FORVM, No. 130
Oktober
1964

Wir brauchen Qualität

Am 25. Oktober finden in Wien Gemeinderats- bzw. Landtagswahlen statt. FORVM bat aus diesem Anlaß zwei prominente Vertreter ihres Faches, zu einem wichtigen kommunalpolitischen Thema Stellung zu nehmen.

Wer die Frage beantworten will, was — im Hinblick auf das Bauen — aus Wien wirklich werden sollte, der wird von vorhandenen oder wenigstens von erfüllbaren Voraussetzungen ausgehen müssen, wenn seine Antwort nicht von vornherein als Utopie abgetan werden soll. Es trifft sich gut, daß gerade über die wichtigsten Voraussetzungen städtebaulicher Entwicklung auf einer Tagung im Wiener Rathaus am 18.6.1964 von berufener Seite — dem „Institut für Raumplanung“ — festgestellt wurde:

Die bekannte Bevölkerungsabnahme der Stadt von 2,2 Millionen im Jahre 1910 auf derzeit 1,6 Millionen, Ergebnis von Geburtendefizit und mangelnder Zuwanderung, ist offenbar noch keineswegs abgeschlossen. Auch 1961 starben in Wien 6.515 Menschen mehr als geboren wurden. Zwischen 1951 und 1961 ist die Zahl der Volksschüler um ein Drittel, die Zahl der Berufstätigen um 5% gesunken, die der über 60 Jahre alten von 21 auf 24% gestiegen und sie wird weiter bis auf 27% steigen, so daß Wien im Jahre 2000 ohne Zuwanderung nur noch etwa 924.000 Einwohner haben wird. Angesichts der Tatsache, daß infolge der ungünstigen Bevölkerungssituation in den benachbarten Bundesländern mit ausreichender Zuwanderung nicht gerechnet werden kann, fällt die nachweisbare Daueremigration junger, begabter, ehrgeiziger und anspruchsvoller Kräfte um so mehr ins Gewicht, weil sie auch die Leistung der Stadt auf den entscheidenden geistigen Arbeitsgebieten dauernd schwächt.

Parolen ändern nichts

Was sollte also baulich aus einer Stadt werden, deren Gegenwart seit mehreren Jahrzehnten nicht nur als eine mindestens stagnierende, wenn nicht sogar regressive Entwicklungsphase hinter einer viel bedeutenderen Vergangenheit zurücktritt, sondern die jetzt und in naher Zukunft auch von offenkundig viel vitaleren Nachbarstädten mit rasch wachsender, jugendlicher Bevölkerung und expansiver Wirtschaft umgeben ist und sein wird?

Gewiß braucht man nicht besonders zu betonen, daß jede bauliche und städtebauliche Entwicklung stets nur der entsprechende Ausdruck wirtschaftlicher und politischer Voraussetzungen ist. Das ist nirgends deutlicher ablesbar als an den zwei großen städtebaulichen Epochen, die heute noch das Gesicht Wiens prägen: Das barocke Wien und das Wien der Ringstraßenzeit sind nur als entsprechendes Gefäß und Symbol für die Bedeutung der damaligen Metropole entstanden und verständlich.

An der im Vergleich dazu völlig andersartigen Situation der exzentrisch liegenden Hauptstadt eines relativ unbedeutenden Kleinstaates kann selbstverständlich auch der gute Wille — man denke an die bekannte „Weltstadt“Parole — nichts ändern, kann fehlende Voraussetzungen nicht ersetzen, sondern wird sie eher in ihrer ganzen Unzulänglichkeit nur noch fühlbarer machen, während anderseits auch wirklich bedeutende Epochen immer mit jener typisch wienerischen Ironie und Selbstkritik betrachtet worden sind, die auch Karl Kraus sein erstes Buch mit den Worten hat beginnen lassen: „Wien wird jetzt zur Großstadt demoliert.“ Wenn schon die letzte bedeutende Entwicklungsphase Wiens im Zeichen des Industriezeitalters von der Sorge um den Verlust des Gesichtes, der Eigenart der Stadt begleitet war — was soll angesichts der seither mehr oder weniger unentwegt fortgesetzten Demolierung noch werden können, welche spezifischen Aufgaben gibt und welche Lösungen verlangt die einleitend angedeutete wirkliche Situation des heutigen Wien? —

  • einer Stadt, die neben den kultivierten Gesichtszügen einer bedeutenden Vergangenheit an den repräsentativen Schauseiten von der Bodenspekulation der Jahrhundertwende viele Zehntausende Gangküchenwohnungen ererbt hat, in denen immer noch der größte Teil der Bevölkerung in „gemischten Baugebieten“ wohnt, d.h. in wahllosem Durcheinander mit Werkstätten, Garagen, Fabriken, Lagern usw., die also in ihren völlig unzulänglichen Kleinstwohnungen fast ohne sanitäre Einrichtungen auch noch unaufhörlich quälendem Lärm und Gestank ausgesetzt sind — Wohnverhältnisse, die eine gesunde Bevölkerungsentwicklung unmöglich machen;
  • einer Stadt, deren Bewohner sich infolgedessen begreiflicherweise mit vielfach bescheidensten Mitteln in zahllosen Kleingärten am Stadtrand erträgliche Sommerwohnungen im Grünen zu schaffen versuchen, damit aber die Erholungslandschaft und die Entwicklungsgebiete durch „wilde Siedlungen“ zerstört haben und immer weiter zerstören;
  • einer Stadt, deren wirtschaftliche Struktur auch im „Industriezeitalter“ weniger von der Industrie als vielmehr vom gewerblichen Klein- und Mittelbetrieb bestimmt wird, die bis heute mehr Residenz, Stadt der Verwaltung, der Bildung, des Fremdenverkehrs und des Vergnügens war — kurz die Stätte der „Dienste“, die nach Fourastier und seinen zahlreichen Anhängern das Industriezeitalter durch ein neues Zeitalter der „tertiären Wirtschaftsgruppen“ ablösen werden —, die sich also gleichsam durch ihre Vergangenheit schon auf halbem Wege in das angekündigte neue Zeitalter befindet;
  • einer Stadt, aus der man infolge ihrer dichten Verbauung noch immer sehr rasch eine Landschaft von beglückender Vielfalt erreicht, während die Stadt selbst in einer Kette historischer Siedlungen höchst urbanen Charakters in bester Lage — Mödling, Baden usw. — ihre ideale Fortsetzung in einem einzigartigen Landschaftsraum findet, der seit jeher als Raum Wien empfunden, behandelt und benützt worden ist, wenn er auch heute außerhalb der Stadtgrenzen, sogar außerhalb des Wiener Blickfeldes liegt und der nötigen Verkehrsverbindungen zu Wien entbehrt.

Was bedeutet das alles für eine Stadt, die — vielleicht glücklicherweise — nicht von der Peitsche steter Bevölkerungszunahme und Wirtschaftsexpansion getrieben wird, deren bauliche Entwicklung also nicht hinter einer stürmischen Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung herzuhinken braucht, sondern vielmehr vor der vielleicht viel dankbareren Aufgabe steht, nur bestehende schlechte Wohnungen, schlechte Arbeitsstätten und öffentliche Bauten durch bessere zu ersetzen, den Standard zu heben, statt dauernd Zuwachs unterbringen zu müssen. Daraus ist sicherlich zuallererst zu schließen, daß Wien hohe Anforderungen an die Qualität seiner Bauleistungen stellen müßte, damit diese auch wirklich auf weite Sicht in jeder Beziehung Verbesserungen bedeuten.

Deshalb sollten neue Wohnungen nicht nur wesentlich größer als die bisherigen sein, die bis heute weit hinter den tatsächlichen Haushaltsgrößen zurückbleiben, sondern in möglichst großer Zahl als Einfamilienhäuser in der sparsamen Form des Reihenhauses auf kleinen Parzellen mit der so wichtigen Ergänzung durch die abgeschlossene Sphäre eines kleinen Wohngartens entstehen. Die Erfahrung zeigt, daß sehr viele Vertreter besonders der jüngeren Generation bereit und in der Lage sind, zu solchen persönlichen Wohnungen auch finanziell entsprechend beizutragen, so daß diese ideale Hausform Privatkapital für die Lösung der Wohnungsfrage mobilisieren würde. Nur so könnten aus den wilden Siedlern legale Siedler gemacht werden und die weitere Umgebung der Stadt vor restloser Zerstörung bewahrt bleiben, nur so könnte eine geeignete Umwelt für Familien mit Kindern geschaffen und damit eine Wende in der so außerordentlich kritischen Bevölkerungssituation der Stadt vorbereitet werden. Freilich würde das bedeuten, daß die in letzter Zeit gegen das Einfamilienhaus erlassenen Bestimmungen auf dem Gebiet der Besteuerung und der Anliegerbeiträge nicht nur aufgehoben, sondern ins Gegenteil verkehrt werden!

Die Wiener Wohnungsfrage ist weniger eine Frage der Quantität — wir besitzen nicht zu wenige, sondern viel zu viele schlechte Wohnungen —, sondern eine Frage der Qualität. Eine entscheidende Verbesserung — und Umwandlung — des Wohnungswesens nach Wohnungsgröße, Hausform, Ausstattung, aber auch hinsichtlich Mietengesetzgebung, Besteuerung usw. ist jedenfalls die wichtigste Lebensfrage für eine Stadt in so prekärer Bevölkerungssituation. Aus Wien sollte also in erster Linie eine Stadt mit einigermaßen kultiviertem, den echten Bedürfnissen einer gesund aufgebauten Bevölkerung entsprechendem Wohnungswesen werden. Das bedeutet eine radikale Änderung der diesbezüglich bisher angewandten Methoden.

Die Lage muß genutzt werden

In und um die noch verhältnismäßig kleine und unterentwickelte Stadtregion Wien gibt es in idealer Landschaft noch genug Raum für eine solche Entwicklung, wenn die neuen Wohnungen entsprechend alter Wiener Tradition wie neuesten Erkenntnissen zu sparsam und geschlossen bebauten Siedlungen städtischen Charakters zusammengefaßt werden.

Dazu gehört aber vor allem eine von Wien und allen seinen Nachbargemeinden in engstem Einvernehmen unternommene Gesamtplanung, die jenen Raum umschließt, der heute vom Pendelverkehr und vom Nah-Erholungsverkehr erfaßt wird. Dazu gehört die Erschließung dieses Raumes durch Massenverkehrsmittel, vor allem im Wiener Becken, der Siedlungskette Wien, Mödling, Baden bis Wiener Neustadt.

Die sehr wichtige Versorgung der Wohngebiete durch kommerzielle und kulturelle Zentren aller Größenklassen kann an eine von alten Dorf- und Vorstadtzentren her immer noch lebendige Tradition, an die bekannte Bindung der Bewohner an ihren Wohnbezirk anknüpfen und diese Tradition weiterentwickeln, sowohl in Neubaugebieten als auch beider Entlastungder City durch drei neue Neben-Cities.

Unter solchen Umständen könnte aus Wien eine Stadt werden, die ihre klar begrenzten Wohnbezirke mit selbständigen Mittelpunkten organisch der vielfältig gegliederten Landschaft einfügt, ohne sie zu zerstören. Damit sind allerdings weder die Verpflichtungen noch die Möglichkeiten der Stadt erschöpft. Je weiter sie in die Landschaft hinausgreift, je mehr Landschaft sie in ihren Lebensraum einbezieht, um so wichtiger wird ihre Auseinandersetzung sein mit einer Landschaft, die in Zukunft nicht mehr Objekt amtlich-technischer „Regulierung“ sein dürfte — mit kanalisierten Bächen und abgeholzten Bäumen, planierten Baugeländen, Müll in den Mulden und Industrieabfällen in den Gewässern — und einem versiedelten Wienerwald!

Tradition verpflichtet

Sollte aus Wien nicht eine Stadt werden, die ihre Landschaft als Teil ihres eigenen Wesens pflegt? Die westlichen und nördlichen Wienerwaldbezirke sollten andersartig bepflanzt und bebaut werden als etwa die warmen und trockenen „pannonischen“ im Osten und Süden. Das würde eine Stadtlandschaft von einzigartigem Reichtum bilden, so daß man auf fragwürdig dekorative Bepflanzungsspielereien verzichten und damit das eigentliche Wesen dieser Stadt finden könnte; denn vielleicht gehört es zu deren erstaunlichsten Eigenschaften, daß sie trotz zahlloser Mißhandlungen an vielen Stellen immer noch ihren Charakter, immer noch das „typisch Wienerische“ bewahrt hat. Die taktvolle Einordnung aller, auch der großen Bauten in die Umgebung, die geschützte Intimität wohnlicher Häuser und Höfe, die Zwanglosigkeit der „G’stetten“ und nicht zuletzt die anregende Vielfalt der Landschaft — das sind wenig beachtete, aber entscheidende Voraussetzungen für die schöpferischen Leistungen der Stadt.

Sollte Wien nicht eine Stadt bleiben, die sich solcher Tradition des menschlichen Maßes, der privaten Sphäre echter Wohn- und Gartenkultur, des toleranten Umganges mit der Natur auch heute und morgen verpflichtet fühlt?

Aber müßte dann Wien nicht zuerst eine Stadt werden, in der Persönlichkeiten, die für das Bauwesen verantwortlich sind, sowohl ein gewisses Mindestmaß an Fachkenntnissen mitbringen als auch die Erkenntnis, daß bei diesen wichtigen Fragen nur die Qualität — und nichts anderes! — entscheiden darf, daß die Qualität einer Architektur aber nicht davon abhängt, an welcher Stelle der Warteliste einer amtlichen Architekturabteilung oder Genossenschaft ihr Schöpfer gerade rangiert? Sollte man nicht in Wien daraus wirklich Konsequenzen ziehen können, so daß künftig weniger Protektion, Bequemlichkeit und Mediokrität die Gesichtszüge der Stadt prägen als vielmehr der Geist zeitgemäßer Baukunst?

Hier allerdings dürften wir offenbar schon bei Voraussetzungen jenseits unserer seelischen Möglichkeiten angelangt sein. Vielleicht hat solche Erkenntnis Josef Frank zu der Bemerkung verleitet: „Wien kennt freilich all diese Probleme nicht, dort schaut fröhliche Dummheit aus jedem Fensterloch“ (in: Architektur als Symbol, Wien 1931).

Vielleicht sollte aus Wien dereinst doch eine Stadt werden, die nicht mehr zu solchen Bemerkungen herausfordert.

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