Streifzüge, Heft 76
Juli
2019

Wider die akustische Hörigkeit

Höchst verblüffend, von wie wenigen Menschen die „akustische Leine“, an der wir hängen, heute überhaupt noch wahrgenommen wird. Oder wahrgenommen werden möchte. Günther Anders hat sie bereits in den 1950er Jahren in der „Antiquiertheit des Menschen I und II“ ausführlich beschrieben. Wir werden nicht nur gezwungen, „in einer von Tag zu Tag lauter lärmenden Welt zu leben“. Sondern dieser „Schürzenbandzustand“, der Anders genauso peinigte wie mich, führt auch zu einer „akustischen Freiheitsberaubung“. Wir müssen nicht nur hören, sondern dieses Müssen gilt sogleich als Sollen. Das heißt, „dass der Lärm nicht nur ein Ärgernis ist, sondern eine Funktion hat, eine Aufgabe; und zwar die, das Seinige zu leisten in dem Prozess unserer Deprivatisierung, dass er eines der Hauptinstrumente des Konformismus darstellt“. Für Anders war „das Erschreckendste an dieser ,Konformismus‘ genannten Variante des Totalitarismus“, dass sie „ohne Terror vor sich geht“.

Günther Anders ist 1992 neunzigjährig gestorben. Ein Jahrzehnt vorm Handy-Zeitalter. Seine „philosophische Anthropologie im Zeitalter der Technokratie“ hat die heutigen Verhältnisse präzise vorweggenommen. Er hat zwar gehofft, seine Voraussagen würden sich nicht bewahrheiten, jedoch haben sie sich auf noch drastischere Weise erfüllt. Aus der „akustischen Leine“ Radio, Juke Box und Fernsehen ist via Handy, Internet und Kopfhörer geradezu ein akustischer Käfig geworden. Unter „Zeitalter der Technokratie“ versteht er den Umstand, dass Technik nun zum Subjekt der Geschichte geworden ist, mit der wir nur noch „mitgeschichtlich“ sind.

Noch verblüffender: Wie aus regelmäßigen Umfragen hervorgeht, fühlt sich ein Großteil der Menschen durch Lärm gestört. Lärm, der nicht nur Schwerhörigkeit und Tinnitus verursachen kann, sondern vielfach zu Stress führt, der wiederum die Konzentration, den Schlaf, das Wohlbefinden stört und zu Bluthochdruck, Herzinfarkt u.v.a. führen kann. Aber dennoch ist Lärm kein großes Thema. Es gibt wenig Literatur dazu und in die Medien schaffen es Umweltmediziner und Psychologinnen, die auf die damit verbundenen Gesundheitsgefahren hinweisen, höchst selten. Sonderbar, auf welche Themen sich die Gesundheitsbehörden und ihre Fürsprecher, die Medien, hingegen eingeschossen haben. Beiträge über die – recht fragwürdige – aber als unumstößlich propagierte Ernährungspyramide sind zahllos. Und dass Rauchen in allen öffentlichen Räumen verboten werden muss, ist auch nirgends zu überhören. Aber über Lärm als weitreichender Krankheitsverursacher herrscht Schweigen. Freilich, es gibt Lärmschutzgesetze, aber diese bewirken ebenso wenig wie Sozialgesetze gegen Armut. Sie dienen letztlich der Legalisierung des Lärms.

Höchst befremdlich, dass die Bevölkerung staatlicherseits stets zu gesundem Lebensstil motiviert wird, gleichzeitig aber viele unbeeinflussbare Lebensbedingungen immer ungesünder werden. Warum wird gesundheitliche Verantwortung stets individualisiert und gleichzeitig gesundheitliche Gefährdung generalisiert? Warum wird jeder kleinste Kratzer im Lack der Blechkiste anderer rechtlich verfolgt, aber massenhafte Gesundheitsgefährdung durch Zwangsbeschallung nicht einmal problematisiert? Ist die „akustische Unterwerfung“, die Günther Anders beschreibt, unausweichlich?Warum haben die Lauten recht und warum sind die Beschallten ohnmächtig?

Hören – „Dimension der Unfreiheit“

„Als Hörende sind wir unfrei“, stellt Günther Anders fest. Fortzuhören ist weit schwieriger als wegzusehen. Phänomenologisch gesprochen, gründet diese Schwierigkeit darin, „dass im Unterschied zur sichtbaren Welt, die hörbare ungefragt, indiskret, aufdringlich, ohne unserer ausdrücklichen intentionalen Zuwendung zu bedürfen, in uns eindringen und uns, ob wir wollen oder nicht, zur Teilnahme zwingen kann“. Da der Schall stets von anderswo kommt als von dort, wo der Hörende sich aufhält und ihn hört, zwingt er ihn, immer an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Hier, wo der Hörende sich befindet und dort, wo der Ton entsteht. So wird „die Dimension des Akustischen“ zur „Dimension der Unfreiheit“ und eignet sich hervorragend als „Unterwerfungsgerät“.

Erstaunlich, was Günther Anders im Kapitel „Die Antiquiertheit der Privatheit“ bereits 1958 erkannt hat. Es tritt heute im Handy- und Online-Zeitalter noch erheblich stärker zu Tage. „In demjenigen Augenblick, in dem ein Individuum dazu verurteilt ist, in einer Welt zu leben, in der es, weil ihm kein stiller Platz übrigbleibt, hören muss, bleibt ihm auch nichts anderes übrig, als dieser Welt zuzugehören, ihr gehorsam oder gar hörig zu werden. Wenn es dem Menschen versagt wird, seiner akustischen Erreichbarkeit und Greifbarkeit zu entrinnen, dann ist es ihm bald auch versagt, d.h.: dann ist er bald auch außerstande, Erreichbarkeit und Greifbarkeit überhaupt zu entrinnen. Erreichbarkeit und Greifbarkeit werden dann zu seiner zweiten Natur. Und am Ende wird er dann diese Versklavung sogar kultivieren, sodass er sich, wenn er zufälligerweise einmal nicht greifbar ist, verloren fühlen wird.“

Hier schließt sich übrigens der Kreis zum ersten Antilärm-Verein in Deutschland, den Theodor Lessing 1908 gegründet hat (siehe Götz Eisenberg „Vom Recht auf Stille“ in diesem Heft). Günther Anders hat den Text dieses Kapitels nämlich erstmals unter dem Titel „Akustische Nacktheit“ im Oktober 1958 auf Einladung der Lessing-Gesellschaft in Hannover der Öffentlichkeit präsentiert.

Die Dosis macht den Lärm

In meine Klangwelt haben sich erst um die Jahrtausendwende die ersten bedrohlichen Geräuschkulissen geschoben. In den Jahrzehnten davor wurde kein Greissler beschallt, kein Bekleidungsshop wurde zugedröhnt, Gedudel gab’s weder am Postamt noch in der Apotheke, keine Sphärenklänge in der Sauna und auch nicht auf den Toiletten. Schuld an meiner plötzlichen Hellhörigkeit war nicht gelegentliches Feiern von Nachbarn, nicht das Viola-Üben in der Wohnung über mir, nicht das Sirenen-Heulen von Einsatzfahrzeugen, auch nicht der Verkehrslärm – obwohl sich dieser in Wien vervielfacht hat, nachdem der Eiserne Vorhang vor den Toren Wiens gelüftet wurde. (Trotzdem ist es aus vielerlei Gründen unumgänglich, LKWs und Autos drastisch zu reduzieren! Erstmals gibt es in Österreich über fünf Millionen Autos bei knapp neun Millionen Einwohnern; vor 50 Jahren waren es eine Million Autos.)

Schuld an meinem Tinnitus und meinem chronisch erhöhten Stresspegel sind nie dagewesene Geräusche. Also ihre Qualität und die kontinuierliche Steigerung ihrer Quantität. Dem Prinzip des Immer-Höher-Schneller-Weiter der kapitalistischen Verwertung fehlt auch das „Immer-Lauter“ nicht. Es ist die Begleitmusik der steten Steigerung des Zwangs zur Inwertsetzung bzw. der Vernutzung all der Must-haves. Das verursacht immer mehr Dauerlärm. Aber das vegetative Nervensystem des Menschen ist dafür nicht geschaffen. Lärm – eine völlig unterschätzte Variante von Umwelt- und Gesundheitsbelastung!

Meine Wohnung, in der ich auch arbeite, liegt zwar in einer relativ ruhigen Gasse, aber genau in der Einflugschneise zum Flughafen, die 1999 durch Wien geschlagen wurde. Vorbei war’s mit der Geruhsamkeit. Im Ein- bis Drei-Minutentakt donnern die Maschinen über meinen Kopf hinweg. Die zahlreichen Bürgerinitiativen, die dagegen zehn Jahre lang unermüdlich tätig waren, haben, wie wohl alle Antilärm-Initiativen, kaum etwas erreicht. Ergebnis nach 20 Jahren: mehr Flüge denn je und kontinuierliche Ausweitung der Flugzeiten. Und da es immer öfter Wind aus der östlichen Hälfte gibt (wenn dieser weht, wird über die Stadt geflogen), konnten auch die vereinbarten maximal 11,5 Prozent aller Landungen, nicht eingehalten werden, bedauert die Austro Control. Zuletzt waren es 16 Prozent. Aber was kümmern die Lärmgeplagten Prozentzahlen. Mit der dritten Piste, die nach zahlreichen Verhinderungsversuchen nun bald gebaut wird, werden die absoluten Zahlen weiter steigen. Es gibt in Wien zwar sogenannte Ruhezonen, in denen der Lärm nicht über 50 Dezibel betragen darf, aber Flugzeuglärm ist davon ausgeschlossen.

Apropos Dezibel: Schall kann gemessen werden, Lärm jedoch nicht. Auch leise und tieffrequente Geräusche stören, etwa von haustechnischen Anlagen wie Heizungen, Kühlungen, Lüftungen, Pumpen. Und Geräusche, die in unregelmäßigen Abständen kurz aufflammen, schrecken auf: Handys, Gekrache und Gewummer aus digitalen Geräten oder Musikanlagen in Autos. Zudem ist die Dezibel-Skala keine lineare, sondern eine logarithmische. Das heißt, zehn Dezibel mehr bedeutet eine Verzehnfachung der Schallenergie. Dezibelbeschränkungen beziehen sich außerdem auf einen Durchschnittswert pro bestimmter Zeiteinheit. Das heißt, es kann in dieser Zeit mehrmals wesentlich lauter sein.

Ich wurde in den letzten 20 Jahren aber nicht nur von einer dreiviertel Million tieffliegender Flugzeuge beschallt, sondern in den letzten zwölf (!) Jahren fast durchgängig auch von Baulärm im und vorm Haus. Darunter viele Jahre von wahrem Höllenbaulärm. Sechs Tage die Woche von früh bis spät. Eine Ein- bis Zweijahres-Baustelle löste die nächste ab. Kaum waren die Kräne abgebaut und die Betonsockel, auf denen sie gestanden haben, mit Riesenpressluftbohrern eine Woche lang zerbröselt worden, wurde schon die nächste Abrissbirne gepflanzt. Schallschutzfenster hat meine Wohnung keine.

Als Lärm noch Musik in meinen Ohren war

Das waren Zeiten, als Lärm – weil wohldosiert – noch Musik in meinen Ohren war! Wenn ich mich an jenen Ort erinnere, an dem ich meine Kindheit in den 1960er Jahren verbracht habe, rauscht da nicht nur der Sommerwind durch das Kornfeld, zirpen da nicht nur die Grillen, sondern genauso wohltuend klingt die Tischkreissäge von einem der verstreuten Thalgau-Egger Bauernhöfe und das gelegentliche Brummen eines kleinen Propellerflugzeugs über dem Fuschlsee. Seltene Geräusche unterstreichen die Ruhe geradezu!

Erhart Kästner schreibt mit Bezug auf Paul Carus in „Aufstand der Dinge – Byzantinische Aufzeichnungen“, dass Stille nicht Stillstand bedeuten muss. „Mit Stille kann ja nicht die Totenstille gemeint sein; es ist Stille in Spannung. Bach-Rauschen ist, was die Stille erst hörbar macht, wie die Zikaden die Mittag-Stille im Süden.“

Immer öfter beschweren sich Touristen in der Provence über die Zikaden und verlangen, diese mit Insektiziden zu vernichten. Könnte es sein, dass sie eigentlich die Ruhe nicht aushalten? Und das gemächliche Tuckern des Motors der kleinen Fischerboote im Mittelmeer macht Männer wohl auch so nervös, dass sie es mit Jet-Ski-Motormonstern namens „Tsunami“ oder „Master of Desaster“ übertönen müssen.

Gleichzeitig mit dem Fluglärm in meiner Wohnung begann um die Jahrtausendwende auch die digitale Aufrüstung jedes Staatsbürgers mit Handys und anderen digitalen Geräten. Seit dem ist der Äther erfüllt von ständigem Gepiepse, von Klingeltönen aller Art und Lautstärke. Und von bis dahin im wahrsten Sinn des Wortes unsäglichem Dauergelaber. In Konzerten vergeht mir mittlerweile Hören und Sehen und jeglicher Genuss, weil trotz Verbots mein Blick- und Hörfeld voll klickender Fotoapparate und leuchtender Screens ist, auf denen herumgefummelt wird.

Von Traumhaftem zum Alptraum

Massenhafter Flugverkehr über bewohntem Gebiet, die Handynutzung in der Öffentlichkeit, die Beschallung nahezu aller Verkaufsräume und vor allem die neueste Errungenschaft an Lärmbewaffnung, das ultimative Must-have Bluetooth-Box haben die Geräuschkulisse im öffentlichen Raum so stark verändert wie seit der Industrialisierung bzw. der Automobilisierung in den Nachkriegsjahrzehnten nicht. Ganz zu schweigen von der Epidemie Ballermann an den einst geruhsamen Gestaden des Mittelmeers. Heute terrorisiert hier der grölende und dröhnende Party-Vollrausch-Sound die Einheimischen und die Ruhesuchenden. Jeden Tag, jede Nacht während der ganzen Saison.

Seit auch meine jahrzehntelangen Refugien zugedröhnt werden, wird es ganz und gar unerträglich. Am und im Wasser, wo ich mich am besten erholen kann – an der Unteren Alten Donau genauso wie in einer ganz besonderen, abgelegenen mediterranen Felsenbucht – herrschen nie dagewesene Disko-Klänge, die die fahrenden oder ankernden Boote absondern. Es braucht nicht mehr als einen entsprechenden Schall – heute überall digital verfügbar –, um die zauberhaftesten Plätze zu ruinieren! – Nie mehr Siesta? Nie mehr friedvolle Buchten? Traditionelle Zeiten und Orte der Ruhe, die es in jedem Kulturkreis gab, fallen immer mehr dem Verwertungszwang zum Opfer. Das Geschäftige und Laute dehnt sich zeitlich und räumlich immer mehr aus. Alles Leise und Zarte wurde längst unter den ekeligen Klangteppich gekehrt. Und je mehr wir zu hören kriegen, desto weniger wird einander zugehört.

Musik gehört zum Allerschönsten! Wenn ich aber permanent mit Getöse zwangsernährt werde, kommt das einer Vergewaltigung gleich. Als ob ich auf Schritt und Tritt Junkfood in den Mund gestopft bekommen würde. Dieses könnte ich wenigstens wieder ausspucken. Aber meine Ohren und mein Gehirn können die Misstöne nicht wieder loswerden.

Rhythmische Musik macht Lust auf Bewegung, deshalb kann sie mich beim Sporteln am Trampolin ganz schön motorisieren. Dass sie aber auch Autos antreiben kann, überrascht mich. Neuerdings ist ja kaum mehr ein „geladenes Geschoß“ ohne weithin hörbares, Herz attackierendes Bass-Gewummer unterwegs. Gestern fuhren sie mit einem orientalischen Gemisch, bei dem noch Melodiöses mitklang. Heute ist weitaus härterer Stoff im Einsatz.

Hans Magnus Enzensberger fragt in seiner trefflichen Polemik „Ein musikalisches Opfer“, warum Allergiker gegen musikalischen Dauerlärm verhöhnt werden, während allen anderen volles Verständnis entgegengebracht wird. „Der Schallallergiker sieht sich einem brutalen Kesseltreiben ausgesetzt. Die Vorkehrungen, die er treffen muss, um sich dem allgegenwärtigen Musikantenstadl aus Heavy Metal, Vivaldi, Techno, Blaskapelle und Tic Tac Toe zu entziehen, kommt einer Behinderung gleich.“

Ich frage mich jedes Mal, wenn ich einen Supermarkt oder sonst eine lärmende Anstalt betrete: Es gibt zigtausend Lieder und Musikstücke, die mich weniger stören oder gar erfreuen würden. Aber die verkaufsfördernden Hits sind allesamt jenseits meiner Schmerzgrenze. Wenn wenigstens Neil Diamond erklingen würde: „What a beautiful noise / … Goin’ on everywhere / … And it’s sound that I love / And it’s fit me as well / As a hand in a glove / Yes it does, yes it does / What a beautiful noise.“

Von der „Schizotopie“ …

Geschäfte, Apotheken, Postämter, Fitness- und Beauty-Studios, alle, die etwas verkaufen wollen, scheuen keine Kosten und Mühen, um alle Sinne optimal anzusprechen – sei es lautstark oder ganz unbemerkt. Alle psychischen und physischen Mechanismen müssen ausgenützt werden, um noch einen Euro mehr aus dem Kunden zu pressen, und um die Konkurrenz auszustechen. Umsatz ist alles!

Auf verarbeitete Lebensmittel, denen Stoffe zugesetzt werden, die regelrecht süchtig machen, wird von Ärztinnen und Konsumentenschützern immer wieder hingewiesen. Dass aber in Verkaufsräumen aller Art – vom Supermarkt bis zum Wettbüro – nichts dem Zufall überlassen wird, um süchtig zu machen, zeigt kaum jemand auf. Ganze Branchen sind damit beschäftigt, nicht nur Geräusche, auch Licht, Gerüche und Einrichtungen verkaufsfördernd auszuklügeln. Diese Methoden aufzuzeigen, ist nichts für investigative Journalisten. Auch Psychologinnen schreiben keine erhellenden Berichte darüber. Sie werden ja von den Firmen dafür bezahlt, Geheimagenten gleich zu tüfteln. Manchen tut sich obendrein die neue Einkommensquelle, Kauf- und Spielsüchtige zu therapieren, auf.

Die Beschallung von Verkaufsräumen soll Heimeligkeit vermitteln. Die Konsumierenden sollen sich ungezwungen fühlen oder gar enthemmt. Einfach wie zu Hause. Günther Anders beschreibt die veränderten Verhältnisse am Beispiel der ersten Juke Boxes, die in den USA in den frühen 1940er Jahren in Drugstores aufgestellt wurden. „So wie die Außenwelt durch die Medien ins Haus gebracht wurde, so wird umgekehrt die Zuhause-Mentalität in die Außenwelt mit hinaus genommen. Die oft gemachte Beobachtung, dass sich seit einigen Jahrzehnten der Unterschied zwischen ,privat‘ und ,öffentlich‘ verwischt hat, hat in dieser ,Doppelbewegung‘ ihren Grund.“ Als „Schizotopie“ bezeichnet Anders diese räumliche Doppelexistenz. – Wohin hat sich diese in den letzten 70 Jahren entwickelt? Heute leben wir längst nicht nur im globalen Dorf, sondern im globalen Supermarkt. Von jedem Ort aus zu konsumieren, heißt das oberste Gebot. Von zu Hause oder unterwegs in der ganzen Welt zu shoppen. Oder sich an jedem Ort Musik und Filme via digitaler Geräte reinzuziehen. „Stream dich frei“, steht auf dem aktuellen Werbeplakat eines Streaming-Dienstes. Es zeigt ein junges Paar, das sitzend über einem langen Holzsteg schwebt, der in einen See hinausführt, dem verfärbten Himmel und der untergehenden Sonne entgegen. Diese Naturkulisse sieht das Pärchen aber nicht, weil es in die entgegen gesetzte Richtung, auf den Bildschirm des Laptops blickt.

… zur globalen Pipe-&Peep-Show

Apropos Naturkulisse: Heute lässt selten jemand die Umgebung – Natur, Stadt, Menschen – einfach auf sich wirken. Man hat dauernd busy zu sein. Mal leiser, meist lauter. Wenn die Aufmerksamkeit überhaupt einmal vom Screen auf etwas anderes gelenkt wird, dient es entweder der Selbstoptimierung oder um Aufsehen und Aufhören zu erregen. Jogger mit zugestöpselten Ohren blicken ständig auf den Fitness-Tracker am Handgelenk. Auto-, Motorrad-, Quard- und Jet-Ski-Piloten verpesten zu Land und zu Wasser die Luft – und vor allem darf niemandem ihr brünftiges Motorengeheul entgehen. Zur Zeit auch besonders beliebt: das Fotografieren und Posten des verbotenen Eindringens in abgelegene Naturschutzgebiete, um Partys zu feiern, zu übernachten und Zerstörung zu hinterlassen. Und in Wien haben neuerdings Mountainbiker den alten verfallenen jüdischen Teil des Zentralfriedhofs als ihr Trainingsgelände entdeckt. Die breite Masse begnügt sich mit Krach aus den Bluetooth-Boxen, die faustfeuerwaffengleich in der einen Hand und die Bierdose in der anderen vor sich hergetragen werden.

Die Umgebung wird hauptsächlich zweidimensional, verkleinert, ausschnitthaft durch den Screen wahrgenommen. Sie mutiert zur Fototapete und verkommt zum Mittel der Selbstdarstellung. Worauf es ankommt, ist nicht die Umgebung selbst, nicht der Sonnenuntergang, nicht das Bergpanorama, nicht die Sehenswürdigkeit, nicht das Konzert, sondern die Digitalisierung. Also ein – meist künstlich geschöntes – Abbild der Realität. Selbst das Essen muss nicht gut schmecken, sondern gut aussehen. Es geht nicht um das sinnliche Erleben, sondern um die Herstellung einer Ware. Erst wenn ich meine Ware Food, meine Ware gewagtestes Motiv, meine Ware Körper digital und global vermarkten kann, beginne ich zu existieren und bekomme Aufmerksamkeit. Befriedigung verschafft nicht das Hier und Jetzt, sondern die Likes im Dort. Zu Hause bin ich nicht bei mir und in meiner Umgebung, sondern via Selfie in der digitalen Welt.

Warum wird für all jene, die diese Art der Weltwahrnehmung und der Kommunikation bevorzugen, nicht ein Welt-Duplikat geschaffen? Mit Echtheitszertifikat. Ein Disneyland ohne störendes Zikadenzirpen und ohne störende Ruhesuchende. Hier führen bequeme Wege zu den perfekten Selfie-Locations. Hier dürfen sie alles niedertrampeln oder sich aufgeilen an Katastrophen-Szenen. Hier gibt es sogar ein Sicherheitsnetz gegen die tödlichen Gefahren. Bei der Hetzjagd nach der aufregendsten Selbstdarstellung versagt ja oft sogar der Selbsterhaltungstrieb.

Aus der „Schizotopie“, die Günther Anders in den 1950er Jahren festgestellt hat, ist mittlerweile eine globale digitale Pipe-&Peep-Show geworden. – Folgendes Hörbeispiel versinnbildlicht geradezu, genauer vertont das alltäglich und allumfassend gewordene Porn-Prinzip. Der Lokführer eines South-Western-Railway-Zuges schaute sich auf einer Fahrt zwischen den Londoner Stadtteilen Wandsworth und Clapham einen Porno am Handy an. Da das Mikrofon irrtümlich eingeschaltet war, wurden alle Fahrgäste Ohrenzeugen des sexuellen Treibens. Das musste prompt aufgenommen, ins Netz gestellt und sogleich 1,83 Millionen Mal aufgerufen werden.

„Akkumulation der Geräte“

Die digitale Revolution hat sicherlich viel Gutes gebracht. Aber unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen des real existierenden Kapitalismus dient sie nicht nur hervorragend dazu, Vermarktung und Vernutzung ad infinitum zu führen, sondern auch dazu, den von Günther Anders festgestellten Konformismus und die Selbstversklavung auf die Spitze zu treiben. Als nächster großer Entwicklungsschritt wird nicht nur die Technik der Robotik, der Drohnen und der selbstfahrenden Autos massiv ausgebaut, sondern auch die Überwachung und Steuerung des Menschen. Was diesbezüglich etwa in China bereits umgesetzt ist, geht wohl mitnichten in Richtung Befreiung. Dagegen nehmen sich folgende zwei Beispiele harmlos aus. Wie nützlich, wenn aus allem Unbill, das die Verbreitung der Technik mit sich bringt, neues Kapital geschlagen werden kann. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. In Zeiten, da Ruhe rar wird, kommt ein Gerät zur Erzeugung von Stille auf den Markt. Kopfhörer zur Active Noise Cancelling, kurz ANC. Dabei wird Schall mit gegenphasigem Schall unterdrückt, mit sogenannter destruktiver Interferenz. Oder in Zeiten, da die Fachwelt bei vielen Menschen „Technostress“ durch die Handhabung oft störungsanfälliger digitaler Geräte diagnostiziert hat, wird vorsorglich ein „Technostresssensor“ entwickelt.

Günther Anders: „Je größer das Elend des produzierenden Menschen wird, je weniger er seinen Machwerken gewachsen ist, um so pausenloser, um so unermüdlicher, um so gieriger, um so panischer vermehrt er das Beamtenvolk seiner Geräte, seiner Untergeräte und Unteruntergeräte; und vermehrt damit sein Elend auch wieder …“ Bis schließlich „seine Misere eine Akkumulation der Geräte, und diese wiederum die Akkumulation seiner Misere zur Folge hat. – Gute Zeiten, da die Idylle der Hydra noch als Schrecksage galt!“ – Von der ökologischen Belastung durch die Massenproduktion der Geräte ganz zu schweigen.

Haben diese technischen Errungenschaften den Alltag erleichtert? Sind die Menschen dadurch glücklicher, freier und entspannter geworden? Warum haben sich Nervosität, Unruhe, Hektik, Aggression, genauso wie der Lärm, seit der Jahrtausendwende rapide vermehrt? Wo ist der funkelnde Charme geblieben? Die Leichtigkeit, der Schalk, die Phantasie und die Sinnlichkeit? Ich vermisse sie furchtbar!

Viele haben den Prometheus-Mythos aufgegriffen, wenn es um die Kritik an der Herrschaft der Technik über den Menschen geht. Günther Anders prägte den Begriff der „prometheischen Scham“. Der Mensch sei zum „Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks“ geworden und schäme sich seiner Unzulänglichkeit angesichts der Perfektion seiner Apparaturen.

Auch Albert Camus ruft im Buch „Hochzeit des Lichts“, in seinem kleinen Essay „Prometheus in der Hölle“, dazu auf, Geist und Seele nicht zugrunde gehen zu lassen. Der antike Held hat den Menschen „Feuer und Freiheit, Technik und Kunst“ geschenkt. Aber „die heutige Menschheit glaubt einzig an die Technik. In ihren Maschinen entdeckt sie ihre Stärke …

Chateaubriand rief dem nach Griechenland aufbrechenden Ampère zu: „Sie werden kein Blatt der Olivenbäume, keine Traubenbeere wiederfinden, die ich in Attika sah. Ich trauere selbst dem Gras meiner Zeit nach.“ Camus fügt hinzu: „… wir trauern manchmal den Grashalmen aller Zeiten nach, den Olivenzweigen, die wir für uns nicht mehr sehen werden, und den Trauben der Freiheit. Der Mensch ist überall, überall sein Schrei, sein Schmerz und sein Drohen. Inmitten so vieler zusammengedrängter Kreaturen bleibt kein Ort für das Zirpen der Grillen.“

Aber woher nehmen wir heute Camus’ Zuversicht, für den „ein Abend in der Provence, die vollkommene Linie eines Hügels, der Geschmack von Salz genügt, um zu erkennen, dass alles neu zu schaffen ist“?

Literatur über Lärm

  • Sieglinde Geisel: Nur im Weltall ist es wirklich still – Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille, Berlin 2010.
  • Jürgen Hellbrück, Rainer Guski: Lauter Schall – Wie Lärm in unser Leben eingreift, Darmstadt 2018.
  • Gerhard Paul, Ralph Schock (Hg.): Sound der Zeit – Geräusche, Töne, Stimmen, 1889 bis heute, Göttingen 2014.
  • Hans Magnus Enzensberger: Ein musikalisches Opfer, in: Kursbuch 129 „Ekel und Allergie“, Berlin 1997, online: www.spiegel.de/spiegel/print/d-8778887.html

Initiativen gegen Lärm

PS: Mehr dazu ab August auf www.streifzuege.org unter „Initiativen gegen Lärm“.

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