Streifzüge, Heft 38
Oktober
2006
Dead Men Working

Vollbeschäftigtes Irrenhaus

Heuer, im österreichischen Wahljahr, hat die Regierung eine Menge Geld locker gemacht – das AMS-Budget wurde um ein Drittel erhöht –, um die Arbeitslosen noch erfolgreicher aus der Statistik zu entfernen. Gemeinnützige Personalüberlasser sind die neuen Wundertäter. Arbeitslose verwandeln sich in ihren Händen auch ohne Job in Beschäftigte. Für diese reduziert sich jedoch bei neuerlicher Arbeitslosigkeit mitunter die Höhe des Arbeitslosengeldes auf zirka 420 Euro.

Weiblichen Arbeitslosen wurde zuhauf der BILLA-Einberufungsbefehl zugestellt: Frauen wurden wahllos „zwangsrekrutiert“ und erhielten dafür nicht von der Supermarktkette, sondern vom AMS eine geringe Entlohnung.

Beim Forum Alpbach verkündete der alpenländische Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl, das Ziel sei Vollbeschäftigung in zehn Jahren. Wobei ihm das dänische Modell richtungsweisend sei. Demnach sollte es eine höhere, aber kürzere Arbeitslosenunterstützung geben. Nach einer bestimmten Zahl von Ablehnungen angebotener Jobs sollten die Arbeitslosen in den Pflegeberuf umgeschult werden.

Der Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Bartenstein verhieß ganz nonchalant die baldige erfolgreiche Senkung der Arbeitslosenzahl auf unter vier Prozent. Auf jene Zahl, die als Vollbeschäftigung gilt.

Die Mär von den Arbeitslosen, die alle aufgrund ihrer Ungebildetheit arbeitslos wären, wird gebetsmühlenartig wiederholt. Sie dient wohl vor allem dazu, das Bildungsgeschäft anzukurbeln. Also alles angeblich nur eine Frage der Behebung individueller Defizite. Warum es aber jetzt schon so viele arbeitslose AkademikerInnen gibt bzw. solche, die ständig mit der Begründung „überqualifiziert“ abgelehnt werden, erklärt niemand.

Vom Institut für Höhere Studien wird gefordert, die 8000 Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss müssten diesen nachholen, weil sie sonst von Arbeitslosigkeit bedroht wären. Vorbild sei Polen, wo die Arbeitslosigkeit viel höher sei als in Österreich, aber von den Jugendlichen hätten fast alle einen Schulabschluss. – Die Konsequenz, dass also genug Bildung auch nicht vor Arbeitslosigkeit schützt, liegt auf der Hand, will aber nicht gesehen werden.

Jetzt, nach der Nationalratswahl, wartet das Wirtschaftsforschungsinstitut mit einem Weißbuch von 70 Experten auf. Ziel ist die Wiedererreichung der Vollbeschäftigung. Das Werk wurde von den Sozialpartnern in Auftrag gegeben und wird von diesen auch inhaltlich unterstützt. Gemeinsam wollen sie das Wirtschaftswachstum auf über 2,5 Prozent pro Jahr bringen; ab diesem Wert beginne die Arbeitslosigkeit zu sinken. Die kontroversiellen Vorschläge reichen von Flexibilisierung der Arbeitszeit (bis zu 12 Stunden täglich) bis zur Ankurbelung der Hochtechnologie.

Das Zentrum für Soziale Innovation veranstaltete kürzlich eine Aktionswoche. Die Themen waren „Arbeitslosigkeit, Mängel in Bildung und Weiterbildung, technologische Herausforderungen, Gefährdung des sozialen Zusammenhalts (soziales Europa) und Demokratiedefizite, sowie neue Formen der Steuerung von Entscheidungsprozessen (,governance‘ bzw. ein demokratisches Europa)“. Die Kernaussage war die Forderung nach „neuen Verfahren“, „neuen Regeln“, den so genannten „sozialen Innovationen“, die heute notwendig wären. Wichtigstes „Verfahren“ sei die Umverteilung von Reich zu Arm, ein Prozent des Reichtums wäre dafür genug. Ferner müsste mehr „investives Kapital“ bereit gestellt werden.

So weit einige Beispiele, in welcher Weise Hunderte von PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen damit beschäftigt sind, mit dem Problem Arbeitslosigkeit fertig zu werden. All diese Versuche sind gleichermaßen irreal wie zynisch. Dass es nie wieder Vollbeschäftigung geben wird, ist offensichtlich. Dass jemandes Bildungsgrad wenig mit seinen Jobchancen zu tun hat, ist auch klar. Dass Wirtschaftswachstum nicht viel mit weniger Arbeitslosen zu tun hat, ist ebenfalls erkennbar. Aber vielleicht geht es ohnehin lediglich um die Statistik. Aber was besagt diese Statistik? – Dem Ende der klassischen Arbeitsverhältnisse entspricht auch ein Ende der klassischen Arbeitslosigkeit. Das heißt, Arbeitslosigkeit ist nicht mehr die Zeit zwischen zwei „fixen“ Anstellungsverhältnissen, denn die Bereiche Arbeit und Arbeitslosigkeit verschwimmen immer mehr. Geringfügig Beschäftigte, Beschäftigte als „freie Mitarbeiter“, neue Selbständige, also ICH-AGs, alte Freiberufler, befristet Angestellte, und dazwischen immer wieder Zeiten der Arbeitslosigkeit, das ist heute die Norm.

Deshalb sagt die staatliche Arbeitslosenstatistik sehr wenig über die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen aus. Und sie sagt nichts über die working poor aus, die von ihrem Job, ihren McJobs, nicht leben können. Sie sagt ebenfalls nichts darüber aus, wie viele Menschen nicht versichert sind, z. B. weil sie sich keine Krankenversicherung, geschweige denn eine Pensionsversicherung als „prekäre Selbständige“ leisten können.

In der Arbeitslosenstatistik werden nur jene Arbeitslosen gezählt, die beim AMS als Arbeitssuchende gemeldet sind, meist also nur jene, die Anspruch auf einen Bezug haben. All jene, die noch nie ein Jahr lang fix angestellt (also mit Arbeitslosenversicherung) gearbeitet haben – und diese Gruppe wird immer größer –, haben keinen Anspruch. Weiters haben jene keinen Anspruch auf Notstandshilfe, deren Partner „zu viel“ verdient. Viele Arbeitslose scheinen in der Statistik nicht auf, weil sie vom AMS gedrängt werden, einen Pensionsantrag zu stellen oder weil sie im (Dauer-)Krankenstand sind. Und nicht zu vergessen, all jene, die sich den Schikanen seitens des AMS nicht aussetzen wollen und sich deshalb nicht arbeitslos melden. In den etablierten Medien wird zwar auf die in der Statistik fehlenden KursteilnehmerInnen verwiesen, aber über all die anderen, ebenfalls nicht Mitgezählten, verliert niemand ein Wort. Linzer Wirtschaftsuniprofessoren haben bereits 2005 die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen mit mindestens 550.000 beziffert, also weit mehr als das doppelte der offiziellen Zählweise.

Genau betrachtet, müsste die Arbeitslosigkeit aber ohnehin früher oder später „aussterben“. Einerseits, weil die nachkommende Generation kaum mehr Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung haben wird, andererseits, weil die Noch-Bezugsberechtigten mit allen Mitteln aus der Statistik gedrängt werden. Dann hätten wir sie ja bald, die allseits halluzinierte Vollbeschäftigung.

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