FORVM, No. 107
November
1962

Wissenschaft ist nicht Kultur

Zur Situation der österreichischen Forschung

„Trotz der wachsenden Erkenntnis dessen, was im Osten vor sich geht, bleibt die Wohlstandsgesellschaft des freien Westens den Hochschulen das gleiche schuldig, was die kapitalistische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts den Arbeitern schuldig geblieben ist: die Integration ihrer Existenz.“ Mit diesem Satz hat Unterrichtsminister Dr. Heinrich Drimmel (in einer Rede zur Eröffnung der Salzburger Hochschulwochen 1961) ein entscheidendes Problem formuliert, das nicht nur im Interesse der Hochschulen, sondern des ganzen Landes sachlich diskutiert werden muß.

Der Weg, den der Unterrichtsminister angedeutet hat, scheint aber nicht geeignet, zu der von ihm geforderten Integration zu führen. Die Hochschule müsse sich, sagte er, „bis zu einem gewissen Grad dem Staat entwinden so wie es die Kirche getan hat“.

Korrekt hätte von den Kirchen in der Mehrzahl gesprochen werden müssen. Doch dann wäre sogleich deutlich geworden, wie sehr der Vergleich zwischen Hochschule und Kirchen hinkt. Die anerkannten Religionsgemeinschaften sind in der pluralistischen Gesellschaftsordnung, in der wir leben und die wir bejahen, grundsätzlich einander gleichgestellt, wie verschieden sie an Größe auch sein mögen. Der katholischen Kirche sind die Katholiken verbunden, der evangelischen die Protestanten und den israelitischen Kultusgemeinden die orthodoxen Juden. Daneben sind gleichberechtigt jene, die keiner Konfession angehören, was keineswegs ausschließt, jeden echten Glauben bei anderen zu respektieren und die sittliche Macht anzuerkennen, die von den Religionsgemeinschaften auf ihre Mitglieder ausstrahlt. In Anerkennung dieser Tatsache leistet der Staat den Religionsgemeinschaften auf verschiedene Art Hilfe und gewährt ihnen eine gewisse Autonomie, da die Kirchenangelegenheiten in erster Linie die Gläubigen der jeweiligen Religionsgemeinschaft angehen.

Es erübrigt sich wohl, Beispiele dafür anzuführen, daß die Wissenschaft im Gegensatz zu den verschiedenen Religionsgemeinschaften die Allgemeinheit direkt und entscheidend berührt. Gerade in den letzten Dezennien hat sich diese Wirkung der Wissenschaft auf das Leben so vervielfacht, daß die These, eine moderne Industriegesellschaft müsse ohne wissenschaftliche Forschung verkümmern, zu einem Gemeinplatz geworden ist. Warum leidet in unserem Land die Wissenschaft dennoch Not, warum wurde sie von der Wohlstandsgesellschaft, zu deren Wohlstand sie so entscheidend beiträgt, nicht integriert?

Mitschuld trägt daran der Unterrichtsminister selbst, wenn er sich darüber beklagt, „die verstaatlichte Universität“ müsse es sich gefallen lassen, „daß man ihr mit dem Rechenstift in der Hand nachweist, ob ihre Funktionen Last oder Wohltat für die Volkswirtschaft sind“. Mit so pointierten Formulierungen wird die Integration der Wissenschaft nicht gefördert, sondern gehemmt. Damit verfällt man in den gleichen Fehler wie der Kapitalismus, der sich weigerte, die gesellschaftliche Stellung des neuen Standes der Arbeiterschaft anzuerkennen. Zur Integration der Arbeiterklasse, die Drimmel im Vergleich zu den Hochschulen anführt, ist es erst gekommen, als man sich bereit fand, die Funktion der Industriearbeiterschaft als Produktions- und Konsumfaktor, aber auch als neue mitgestaltende Kraft in der neuen Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen und die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Auf diesem Wege vollzog sich die Integration der Arbeiterschaft in die Industriegesellschaft, welche die gleiche Integration der Hochschule schuldig geblieben ist. Dabei ergibt sich ein bezeichnendes Paradoxon. Die Arbeiterschaft hatte geistige Führer von großem Format, die das Rüstzeug zu diesem Kampf lieferten und der Arbeiterschaft die Erkenntnis ihrer Lage und Bedeutung gaben. An den Hochschulen dagegen, an welchen sich wie nirgendwo anders im Land die geistigen Potenzen konzentrieren, ist man offenbar bis heute noch nicht zu jener Erkenntnis gekommen, welche der Arbeiterschaft die Kraft zum siegreichen Kampf gab. Die Hochschulen jammern zwar, daß sie zu wenig Mittel haben, sie demonstrieren sogar auf der Straße, aber ein geistiges Konzept für ihre Integration in die moderne Industriegesellschaft fehlt ihnen bis heute.

Notgroschen statt Nachdenken

Bezeichnend dafür ist der Ruf, den die österreichische Rektorenkonferenz 1960 an die Öffentlichkeit richtete: das Volk solle sich zu einem Notopfer bereit erklären. Als ob mit einer einmaligen Zuwendung das Problem auch nur angekratzt wäre! Die Wissenschaft, die von sich aus noch nicht zum Selbstverständnis gefunden hat, darf sich nicht wundern, daß die Öffentlichkeit ihr nicht die Integration der Hochschulen anbietet.

Die Wissenschaft war ursprünglich religiös gefärbtes Geheimwissen, von dem die Masse mit voller Absicht ausgeschlossen war. Dabei nahm dieses Geheimwissen praktische Bedeutung für sich in Anspruch, da es dazu beitrug, die höhere Macht gnädig zu stimmen und damit die Lebensbedingungen der Menschen zu erleichtern. In der griechischen Antike wuchs dann die zweite, bis heute gültige Wurzel der Wissenschaft: die Forschung um ihrer selbst willen, das Suchen nach der Wahrheit frei von jedem praktischen Ziel. In den ionischen Kolonialstädten, in welchen sich im 6. Jahrhundert v. Chr. solche Forschung erstmals entfaltete, war die geistige Bewegung weitgehend von der Priesterschaft unabhängig, und es war genug Reichtum angesammelt, um es einer sozialen Schicht zu gestatten, sich solcher Forschung zu widmen. Denn wirtschaftlich gesehen war für diese Epoche die wissenschaftliche Betätigung ein Luxus.

An dieser griechischen Wurzel unserer Wissenschaft erfahren wir in aller Kraßheit den Gegensatz zwischen dem reinen Suchen nach Wahrheit und der produktiven Tätigkeit, welche geringgeschätzt wurde. So schreibt Plutarch etwa über Archimedes, einen Mann, der immerhin so praktische Dinge wie den Flaschenzug erfunden hat: „Er hielt die praktische Mechanik und überhaupt jede Tätigkeit, die man des Nutzens wegen treibt, für niedrig und unedel.“

Kepler war einer der ersten, der den Grundsatz vertrat, es sei Pflicht, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Wohle der Menschheit zu „nutzen“. Auch Goethe hat diesen Gedanken geäußert, welcher demonstriert, daß die heutige Wissenschaft von ihrer griechischen Wurzel sehr verschieden ist. Die Verschiedenheit entspricht dem Gegensatz zwischen Staatsformen, in welchen die Sklaverei noch legitim war, und der modernen Demokratie mit ihrer völligen Gleichberechtigung aller Bürger.

Wissenschaft und Technik haben selbst die Voraussetzung für diese neue Ära geschaffen. Ihnen verdankt die Gesellschaft die Steigerung der Produktivität, welche die alte ständische Ordnung sprengte. Früher mußte die Masse der Bevölkerung mit ihrer Hände Arbeit die Werte schaffen, die es einer schmalen Schicht gestatteten, die Früchte der Kultur in Muße zu genießen. Die mittelalterlichen Verordnungen gegen eine zu luxuriöse Kleidung der Bauern, der Gegensatz zwischen Bauernkeusche und Schloß waren Ausdruck dieser „gottgewollten“ Ordnung. Auf dem Humus der Not der breiten Masse wuchs die Kultur, auch die Wissenschaft, als die stolzeste Blüte der Gesellschaft.

Für die Wissenschaft hat sich mit der Bildung der industriellen Gesellschaft die Lage ins genaue Gegenteil verkehrt. Die graue Masse von einst ist zum souveränen Staatsvolk geworden, das über seine Abgeordneten den Staat regiert und mit dem Budgetrecht des Parlaments auch der Wissenschaft die Geldmittel zuweist. Und die Wissenschaft ist zum Fundament der Volkswirtschaft geworden.

Der technische Aufstieg der Wirtschaft, welcher die gesellschaftliche Ordnung so grundlegend verändert, hat es bewiesen: die geistige Arbeit ist heute die eigentlich produktive, und die körperliche Arbeit, die einst materielle Werte schuf, verliert mit der Automatisierung immer mehr an Produktivität. Bildung ist heute nicht mehr wie einst, da sie noch unproduktiv war, ein volkswirtschaftlicher Luxus, sondern die Voraussetzung für produktive Tätigkeit.

Der große englische Chemiker Sir Humphrey Davy (1778-1829) führte seine Laboratoriumseinrichtung in einem Koffer mit sich, um auch auf Reisen arbeiten zu können. Dafür galten seine Vorträge, in welchen er seine Forschungsergebnisse bekanntgab, als ein „gesellschaftliches Ereignis“. Heute muß sich der ganze europäische Kontinent zusammenschließen, um bei Genf ein Zyklotron, das für viele Zweige der Atomforschung notwendig ist, zu bauen. Heute kostet ein einziger Apparat eines wissenschaftlichen Instituts ein Vielfaches des Sachwertes ganzer Laboratorien der großen Pioniere von einst. Das echte Elend der wissenschaftlichen Forschung ist ein eindringlicher Beweis dafür, daß diese Kosten in einem Kulturbudget, dessen Rahmen sie nicht nur finanziell, sondern auch grundsätzlich gesprengt haben, neben Literaturpreisen und Subventionen für Festspiele usw. nicht mehr unterzubringen sind.

Die Gesellschaft, für welche die Vorträge des Sir Davy ein Ereignis waren, existiert nicht mehr. Heute könnte sich kaum mehr eine Bevölkerungsschichte bilden, welche der Wissenschaft den gesellschaftlichen Rang von einst wiedergeben würde. Denn mit der fortschreitenden Spezialisierung entzieht sich die Wissenschaft dem Verständnis auch des gebildeten Laien und nimmt den Schein des Geheimwissens an. In einer Zeit, in der man sich, angesichts der fortschreitenden Spezialisierung, daran gewöhnt hat, daß Berufsleben und Berufsleistung des Mitmenschen sich einer Beurteilung durch den Außenstehenden entziehen, hat das alteingefressene Vorurteil von der Unproduktivität der Wissenschaft reiche Nahrung gefunden. Und dieses Vorurteil wird von der Wissenschaft noch dadurch genährt, daß sie sich weiterhin als Kulturfaktor präsentiert und im Gegensatz zu den meisten anderen Institutionen nichts unternimmt, ihre Leistungen für die Gesellschaft und die Volkswirtschaft der Öffentlichkeit zum Bewußtsein zu bringen.

Keine Wissenschaft von der Wissenschaft

Auch in ihrem eigenen Bereich scheint die Wissenschaft nicht besonders bemüht zu sein, ihre neue Situation in der modernen Industriegesellschaft zu erforschen. Der Verfasser suchte vergeblich nach einem Werk eines der bekannten Nationalökonomen, um seine Überzeugung wissenschaftlich bestätigt zu finden, daß die wissenschaftliche Forschung heute die Grundinvestition der Volkswirtschaft sei. Er fand nur eine Doktordissertation der Staatswissenschaften an der Grazer Universität, in welcher Dr. Dipl.-Ing. Gottfried Kübler ein System entwickelt, wonach sich die Forschung als Investition höchster Ordnung erweist. Er stützt sich dabei auf die allgemeinen Theorien von Menger, Spann und Böhm-Bawerk, kann aber in der 1960 erschienenen Arbeit kein einziges Werk zitieren, das sich mit dem von ihm behandelten Thema schon speziell auseinandergesetzt hätte.

Somit ist die Wissenschaft an ihrem eigenen Lebensproblem vorbeigegangen.

In einem modernen Industriestaat ist die Wissenschaft in ihrer Gesamtheit nicht bloß die stolzeste kulturelle Leistung eines Volkes, sondern zugleich Grundinvestition der Volkswirtschaft und der Gesellschaft überhaupt. Die Anerkennung der Forschung als Grundinvestition wäre der erste Schritt zur Überwindung der Not der Wissenschaft. Kein reeller Kaufmann darf es versäumen, für die Investitionen die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Auch der Staat könnte sich dieser Notwendigkeit nicht entziehen. Noch scheint aber an den Hochschulen selbst eine Scheu vor diesem Schritt zu bestehen, der nur die Konsequenzen aus einem bereits bestehenden Zustand ziehen und die Wissenschaft in die Lage versetzen würde, die längst übernommenen Aufgaben im vollen Ausmaß zu erfüllen.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)