FORVM, No. 130
Oktober
1964

Wir brauchen ein Konzept

Am 25. Oktober finden in Wien Gemeinderats- bzw. Landtagswahlen statt. FORVM bat aus diesem Anlaß zwei prominente Vertreter ihres Faches, zu einem wichtigen kommunalpolitischen Thema Stellung zu nehmen.

Wenn wir uns mit der Zukunft Wiens auseinandersetzen, so scheint es mir als Raumplaner richtig, zuerst zu prüfen, welche Aufgabe diese Stadt erfüllen kann — ihre künftige Bedeutung hängt davon ab und alle Zielsetzungen müßten darauf Rücksicht nehmen —, ferner welche Voraussetzungen diese Stadt hat, um einer solchen Aufgabe gerecht zu werden, und schließlich, was wir tun müssen, um gesteckte Ziele zu erreichen.

Wir dürfen bei unseren Überlegungen nicht an der administrativen Stadtgrenze haltmachen, sondern müssen jene Teile Niederösterreichs einschließen, die eine Siedlungs- und Wirtschaftseinheit mit Wien darstellen und den Raum Wien bilden.

Hier leben heute 2,1 Millionen Menschen (1,6 davon in Wien), das sind 30% der österreichischen Bevölkerung; 40% beträgt der Anteil der Beschäftigten in der Industrie, über 40% der österreichischen Angestellten und Beamten haben hier ihren Arbeitsplatz und 60% der in Österreich Studierenden sind an Wiener Hochschulen inskribiert. Hier werden 80% des österreichischen Geldverkehrs abgewickelt. Wien ist auch Landeshauptstadt für 30% der österreichischen Bevölkerung.

Grob vereinfacht könnte man sagen: Die Bedeutung unserer wie jeder Stadt ist ein Produkt aus ihrer Lage, den natürlichen Bedingungen, ihrem politischen Schicksal und aus der Fähigkeit ihrer Bewohner, aus diesen Gegebenheiten das jeweils Bestmögliche herauszuholen.

Historische Bilanz

Die günstige Lage und natürlichen Bedingungen Wiens, auf die noch näher eingegangen wird, sind wenig veränderlich. Von den jeweiligen politischen Gegebenheiten hängt es jedoch primär ab, wieweit wir sie nutzen Können. Blicken wir zurück auf eine kurze Zeitspanne, die viele von uns selbst miterlebt haben:

Bis 1918 war Wien, das damals 2,1 Millionen Einwohner zählte, Mittelpunkt eines großen, gut abgerundeten Reiches mit 52 Millionen Einwohnern. Aus dieser Blütezeit stammt im wesentlichen seine städtebauliche, Wirtschafts- und Verkehrsstruktur. Die Planung der rapid anwachsenden Stadt war für 4 Millionen Einwohner berechnet.

Nach dem Zusammenbruch des Habsburger-Reiches 1918 stagnierte die Entwicklung Wiens, das nunmehr im äußersten Osten eines Kleinstaates mit weniger als 7 Millionen Einwohnern lag. Damals entstand das Schlagwort vom „Wasserkopf“. Fast ein Drittel (gegenüber einem Fünfundzwanzigstel vor 1918) der Staatsbevölkerung lebte hier. Wichtige Wirtschaftsbeziehungen wurden unterbrochen, der Einzugs- und Ergänzungsbereich der Stadt beschnitten.

Die nationalsozialistische Machtergreifung 1938 brachte eine weitere Degradierung mit sich. Durch die Aufteilung des Landes in Reichsgaue wurde die bisherige Bundeshauptstadt den Landeshauptstädten gleichgestellt. Wohl zeigten sich Ansätze für neue Funktionen: der Hafen wurde ausgebaut und man begann den Bau des bei Wien mündenden Donau-Oder-Kanals, starke Wirtschaftsbeziehungen nach dem Südosten führten über Wien. Aber der Krieg und seine Zerstörungen machten diese Ansätze unwirksam. Wie nach 1918 verließen wieder Hunderttausende Bürger, diesmal zwangsweise, die Stadt.

Mit der Errichtung der Zweiten Republik 1945 wurde Wien zwar wieder Bundeshauptstadt, doch stagnierten Stadt und Umland infolge der sowjetischen Besetzung und Schließung der Grenzen mit den kommunistisch gewordenen Nachbarstaaten. Die im Krieg begonnene Industrialisierung Westösterreichs wurde fortgesetzt, Ostösterreich weiterhin relativ geschwächt. Die Bevölkerungsbilanz der Kriegs- und Nachkriegszeit ergibt für die westlichen Bundesländer eine Zunahme um fast 600.000 Menschen; für Wien, Niederösterreich und das Burgenland zusammen eine Abnahme um fast 400.000 (Volkszählungen 1934 und 1951).

Mit dem Abschluß des österreichischen Staatsvertrages 1955 fielen viele Hemmungen für die Entwicklung des Wiener Raumes, nicht jedoch jene, die sich aus seiner Lage im westlichen Europa und aus der Tatsache ergeben, daß er an drei Seiten von weitgehend toten Grenzen umgeben war. Trotz der Einbeziehung Ostösterreichs in den allgemeinen Konjunkturaufschwung ging die Bevölkerung weiter zurück.

Ziehen wir die Bilanz aus diesen Entwicklungsphasen: Wien hatte seine größte Bedeutung und seine stärksten Entwicklungsimpulse in jener Zeit, da es ohne Erschwernisse in den Donauraum ausstrahlen konnte. Wie wird die politische Situation Wiens in Zukunft sein? Außer der Neutralität Österreichs und den darin liegenden Möglichkeiten können zwei Entwicklungen, die wir heute feststellen, von großer Bedeutung für die Zukunft Wiens sein; die hier gebotenen Möglichkeiten gilt es zu erkennen und zu nutzen, die in ihnen liegenden Gefahren zu meistern:

Einmal die sich anbahnende Einbeziehung Österreichs und damit des Wiener Raumes in eine europäische Integration, in der wir der am weitesten nach Osten vorgeschobene Teil dieses bedeutenden Wirtschaftsraumes wären und indem sich die Stadt trotz dieser ungünstigen Lage behaupten müßte.

Zum anderen eröffnen die Bemühungen der neuerdings sich auf ihre nationalen Bedürfnisse besinnenden Oststaaten um verstärkten Austausch mit dem wirtschaftlich attraktiven westeuropäischen Bereich neue Möglichkeiten zu vielseitigen Beziehungen mit dem Donauraum und zu einem Wiederaufleben der Mittlerrolle Wiens.

Wien hat viele Chancen, als die am weitesten nach Osten vorgeschobene Großstadt des westeuropäischen Integrationsraumes in dem mittleren und unteren Donauraum zu wirken, wobei wir uns klar sein müssen, daß diese Entwicklung durch die politische Konzeption unserer östlichen Nachbarstaaten unter Umständen jäh unterbrochen werden kann.

Zwischen West und Ost

Wiens Aufgaben liegen also darin, leistungsfähiger Kern eines Wirtschaftsgebietes von beträchtlichem Eigengewicht zu sein, als Landes- und Bundeshauptstadt zu fungieren und als Drehscheibe zwischen dem westeuropäischen Integrationsraum und den Oststaaten Europas zu wirken. Neben Aufgaben auf anderen Gebieten ergibt sich daraus die Notwendigkeit, allen auftretenden räumlichen Anforderungen gerecht zu werden.

Die großräumige Lage Wiens im Integrationsraum ist ungünstig: Von der Schwerlinie des EWG-Raumes (der Rhein-Linie) ist der Wiener Raum 800 km, vom nächstgelegenen Wirtschaftszentrum (München) 450 km entfernt, und von drei Seiten ist er von nicht der EWG angehörenden Staaten umschlossen.

Wie ernst dies zu beurteilen ist, mag man daraus ersehen, daß Bayern, dessen marktfernste Teile 250 km westlich von Wien liegen, ernste Befürchtungen wegen seiner Randlage hat. Dazu kommt das Fehlen direkter Verbindungen zur See, weshalb überseeische Rohstoffe für unsere Industrie mit höheren Frachtkosten belastet sind als die von konkurrierenden Betrieben in Ländern, die über Seehäfen verfügen. Diese Verkehrslage Wiens ist doppelt wirksam, da sie Mehrkosten im Import und Ertragsminderungen im Export zur Folge hat.

Österreich hat eine ausgeprägte Ost-West-Erstreckung. Wien liegt im äußersten Osten des Staates. Es besteht deshalb die Gefahr, daß große westösterreichische Gebiete in den zentralörtlichen und wirtschaftlichen Einflußbereich großer, außerhalb Österreichs liegender Städte kommen: Vorarlberg in den Einzugsbereich Zürichs; Tirol, Salzburg, das westliche Oberösterreich und vielleicht auch das westliche Kärnten (nach Ausbau der Verkehrsverbindung über die Tauern) in den Münchens, das sich rasant entwickelt.

Die Mitte der Entfernung München—Wien liegt zwischen Lambach und Wels in Oberösterreich. Die Fahrzeit von Innsbruck bzw. Salzburg nach München beträgt rund ein Drittel der nach Wien erforderlichen.

Für Wien ist es deshalb notwendig, daß durch einen zielbewußten Ausbau der nach dem Westen führenden Verkehrswege die zeit- und kostenmäßigen Auswirkungen der bestehenden Entfernungen gemildert werden, zum Beispiel durch den Bau von Autobahnen, Straßen, Pipelines und den Ausbau der Bahnen und Wasserstraßen. Um dem Verlust der Bedeutung Wiens als Zentrum entgegenzuwirken, muß man auch künftig trachten, zentrale Funktionen internationaler oder europäischer Bedeutung — wie dies bereits bei der Atombehörde gelungen ist — nach Wien zu ziehen. Man muß ferner versuchen, als Ausgleich zu den wahrscheinlich verlorengehenden Märkten im Westen Österreichs solche im übrigen Integrationsraum zu gewinnen.

Im Gegensatz zur Lage im Integrationsraum ist jedoch die Lage im Donauraum äußerst günstig. Der alte Ostsee-Adria-Weg der Bernsteinstraße kreuzt hier den nach Ungarn, der Slowakei und den Balkanstaaten führenden Donauweg und stellt die kürzeste Verbindung Polens und der Tschechoslowakei mit dem südlichen EWG-Raum (Italien) her. Notwendig ist auch hier, durch einen Ausbau der Verkehrswege günstigere Voraussetzungen für die Abwicklung von Beziehungen aller Art zu schaffen.

Für den Fremdenverkehr besteht Wiens Nachteil vor allem darin, daß es, von Westen her gesehen, gleichsam am Ende eines Schlauches liegt. In der sich abzeichnenden Entwicklung, in wesentlich stärkerem Maße als bisher Ausgangspunkt für Ostreisen zu werden, liegen jedoch große Möglichkeiten. Durch den Bau bzw. Ausbau bestimmter Straßen (Südautobahn und sogenannte „Drei-Zeller-Straße“) und die dadurch gebotenen besseren Voraussetzungen, bei einer Rückreise nicht denselben Weg benützen zu müssen, könnte diese Chance wesentlich verstärkt werden. Wien ließe sich dadurch auch weit besser in einen europäischen Routenverkehr einbauen.

Die Gegebenheiten im Wiener Raum, die in der Stadt und ihrem Umland für das Arbeiten und Wohnen der Menschen vorhanden sind, bilden neben den großräumigen Lagebedingungen wichtigste Voraussetzungen für die weitere Entwicklung.

Betriebsstätten im Keller

Kaum eine Stadt vergleichbarer Größe liegt wie Wien im Schnittpunkt so vieler verschiedener Landschaftstypen mit allen damit verbundenen Erholungsmöglichkeiten. Klima und Bodenverhältnisse des Wiener Raumes ermöglichen eine hochentwickelte Landwirtschaft. Geeignete Flächen für Industrie-und Siedlungsausbau stehen in großem Ausmaß zur Verfügung. Der Bestand an Bauten — das städtebauliche Gefüge — weist jedoch neben wertvollen Einzelobjekten und Stadtbildern auch vielfach Mängel auf: Wenn wir zum Beispiel die Situation der Betriebsstätten betrachten, müssen wir feststellen, daß viele Arbeitsplätze für einen Großteil unserer Bevölkerung unzureichend untergebracht sind.

Mehr als die Hälfte der Betriebe liegt in den dicht verbauten, verkehrsmäßig überlasteten Bezirken innerhalb des Gürtels, ein hoher Prozentsatz ist schlecht untergebracht in Keller- und Souterrainlokalen oder in lichtarmen Höfen. Das Durcheinander von Wohnstätten und Betrieben, die zum Teil Lärm und Geruch verursachen, führt zu großen Störungen für die Wohnbevölkerung und zu Behinderungen für die Betriebe selbst. Die große räumliche Enge erschwert Umstellungen und Erweiterungen der Betriebe, die jedoch gerade in der Phase der Anpassung an die neuen Bedingungen des europäischen Marktes besonders notwendig sind. Auch die Zuordnung von Wohn- und Arbeitsstätten ist vielfach ungünstig, eine umfangreiche, zeit- und kräfteraubende Pendelwanderung und eine Überlastung der Verkehrsmittel in Stoßzeiten sind Folgen davon.

Auf die ungünstigen Wohnbedingungen in vielen Teilen Wiens wird immer wieder verwiesen. Trotz einer beachtlichen Wohnbautätigkeit stammen noch immer mehr als sechs Zehntel der Wohnungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, ein Drittel der Wohnungen hat weder Wasser noch Klosett und ein Drittel besteht nur aus Zimmer und Küche. Große Teile Wiens entstanden in der Gründerzeit und weisen in erster Linie die angeführten Mängel auf, bestehen aus öden, grünarmen Rastervierteln. Diese Viertel durch bessere zu ersetzen, das heißt, die Stadt in ihren wesentlichen Teilen zu erneuern, ist eine der größten und schwersten Aufgaben dieser und der nächsten Generation. Gelingt diese Aufgabe nicht, so werden die Folgen schwerwiegend sein.

Es entfallen zum Beispiel in den Bezirken VI, VII, VIII und XV je Einwohner nur 0,6 bis 0,9 qm an öffentlichen Grünanlagen. Für die 225.000 Bewohner dieser Bezirke gibt es kein Freibad, nur 2,17 ha öffentliche Spielflächen und 0,58 ha Schulspielflächen. Es gibt nur 2 Sportplätze, die überdies in Händen von Vereinen sind.

Im Zusammenhang mit den Wohnbedingungen kommt der Frage der Erholung größte Bedeutung zu. Was in den dichtverbauten, verkehrsreichen inneren Bezirken dafür zur Verfügung steht, ist wenig und schrumpft immer mehr zusammen. Garagen, Betriebe und Wohnhäuser treten an die Stelle vieler privater Grünflächen.

Verödung der City

Reich sind noch die Erholungsmöglichkeiten in der Umgebung der Stadt, aber auch diese sind vor allem in den stadtnahen Gebieten durch eine zu wenig gesteuerte Siedlungs- und Parzellierungstätigkeit einem raschen Schwund ausgesetzt. Erschwerend für die Erhaltung und Erschließung dieser Erholungsflächen ist der Umstand, daß sie zum Großteil außerhalb Wiens und im Bereich meist kleiner und finanzschwacher Gemeinden liegen, die weder in der Lage noch willens sind, Kosten zu tragen für Leistungen, die den Bewohnern der nahen Großstadt Erholung gewähren. Ein Zusammenwirken Wiens und Niederösterreichs zur Lösung dieser bedeutenden Frage ist deshalb notwendig und wurde, was den Wienerwald betrifft, bereits eingeleitet.

Ein weiteres Problem, auf das hier verwiesen werden soll, ist das der zentralen Einrichtungen Wiens, d.h. insbesondere das Problem City und der heute unterversorgten Randzonen. Wir beobachten seit langem, daß — als Folge der unzulänglichen Verkehrssituation in der Innenstadt — Einrichtungen, die zur City gehören, sich in anderen Bezirken niederlassen, in jüngster Zeit sogar am Stadtrand. Ein Prozeß der Auflösung, wie er auch in anderen Städten zu beobachten ist, bahnt sich an. Damit aber würde sich ein wesentliches Strukturprinzip unserer Stadt, die Hierarchie der Zentren, auflösen und eine langsame Verödung der Innenstadt wäre die Folge.

Anderseits müssen wir feststellen, daß viele Randzonen mit Einrichtungen unzulänglich versorgt sind und daß es ihnen an lokalen Mittelpunkten für ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben mangelt. Zentren in diesen Zonen sind deshalb notwendig. Solche Mittelpunkte (städtische Nebenzentren) können die City durch Verlagerung untergeordneter Einrichtungen entlasten und den Verkehr zur City mindern, weil dann eben eine Versorgung an einem näheren Punkt möglich wäre. Wenn es uns nicht gelingt, die Voraussetzungen für die Erhaltung der City zu schaffen und leistungsfähige Zentren mit genügend Parkplätzen in den Randzonen zu errichten, wird es in Wien bald soweit sein (wie jüngst in Frankfurt), daß durch finanziell leistungsfähige Kräfte irgendwo außerhalb der Stadt in günstiger Verkehrslage mit Parkplätzen reich ausgestattete Shopping-Centers errichtet werden. Für viele Maßnahmen wäre es dann zu spät, weitere Verödungen im Stadtkörper wären die Folge, das „städtische“ Leben würde verkümmern.

Aus den hier skizzierten Problemen ergibt sich eine Fülle von Aufgaben für die Stadtplanung und für eine konstruktive Stadtpolitik. Es gilt zum Beispiel, in den Außenzonen der Stadt die Voraussetzungen für eine planvolle Erweiterung zu schaffen; neue, moderne Wohngebiete und Betriebs-Baugebiete müssen errichtet und mit den notwendigen Einrichtungen, vor allem Zentren und Erholungsflächen, versehen werden, nicht zuletzt, um eine Umsiedlung der schlecht untergebrachten Bewohner und Betriebe der Innenbezirke zu ermöglichen.

Erneuerung tut not

Ferner muß im Inneren der Stadt eine allmähliche Auflösung der Gemengelage von Wohnstätten und störenden Arbeitsstätten angestrebt werden, sind dort ganze Gebiete zu erneuern, muß Raum geschaffen werden, damit die City Wiens nicht verkümmert und die notwendigen Verkehrsbauten verwirklicht werden können.

Wir dürfen eine räumliche Neuordnung nicht auf das Verwaltungsgebiet der Stadt beschränken, wir müssen den ganzen Raum Wien und die hier vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen verstehen. Ein Zusammenwirken zwischen Wien und Niederösterreich ist zwingende Notwendigkeit dafür.

Insgesamt müssen wir versuchen, durch eine Besserung der städtebaulichen Struktur des Wiener Raumes günstigere Bedingungen für das Wohnen und Wirtschaften zu schaffen, um auch so zu trachten, die Nachteile seiner ungünstigen Verkehrslage im EWG-Raum auszugleichen. Wir können sicher sein, daß in Anbetracht der Schwierigkeiten in den großen Ballungsräumen Europas — dem dort herrschenden Maß an Luftverunreinigung und Lärm, dem Mangel an gutem Trinkwasser, den meist geringen Erholungsmöglichkeiten — in Zukunft eine wohlorganisierte Stadtregion mit einem guten Wohnklima große Möglichkeiten haben wird, daß sie in zunehmendem Maße in der Lage sein wird, Menschen an sich zu ziehen.

Eine Untersuchung über die Motive der Zuwanderung nach München hat zum Beispiel ergeben, daß von Zuwanderern aus entfernteren Gebieten (zwei Drittel kommen heute aus diesen) als Hauptmotiv der hohe „Freizeitwert“ der Stadt genannt wird.

Zur Bevölkerung Wiens. Wieweit sich Wien in Zukunft entwickeln kann, wieweit Möglichkeiten genutzt und Schwierigkeiten gemeistert werden können, hängt wesentlich von der heute und künftig hier lebenden Bevölkerung und deren Leistungsfähigkeit ab.

Seit jeher ist Wien das Ziel überwiegend junger Zuwanderer, die eine notwendige Ergänzung an leistungsfähigen Kräften darstellen. Während zum Wanderungsgewinn vor dem Ersten Weltkrieg ein gleich großer Geburtenüberschuß hinzukam und die Bevölkerungszahl auf 2,1 Millionen schnellte, ist der Großteil des gegenwärtigen Wanderungsgewinnes zur Abdeckung eines Geburtendefizites notwendig, das auf die Kriegsverluste, die Verringerung der Fruchtbarkeit der Bevölkerung und auf die politisch bedingte Abwanderung nach dem Zusammenbruch der Monarchie und nach dem Anschluß an das Deutsche Reich zurückzuführen ist. Diese Vorgänge bewirkten einerseits den Rückgang der Einwohnerzahl Wiens auf 1,6 Millionen bis 1950 und deren seitherige Stagnation, anderseits eine zunehmende Überalterung der Bevölkerung, die nur langsam durch Zuwanderung ausgeglichen werden kann. Vor 1914 stand Wien praktisch die gesamte Donaumonarchie als Menschenreservoir zur Verfügung, heute kommen rund 60% der Zuwanderer aus Niederösterreich und dem Burgenland, die beide im Vergleich mit den übrigen Bundesländern bereits als überaltert gelten müssen und seit 25 Jahren spürbar an Bevölkerung verlieren.

Wien muß attraktiver werden

Es ist deshalb sehr fraglich, ob eine Zuwanderung junger Menschen nach Wien im erforderlichen Ausmaß in Zukunft weiterhin gegeben sein wird. Wien wird daher alle Anstrengungen machen müssen, um attraktiver zu werden, d.h. vor allem, um mehr Menschen aus weiter entfernt liegenden Gebieten anziehen zu können, wie dies auch in der Vergangenheit der Fall war. Eine verstärkte Anziehungskraft Wiens ais Wohn- und Arbeitsort ist um so notwendiger, als auch die vielzitierte dauernde Abwanderung hochqualifizierter Führungs- und Nachwuchskräfte an der Substanz zehrt und der Kampf der Arbeitskräfte nach der EWG-Assoziierung heftiger werden wird, weil die Römischen Verträge freie Wahl des Arbeitsplatzes im EWG-Raum garantieren.

Ein Vergleich mit dem äußerst dynamischen München, das seit 1910 auf das Doppelte, nämlich 1,2 Millionen Einwohner, angewachsen ist, zeichnet die Situation Wiens auf dem Gebiet der Bevölkerung besonders drastisch. Wien wuchs 1951-1961 um 12.000 Personen, München um eine Viertelmillion; da der Altersaufbau Münchens wesentlich günstiger ist (ein Sechstel ist über 60 Jahre alt, in Wien ein Viertel), tritt zu dem enormen Wanderungsgewinn von jährlich 30.000 Neubürgern bereits ein nicht unbeträchtlicher Geburtenüberschuß; Wien hat dagegen noch ein jährliches Geburtendefizit von 6.000.

Auf eine Reihe von Aufgaben wurde bereits verwiesen. Hier sollen einige wichtige konkrete Maßnahmen angeführt werden, in erster Linie solche auf dem Gebiet großräumiger Verkehrspolitik.

Zur Besserung unserer großräumigen Verkehrslage erscheinen, wie bereits angeführt wurde, Maßnahmen notwendig, die die zeit- und kostenmäßigen Auswirkungen unserer Randlage im EWG-Raum mildern, weiters muß durch entsprechende Ausbauten erreicht werden, möglichst viele europäische Verkehrsverbindungen über Wien zu führen. Je mehr „Lebenslinien“ Europas diesen Raum berühren, um so größer werden die Entwicklungsimpulse sein, die er erhält. Die Durchsetzung dieser Maßnahmen erfordert zum Teil eine stärkere gemeinsame Aktivität Wiens und Niederösterreichs gegenüber dem Bund.

Anzuführen sind: die Fertigstellung der Westautobahn und ihre günstige Eingliederung in das Wiener Verkehrsnetz, der Bau einer Autobahn von Linz nach Passau, um den Anschluß an die geplante Autobahn Passau—Nürnberg zu gewinnen und damit eine günstige Straßenverbindung Wiens mit dem wirtschaftlich so bedeutenden Nordwesten Europas zu schaffen; die Weiterführung der Westautobahn nach dem Osten, wobei man die Trasse so führen sollte, daß sie vor allem auch eine günstige Verbindung zu der sich stark entwickelnden Nachbarstadt Preßburg (1910 78.000 Einwohner, 1961 242.000 Einwohner, Ausbauziel 1980 rund 350.000 Einwohner) gestattet; der Bau der Südautobahn, wobei man bei der Festlegung ihrer Trasse und ihrer Anschlußstellen der Tatsache wird Rechnung tragen müssen, daß diese Autobahn künftig aus großen Teilen Ungarns als günstigste Verbindung nicht nur nach Italien, sondern auch über Wien nach dem Westen Europas genutzt werden wird.

Der Luftverkehr, vor allem zu den österreichischen Landeshauptstädten, wäre auszubauen, um diese stärker an Wien zu binden. (Die Reisezeit Wien—Bregenz beträgt heute einen ganzen Arbeitstag.) Auch die Verbindung zu den Zentren des EWG-Raumes, insbesondere nach München und Mailand, wäre zu verbessern. Unsere Luftfahrtpolitik müßte ferner trachten, dem Flughafen Wien jene Bedeutung und Frequenz zu verschaffen, die er auf Grund seiner Lage in Europa zweifellos haben könnte.

Um billige Massentransporte zu ermöglichen, ist die Donau als Wasserstraße und der Hafen Wien weiter auszubauen (Vertiefung der Wasserrinne auf 2,50 m, um die Benützung durch seefähige 3000-t-Schiffe zu ermöglichen). Bereits 1963 wurden zum Beispiel 48% des österreichischen Außenhandelsvolumens in die Oststaaten auf dem Donauweg befördert. Als die für Wien wichtigsten Maßnahmen sind der Bau des Rhein-Main-Donau- und des Donau-Oder-Kanals anzuführen, die nicht nur billige Massentransporte aus den EWG- und den nördlichen Oststaaten ermöglichen, sondern auch den Anschluß an die Nord- und Ostseehäfen.

Sowohl für die Stadt und den ganzen Stadtraum als auch für den weiteren Raum Wien, der fast ganz Niederösterreich und das nördliche Burgenland umschließt, ist ein auf die wechselseitigen Bedürfnisse Rücksicht nehmendes Konzept als Grundlage für eine zielstrebige Entwicklungspolitik notwendig. Nur so erscheint es möglich, alles neu Entstehende, ob es sich nun um Verkehrsbauten, Industrieanlagen oder Siedlungen handelt, sinnvoll in das bestehende Gefüge einzubauen und Schritt für Schritt eine neue, den Bedürfnissen der Zeit gerecht werdende Ordnung des Raumes zu erreichen.

Die Aufgaben und Ziele der Entwicklungspolitik und die Rangordnung der Maßnahmen müssen erkannt und erarbeitet werden, ob es sich nun dabei um die Stärkung von Notstandsgebieten in Niederösterreich (zum Beispiel das Waldviertel), um die Lösung der Wien und Niederösterreich gemeinsamen Probleme (zum Beispiel Abstimmung des Verkehrsnetzes, Erhaltung des Wienerwaldes) oder um Erfordernisse der Stadt selbst handelt.

Eine Voraussetzung dafür, insbesondere aber für jede konstruktive Entwicklungspolitik, ist ein Zusammenwirken der politischen Faktoren dieses Raumes zu dessen optimaler Gestaltung und zur besseren Ausnützung der darin liegenden Kräfte.

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