Profite ganzer Branchen unterminieren. Der Kapitalismus stellt also Produkte nicht nur falsch her, er stellt auch falsche Produkte her. Seine Potenz ist zerstörerisch, sie verbraucht Arbeit, die man nicht brauchen würde, und sie zeitigt Schäden und Folgen, die man nicht hätte. „Geschäftlich gesehen ist mithin das technische Manko des Veraltetseins, das heute jedem angebotenen und erworbenen Produkt anhängt, kein Manko, sondern, da es ja sogar die Lebensbedingungen der Industrie darstellt, eine Tugend“, so Günther Anders in seiner Rede über die drei Weltkriege 1964 (in: ders., Hiroshima ist überall, München 1982, S. 375).

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