Robert Zöchling
Dezember
1990

Vorsatz

Die Ratten verlassen das sinkende Schiff:

Was hier schon deutlich den Bug nach vorne neigt, ist das alte Europa als eine Struktur gebildet aus Staaten vom Typ bürgerlicher Verfassungs- und (mehr/weniger) Nationalstaat. Ein Überbleibsel, als Nachkriegs-Ordnung mühsam rekonstruierte Zwischenkriegs-Ordnung. Was dabei schnell ins Rutschen gerät, ist die Fracht der bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte vom Typ „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789“. Und die Ratten? Nachdem sie noch eine Zeit lang so taten, als ob alles in gewohnter Ordnung wäre, springen sie nun nach und nach ab und schwimmen neuen Ufern entgegen: Brüssel ist sehr begehrt, Schengen ein exclusiver Treffpunkt für Ratten, Straßburg eine Zuflucht für solche mit gutem Willen oder schlechtem Gewissen.

Und die Grund- und Freiheitsrechte?

„Symposien über den weiteren Ausbau der Freiheitsrechte, gelehrte Abhandlungen in Fachzeitschriften und Forderungen nach individuellem Rechtsschutz können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Hoch-Zeit der Menschenrechte — sicherlich nicht nur in Österreich — vorbei sein dürfte“, schreibt Verfassungsrichter Ministerialrat Dr. Peter Jann in der „Presse“ (24./25.11.1990). Und er steht nicht an, gleich eine herzerfrischende Begründung anzuschließen: „Etliche Grundrechte (zum Beispiel das Versammlungsrecht, die Meinungsfreiheit und die Kunstfreiheit) werden immer häufiger in einer so exzessiven Weise in Anspruch genommen, daß viele andere Personen (denen schließlich auch Grundrechte zustehen) dadurch erheblich beeinträchtigt werden. Im Medienzeitalter erregen jene Demonstrationen und Manifestationen die größte Aufmerksamkeit, welche die stärksten Störungen auslösen!

Der »Erfolg« einer solchen Veranstaltung ist erst dann wirklich gesichert, wenn das Fernsehen in Bild und Ton darüber berichtet. Die bewirkte Störung wieder hat zur Folge, daß viele davon Betroffene sich ärgern und fragen, warum die Behörden so etwas überhaupt zulassen. Es liegt auf der Hand, daß das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in der Meinung dieser Menschen an Stellenwert verliert, wenn sie als »Opfer« dieses Menschenrechts zum Handkuß kommen. Ähnliches gilt auch für die Meinungsfreiheit und für die Freiheit der Kunst ...“ Also — zuerst einmal Luft holen. Daß die Hoch-Zeit der Menschenrechte nicht nur in Österreich vorbei sein dürfte, dürfte eine realistische Einschätzung des Herrn Verfassungsrichters sein und wir freuen uns über seinen ehrlichen Befund. Aber er soll die Schuld dafür nicht den Bürgern zuschieben, die durch irgendwas „beeinträchtigt“, „gestört“ und „geärgert“ werden (jetzt komme mir niemand — wie es in diesem Jahr üblich geworden ist — mit dem Mercedes, der bei der letzten Opernballdemonstration Schaden nahm: das betraf ja wohl bei den zigtausenden in Österreich zugelassenen Kraftfahrzeugen nicht die von Doktor Jann herbeizitierte Bevölkerung). Und belieben der Herr Verfassungsrichter allen Ernstes zu glauben, daß Menschen deshalb demonstrieren und Häuser besetzen und daß es dabei deshalb zu „Störungen“ kommt, weil der Erfolg einer „derartigen Veranstaltung“ erst dann gesichert ist, wenn das Fernsehen über die „Störung“ berichtet. Könnte es nicht vielmehr möglich sein, daß die Leute deshalb demonstrieren, weil sie selbst bereits in einem oder mehreren Grundrechten „beeinträchtigt“ sind und sich deshalb „ärgern“. Könnte es nicht außerdem möglich sein, daß diese Leute auf die Berichterstattung im Fernsehen durchaus keinen Wert legen, da sie dort noch selten eine gute Nachred’ hatten (gerade wg. „Störungen“)? Was meint Herr Doktor überhaupt mit „Störungen“? Die Angriffe bewaffneter Neonazi-Banden auf unbewaffnete Demonstranten, den militärischen Einsatz der Berliner Polizei gegen Hausbesetzer in einer Stadt, in der das (von mir unterstellte) Menschenrecht auf Wohnen für viele unerfüllbar wird? Oder meint er die zerbrochene Fensterscheibe eines Kreditinstitutes, das verletzte Schienbein eines Polizisten? Ein bißchen erklären müßt’ er das jetzt schon. Und dann hätten wir da die ungezählten Menschen, die (sagt er) als „Opfer“ des Menschenrechts auf Versammlungsfreiheit „zum Handkuß“ kommen: Wie kommen die zu was? Werden die bei so einer Versammlung verprügelt (in den Fällen, in denen das geschehen ist, müßte man eher die Abschaffung der Polizei fordern) oder werden die zu Opfern der Medienberichterstattung über die „Störungen“? Wenn die sich diese Medien ohne Störung gefallen lassen, dann sollen sie sich die „Störung“ auch gefallen lassen, pardon und küß’ die Hand.

Wenn Herr Doktor Jann

auf die Freiheit der Kunst kommt, werde ich rabiat und halte ihm einen Text unter die Nase, dem er entnehmen kann, wer oder was ein Grundrecht wirklich bedroht (jedenfalls nicht die, die es ausüben wollen — so viel sei verraten): „Wir, Künstler und Kulturschaffende aus allen Bereichen, keinem verpflichtet als unserer Kunst und der Kultur unserer Länder, haben uns am 17. Juni 1987 in Paris in den »États Genéraux de la Culture« zusammengefunden und richten folgenden Appell an die Bürger unserer Länder und an die Künstler und Kulturschaffenden der ganzen Welt:

Ein Volk, das seine kulturelle Tradition und Phantasie kommerziellen Interessen unterwirft, liefert sich aus. Seit Jahren gibt es in Frankreich eine Entwicklung, die zu schlimmsten Befürchtungen Anlaß bietet. Anstelle von Förderung und Pflege zeitgenössischer Kunst — ein Zeichen für kulturelles Leben einer Nation — ist in der Folge fortschreitender Vermarktung die Forderung nach Rentabilität getreten. Auch der Staat, dem doch Schutz und Entwicklung authentischer Kultur seines Landes Aufgabe sein sollten, unterwirft sich mehr und mehr diesem Gesetz. Resultat ist das Ersticken von Talent und Erfindungsgabe oder deren Abwandern in andere, finanziell einträglichere Bereiche — damit verbunden eine Statusverminderung der Künstler. Die Zahl der Arbeitslosen unter ihnen steigt ständig. Dabei zeigt ein Blick auf Film, Theater, Fernsehen und Funk, Tanz und Musik, Chansons, Zirkus, Architektur, auf die grafische und bildhauerische Kunst, aufs Photo und in die Literatur und Poesie, daß nicht etwa die Talente fehlen. Im Gegenteil: die sınd da und sehr lebendig. Sie werden aber zunehmend bestimmt und dirigiert von Kräften, die über Macht und Geld verfügen, sich künstlerische Kompetenz anmaßen und die Massen dazu verurteilen wollen, standardisierte, schnell und leicht verwertbare Produkte ohne Geist und Seele, Sinn und Verstand zu konsumieren, Erzeugnisse, deren einziger Maßstab der an Auflagenhöhe und Statistik ablesbare Massengeschmack ist. In einer solchen Welt, in der Kunst nur noch als Ware funktioniert, wäre der Künstler nur ein zufälliger Gast.“ Für Hinkelsteinverkäufer und Verfassungsrichter: Europäische Konsumindustrie fressen Grundrecht auf! Nicht nur in der Kultur.

aus: Juridikum 5/90, Seite 3

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)