FORVM, No. 226/227
Dezember
1972

Zur politischen Ökonomie der Kärntner Urangst

I. Die Wirtschaft

Die ökonomische Struktur Kärntens ist bestimmt von der Vorherrschaft kleiner und mittlerer Betriebe in Gewerbe und Handel sowie einem hohen Fremdenverkehrsanteil. Wesentliches Kennzeichen ist die industrielle Unterentwicklung des Landes:

  1. In Industrie und Gewerbe waren 1970 27,7 Prozent der Erwerbsbevölkerung tätig. Der entsprechende Prozentsatz macht in Niederösterreich 44,9, in Oberösterreich 46,5 und in Vorarlberg 50,8 Prozent aus.
  2. Im Baugewerbe sind 18,9 Prozent der Kärntner Berufstätigen beschäftigt. Im österreichischen Durchschnitt sind es 13,8 Prozent. Die niedrige Industrialisierungsrate der Kärntner Bauwirtschaft beruht auf einer hohen Ausbeutungsrate der Arbeiter. Sie erlaubt dem Baukapital, trotz überholter Arbeitsmethoden eine durchschnittliche Profitrate zu vereinnahmen.
  3. Mit über 16 Prozent ist die Agrarquote (Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung) in Kärnten besonders hoch. 47 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe sind auf einen übergeordneten Nebenerwerb angewiesen. Die relative Unterbeschäftigung von Arbeitskräften in der Landwirtschaft verschleiert das Ausmaß des strukturellen Mangels an Industriearbeitsplätzen.
  4. Zum Beispiel: Durch die Schließung des Lavanttaler Kohlebergbaues wurden 1968 1300 Arbeiter freigesetzt. Welche Beschäftigung haben sie gefunden? „Nur rund 400 ehemalige Bergarbeiter konnten auf einem Dauerarbeitsplatz untergebracht werden. Rund 150 haben eine Saisonarbeit im Bezirk angenommen, während etwa 300 Arbeitskräfte eine saisonbedingte Beschäftigung außerhalb des Bezirks ausüben. Bei einer Betriebsgründung im Raume Lavanttal stehen daher 500 männliche Arbeitskräfte (ehemalige Bergarbeiter) sofort zur Verfügung.“ (M. Posch, Probleme aus der Vergangenheit; in: Kärntner Tageszeitung/Jubiläumsausgabe, 9.10.1970, S. 31.)
  5. Verdüstert wird dieses Bild von der hohen Saisonarbeitslosigkeit: 12 Prozent der im Sommer unselbständig Erwerbstätigen sind im Winter arbeitslos.
  6. Bei ungefähr gleichbleibender Beschäftigungszahl ist in Kärnten ein ständiger Rückgang der Arbeitsplätze für Männer zu verzeichnen: In Industrie und Gewerbe ging der Anteil der männlichen Arbeitskräfte zwischen 1965 und 1969 von 65,6 auf 62,9 Prozent zurück. Der Anteil der weiblichen erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 34,4 auf 37,1 Prozent. Diese Entwicklung wirkt sich auf die Struktur der Arbeiterklasse aus. Ihr klassenbewußtester Teil — die männlichen Facharbeiter — ist zur Abwanderung gezwungen (von 1951 bis 1961 waren es bereits 29.000 Personen). Hingegen wird in den Fertigungsbetrieben der Elektroindustrie die ungelernte weibliche Arbeitskraft der Ausbeutung dienstbar gemacht.
  7. Die steigende Beschäftigung ungelernter Arbeitskräfte drückt auf das Lohnniveau im allgemeinen: 11,9 Prozent der Lohnarbeiter verdienen weniger als 1.275 Schilling. Insgesamt 66,4 Prozent müssen mit weniger als 4.000 Schilling ihr Auskommen finden. Der Großteil von ihnen verdient kaum 3.000 Schilling im Monat. Die weiblichen Arbeitskräfte sind in den unteren Lohngruppen überproportional vertreten.

Die Wirtschaftspolitik der Kärntner Landesregierung läuft hinaus auf die wirtschaftliche Unterentwicklung des Landes. Dem Ausverkauf von Produktionsbetrieben steht gegenüber die Unterstützung der Ansiedlung von Fertigungsbetrieben. Diese befinden sich in der Regel im Besitz von Auslandskapital, das sich die Rückständigkeit des Landes nutzbar macht. Wie in den halbkolonialen Ländern kommt es auch hier in den Genuß von Sonderbegünstigungen: ERP-Kredite, billige Baugründe, Steuerbegünstigung, niedriges Lohnniveau. Bei einer Aufhebung dieser Vorteile wandern solche Betriebe in der Regel in andere Entwicklungsgebiete ab. Statt die Wirtschaft des Landes auf eine gesunde Basis zu stellen, ist die Kärntner Landesregierung daher gezwungen, Strukturpolitik im Sinne des Auslandskapitals einerseits und der Fremdenverkehrsbetriebe anderseits zu machen. D.h. minimale Ausschöpfung des Arbeitskräftepotentials, um weiterhin über eine industrielle Reservearmee zwecks Lohndruck zu verfügen.

Das Ergebnis der Ungleichmäßigkeit und Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung, das Metropolen-Kolonien-Gefälle, prägt nicht nur das Verhältnis Österreichs zur Weltwirtschaft. Es setzt sich fort im Verhältnis Kärntens zur österreichischen Wirtschaft und kommt auch zur Geltung in Kärnten selbst. Die wirtschaftliche Situation zwingt die Kärntner Arbeiter zu hoher Mobilität. Sie drückt sich darin aus, „daß jährlich Hunderte Spitzenkräfte aus Kärnten in andere Bundesländer oder ins Ausland abwandern, weil sie im eigenen Land keine ihrem ‚Berufswert‘ entsprechende Verdienstmöglichkeit vorfinden“ (M. Krainer, Industrie darf die Landschaft nicht zerstören; in: a.a.O., S. 42). Mit Ausnahme von Klagenfurt und Villach sind sämtliche Bezirke von dieser Bewegung betroffen. Daraus erhellt, daß sich die beiden Städte immer deutlicher als die Metropolen des gesamten Bundeslandes etablieren. Während die nördlichen Landesteile sich in Abhängigkeit von beiden Kärntner Metropolen befinden, ist Südkärnten Klagenfurts Kolonie im engeren Sinn.

Die wirtschaftliche Lage der slowenischsprachigen Gebiete wird durch zwei Faktoren charakterisiert:

  1. Eine hohe Agrarquote (zwei Drittel der Gemeinden Südkärntens haben eine solche von 55 Prozent) bestimmt die Landwirtschaft zur noch heute wesentlichsten Einkommensaquelle.
  2. Die unselbständige erwerbstätige Bevölkerung ist zufolge struktureller Gegebenheiten bei ihrem Erwerb zum Berufspendeln gezwungen (M. Posch, a.a.O., S. 31).

Diese strukturellen Gegebenheiten sind namentlich zurückzuführen auf den Mangel an Investitionen in die Infrastruktur und bestehen in einem großen Rückstand in der elektrischen, verkehrsmäßigen und bildungsmäßigen Erschließung. Die Stilisierung Südkärntens als naturbelassene Fremdenverkehrsidylle hat zur Kehrseite die schlechtesten Arbeitsbedingungen für die Lohnarbeiter und die Orientierung der Region auf die deutschsprachige Metropole Klagenfurt.

II. Die Klassen

In Kärnten ist derKlassenantagonismus überlagert von einer chauvinistischen kleinbürgerlichen Ideologie. Das hat seinen Grund in der Klassenstruktur selbst:

  1. ist das Selbstbewußtsein der Lohnarbeiter durch den Rückgang qualifizierter Arbeitsplätze sowie die Existenz einer industriellen Reservearmee von Arbeitslosen und/oder in der Landwirtschaft Unterbeschäftigten gering;
  2. ist das Kapital wegen seiner mittelständischen Struktur (Dominanz von Klein- und Mittelbetrieben) zusehends von den Konzentrationsprozessen im europäischen Wirtschaftsraum bedroht.

Die Bauern sind ein konservatives Potential. Der hohe Anteil armer und Arbeiterbauern (47 Prozent sind auf einen übergeordneten Nebenerwerb angewiesen) allerdings reiht sie zum Teil ins „Vorproletariat“ ein. Wegen seiner zwiespältigen Lage ist es aber verunsichert und inaktiv.

Wo die Bauernschaft aus dem Fremdenverkehr Einnahmen erzielt, stellt sie sich an die Seite der Besitzer von Fremdenverkehrsbetrieben. Diese bilden eine extrem reaktionäre Fraktion der herrschenden Klasse. Die Arbeitsintensität ihrer Betriebe, die sie nicht rationalisieren können, interessiert sie an einer hohen Ausbeutungsrate der Arbeitskraft. Sie dringen daher auf generelle Niederhaltung der Löhne und Aufrechterhaltung der Saisonarbeitslosigkeit.

Das un- und unterentwickelte Klein- und Mittelkapital in Kärnten übt einen extremen Druck auf die Lohnarbeit aus, zumal da es selbst in die Mühle des österreichischen und internationalen Großkapitals gerät. Im Klassenkampf des Kapitals gegen die Lohnarbeit nimmt das Kärntner Proletariat eine besonders defensive Stellung ein. Es kann seine Position nicht ausbauen, weil es ständig von Freisetzung bedroht ist und seine besten Kräfte kontinuierlich in Industriezentren außerhalb Kärntens abwandern. Die Bauernschaft ist gespalten. Ein Teil fungiert als Trägergruppe des Kapitals; ein Teil ist proletarisiert, aufgrund der defensiven Position der Lohnarbeit neutralisiert und von der herrschenden kleinbürgerlichen Ideologie vereinnahmt.

Der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit prägt auch die Sozialstruktur Kärntens. Nur sind beide Pole schwach ausgebildet. Kleine Gewerbetreibende und Kaufleute, Besitzer von Fremdenverkehrsbetrieben und mittlere Unternehmer, auf dem Dorfe Gastwirte und Großbauern, Beamte und Lehrer sind Trägerschicht und Teil der herrschenden Klasse. Ihr materielles und ideologisches (Beamte) Interesse ist mit Lohndruck auf die Handarbeit verknüpft. Daher unterstützen sie die Aufrechterhaltung der Unterentwicklung insofern, als sie Aufrechterhaltung von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bedeutet.

Zu Widersprüchen innerhalb der herrschenden Klasse und ihrer Trägerschicht kommt es durch das Engagement des großen Industriekapitals im Lande. Auch diese Unternehmen nützen das niedrige Lohnniveau aus, verringern aber den Lohndruck, indem sie einer relativ großen Zahl von Arbeitskräften Dauerarbeitsplätze sichern. Immer mehr Arbeiter und Arbeiterinnen werden proletarisiert, ihre Mobilität nimmt zu, ihre Bereitschaft zur Abwanderung steigt und das Arbeitskräftepotential wird verringert. Kleingewerbetreibenden, Kaufleuten und Hoteliers gehen bewährte Arbeitskräfte verloren. Sogar Fremdenverkehrsbetriebe Unterkärntens sind zum Teil auf die Saisonarbeit jugoslawischer Fremdarbeiter angewiesen.

In Unterkärnten kommt die Sozialstruktur des Landes besonders rigid zum Ausdruck. Einerseits ist die Vorherrschaft der Dorfbourgeoisie unbestritten. Ihr kann nur angehören, wer, wenn er nicht deutschsprachig ist, seine Assimilationsbereitschaft zumindestens als „Windischer“ deklariert. Und anderseits ist die Lage der Lohnarbeiter (Pendler) und der Bauern (teilweise 55 Prozent Agraranteil; 47 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe haben übergeordneten Nebenerwerb) besonders schlecht. Für ihre Anstellung in den für sie erreichbaren Mittelbetrieben ist ebenfalls die Assimilationsbereitschaft Kriterium, soweit es sich um slowenischsprachige Kärntner handelt.

Schwäche des Proletariats, Bedrohung des „alten“ Mittelstandes und Einwirkung des großen Kapitals von außen, bedingen soziale Verhältnisse, wie sie der Nährboden des Faschismus waren. Diese soziale Struktur färbte auch ab auf die Kärntner Parteien. Der bruchlose Übergang vom Nationalsozialismus zur Zweiten Republik (Kärnten war darin vorbildlich) führte zur reibungslosen Einreihung der faschistischen Kader in die beiden großen Parteien. Vom deutschen Herrentum schaltete man zurück auf das Kärntner Volkstum. Das geht, wie der Ortstafelstreit im besonderen und die Deklassierung der Kärntner Slowenen im allgemeinen, „quer durch alle Parteien“.

Entsprechend dem Verhältnis von unselbständig und selbständig Erwerbstätigen ist die SPÖ stärkste Partei des Landes. Im Verein mit ÖVP und FPÖ ist sie darauf angewiesen, den wirtschaftlichen Strukturen des Landes Rechnung zu tragen: Vorsichtige Ansiedlung nicht zu großer industrieller Fertigungsbetriebe, um das Arbeitskräftepotential nicht auszuschöpfen, Benachteiligung Südkärntens im Ausbau der Infrastruktur usw. usf. Hat die Sozialdemokratie in Österreich die Funktion, der Monopolisierung des industriellen Großkapitals den Weg zu bahnen, so kommt der kärntnerischen die Aufgabe zu, die mittelständische Wirtschaft des Landes zu schützen. Daß dabei kein Spielraum bleibt für Arbeiterpolitik, versteht sich von selbst.

III. Der Kulturkampf

Während der Blütezeit der Kärntner Wirtschaft (15. bis Mitte des 19. Jahrhunderts) kam es im Nebeneinander von Slowenen und Deutschen zu keinen zugespitzten Widersprüchen. Freilich ging die sozio-kulturelle Akzeleration von den deutschen Städten aus und wirkte auf das zumeist von Slowenen bewohnte Land ein. Dementsprechend stammen die meisten Abstrakta und technischen Begriffe der slowenischen Mundarten, die in den Südkärntner Tälern gesprochen werden, aus dem Deutschen. Nationalitätenunterschiede kannte die statische Gesellschaft des ausgehenden Mittelalters nicht: In den Bauernkriegen kämpften deutsche und slowenische Bauern gemeinsam. Der Kulturkampf in Kärnten setzte erst ein mit dem Beginn der industriekapitalistischen Entwicklung. Sie reduzierte Kärnten auf den Status eines Agrarlandes unter Zerstörung der bis dahin blühenden Metallgewinnungs- und -verarbeitungsmanufaktur.

Um 1850 findet der Begriff der und des „Windischen“ — er stand ursprünglich synonym für Südslawen und ihre Sprache — erstmals ideologische Anwendung. Mit ihm wird der assimilationswillige Teil der Kärntner Slowenen bezeichnet, die sich ihrer Muttersprache nicht bewußt sind und durch die strengere Erfassung von der Grundschulbildung in die deutsche Sprachgemeinschaft hineingezwungen werden. „Windisch ist schiach“, hören die Schulkinder von ihren deutschsprachigen Lehrern. Die Abwertung ihrer Herkunft und Sprache weist ihnen gleich auch einen untergeordneten sozialen Rang zu. Bereits in der Monarchie wurde slowenischen Kindern ab der dritten Schulstufe nur mehr deutschsprachiger Unterricht erteilt, obwohl sie diese Sprache in den meisten Fällen erst in der Schule erlernen mußten.

Unter industriekapitalistischen Bedingungen wurde das Stadt-Land-Gefälle voll wirksam und national akzentuiert. Es zwang die Slowenen in die Abhängigkeit von der deutschsprachigen Mehrheit. Die kapitalistische Warenwirtschaft wirkte von außen auf das Agrarland ein und setzte die ihr adäquaten gesellschaftlichen Strukturen in Kärnten durch. Den Slowenen wurde dabei der unterste Rang in der sozialen Stufenleiter zugewiesen.

Die Unterdrückung durch das Kapital und die deutschsprachige Mehrheit rief nach der Auflösung der österreich-ungarischen Monarchie die Gegengewalt der unterdrückten Slowenen hervor. Gestützt auf das Oktobermanifest Kaiser Karls, das die Neugliederung des Reiches nach nationalen Gesichtspunkten vorsah, besetzten südslawische Truppen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Unterkärnten. Der Kärntner „Abwehrkampf“ endete damit, daß jugoslawische Einheiten Klagenfurt praktisch kampflos einnahmen und große Landesteile nördlich der Draulinie besetzten.

Am 10. Oktober 1920 stimmte die Bevölkerung des Abstimmungsgebietes A (Unterkärnten) auf Anordnung der Siegermächte des Ersten Weltkriegs über die Staatszugehörigkeit ab. Die Zone A war zu 70 Prozent von Siowenen bevölkert. 59,4 Prozent der Stimmen wurden für Österreich abgegeben. Die Hälfte dieser Voten stammte also von Slowenen. Eine Entscheidung für Jugoslawien hätte bedeutet, daß es auch in der Zone B zu einer Abstimmung gekommen wäre. Das Gebiet schloß z.B. Klagenfurt mit ein.

Für die militärische Niederlage durch die jugoslawischen Truppen machten die „Abwehrkämpfer“ die österreichischen Slowenen verantwortlich, obwohl diese mit ihren Stimmzetteln jene Schlappe wettgemacht hatten. In der Legende („Kärntner Heimatlied“) behielten allerdings die Verlierer die Oberhand: „Wo Mannesmut und Frauentreu / die Heimat sich erstritt aufs neu / wo man mit Blut die Grenze schrieb / und frei in Not und Tod verblieb.“ Die offizielle Ideologie hält noch heute daran fest, daß es des deutschsprachigen Kärntners Mannesmut allein war, der „Kärnten frei und ungeteilt“ erhielt.

Das Versprechen der Kärntner Landesregierung aus der Volksabstimmungspropaganda, den Slowenen völlige Gleichheit und Kulturautonomie zu gewähren, wurde in der Ersten Republik nicht gehalten. Durch die wirtschaftliche Lage in der Zwischenkriegszeit verstärkte sich vielmehr der Druck auf die Siowenen zur Assimilation. In der nationalsozialistischen Zeit wurden sie schließlich als Angehörige einer minderwertigen Rasse gerechnet. Obwohl es mit der „Rassenreinheit“ der deutschsprachigen Kärntner nicht weit her ist, spielten sie sich als Erznationalsozialisten auf.

1942 begann die Aussiedlung von mehreren hundert slowenischen Bauernfamilien, deren Söhne zum Teil in der Wehrmacht und an der Front waren. Aussiedlungen wurden auch in einigen sogenannten Führergemeinden vorgenommen, Gemeinden, die sich nach dem Anschluß einstimmig für Hitler ausgesprochen hatten. Den Aussiedlungen folgte der Beginn slowenischer Partisanentätigkeit in Südkärnten. (Übrigens der einzig ernstzunehmende Widerstand gegen das Nazi-Regime in Österreich.) Daraufhin häuften sich gegen Slowenen gerichtete Denunziationen. Die betroffenen Personen kamen in Konzentrationslager. Nach dem Zusammenbruch des Faschismus zogen sich die Partisanen auf jugoslawisches Gebiet zurück. Sie führten ortsansässige nationalsozialistische Rädelsführer mit sich, von denen 92 getötet wurden. Die Gewalt der Unterdrücker hatte zum zweiten Male die Gegengewalt der Unterdrückten ausgelöst.

In der Zweiten Republik wurden die Südgrenzen Kärntens und — auf dem Papier — die Minderheitenrechte der Kroaten und Slowenen im Staatsvertrag neuerlich bestätigt.

Während sich Österreich für die Rechte derdeutschsprachigen Südtiroler in Italien stark machte, wurde in den Schulen Südkärntens der zweisprachige Unterricht für alle Schüler aufgehoben (1958). Offenbar geschah dies als Ausgleich für die Gründung des slowenischen Gymnasiums in Klagenfurt (1957) — Unterrichtsminister Drimmel: „Das ist die Schule meiner Laune!“ Seither müssen die Eltern ihre Kinder jedes Jahr zum slowenischen Sprachunterricht neu anmelden. Lohnabhängige stehen dabei unter dem Druck ihrer „Arbeitgeber“, die immer wieder durchblicken lassen, daß sie die Pflege des slowenischen Kulturgutes nicht gern sehen. Der Slowenischunterricht wird an die letzte Schulstunde angehängt. Die Schüler versäumen deswegen den Autobus und sind den Anfeindungen ihrer nur deutschsprachigen Mitschüler ausgesetzt.

Die sozio-kulturelle Dominanz der kapitalistischen Metropolen in Kärnten wirkt als starker Druck zur Assimilation auf die sozial schwachen Slowenen. Ihm stemmen sich lediglich die slowenischen Pfarrer der Region entgegen. Sie haben in den Slowenen ihre treusten Schäfchen. Und ihm entgehen bloß die intellektuell gebildeten Slowenen. Durch den Bildungsfreiraum verkehrt sich ihnen das Erlebnis der Deklassierung in Nationalstolz.

Das deutschnationale Selbstverständnis der Kärntner, das ihnen immer wieder den Vorwurf einbringt, Faschisten zu sein — ein Irrtum, dem sie oft selbst erliegen —, ist teilweise ein Mißverständnis. Obwohl die Sozialstruktur in vieler Hinsicht dafür spricht, ist das Verhältnis von deutschsprachigen zu slowenischen Kärntnern eher das von Kolonisten zu Kolonisierten. Begriffe wie Rasse usf. werden bemüht, um eine „naturgesetzliche“ Überlegenheit der Unterdrücker zu beweisen. Das traumatische Verhältnis der deutschsprachigen Kärntner zu den Slowenen ist erklärbar aus dem zweimaligen offenen Ausbruch der Gegengewalt der „Kolonisierten“. In dieses Bild paßt auch die Existenz einer zahlenmäßig geringen slowenischen „Kompradorenbourgeoisie“; Großkaufhäuser in slowenischem Besitz werden immer wieder erwähnt, wenn man auf das Sozialgefälle zwischen deutschsprachigen und Slowenen hinweist. Zur Kolonialstruktur gehören auch die Assimilationsbereiten aus dem kolonisierten Volk: Die „Windischen“ wollen als Deutsche gelten, ohne von diesen für voll genommen zu werden. Mit einem herablassenden „Windische Sau“ werden sie oft genug an ihre Herkunft erinnert. Ihr Selbstverständnis ist überhaupt traumatisch.

Für deutschsprachige und „windische“ Kärntner gilt, daß durch die zweisprachigen Ortstafeln ihr Trauma aktualisiert wird. Die überdimensionale Erregung über die Aufstellung dieser Ortstafeln kann aber nicht allein daraus erklärt werden. Hinter den vordergründigen Argumenten — Abwehrkampf, Partisanen, Tito-Jugoslawien — stehen sozial-ökonomische Ursachen:

  1. Der Gegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit, Unterdrückern und Unterdrückten nimmt in Südkärnten nationale Färbung an. Die traumatische Angst der deutschsprachigen Kärntner vor den Slowenen ist vermittelt durch den Klassenantagonismus: Die Slowenen werden automatisch mit „Kommunisten“ gleichgesetzt.
  2. Die wirtschaftliche Unterentwicklung der Region trägt bei zur Spaltung der Arbeiterklasse: Deutschsprachige Lohnarbeiter können in ihrer Lage nicht auf den Vorzug von Privilegien verzichten, die sie über die Slowenen stellen. Als Nutznießer dieser Prinzipien bekennen auch sie sich zur antislowenischen Ideologie.
  3. Auf der Basis dieser antislowenischen Ideologie gelingt es der herrschenden Klasse, die Unterentwicklung der Region aufrechtzuerhalten. Der daraus resultierende Lohndruck kommt der gesamten Kapitalistenklasse zugute bis hin zur Dorfbourgeoisie des betroffenen Gebiets.
  4. Die deutschsprachige Mehrheit befürchtet einen Rekulturationsprozeß der slowenischen Minderheit: Das slowenische Gymnasium in Klagenfurt, dem ursprünglich keine lange Lebensdauer vorausgesagt wurde, garantiert die Heranbildung einer intellektuellen Elite der österreichischen Slowenen. Die Absolventen nehmen tendentiell in wachsendem Ausmaß traditionelle intellektuelle Berufe in Südkärnten ein (Ärzte, Lehrer, Pfarrer usf.). Damit könnte auf lange Sicht der deutschsprachigen Dorfbourgeoisie ein slowenischsprachiges Bildungsbürgertum gegenübertreten. Das müßte zu einem Aufleben des Selbstbewußtseins der Slowenen führen und auf die Dauer zu ihrer Gleichberechtigung mit den deutschsprachigen Kärntnern.

Indessen ist der aktuelle Anlaß für das Aufflammen des Kärntner Chauvinismus anläßlich der Errichtung zweisprachiger Ortstafeln in der Lage der österreichischen Politik und der internationalen Wirtschaft zu suchen. Die Assoziation Österreichs durch die EWG, die Konzentrationsbewegung des europäischen Kapitals und die steigende Inflationsrate bedrohen die Existenz der Klein- und Mittelbetriebe in Handel und Gewerbe. Da die Sozialdemokratie die Entwicklung des nationalen und internationalen Großkapitals fördert und gleichzeitig die Arbeiterschaft ruhig hält, hat der „alte“ Mittelstand einen breiten politischen Spielraum erhalten. Dies beweisen Ärztedemonstration, Unruhe unter den Lehrern, vor allem aber die jüngste „Aufklärungskampagne“ der Bundeswirtschaftskammer. Freilich ist der Mittelstand in die Defensive gedrängt. Gerade daraus erklärt sich aber, daß von dieser ökonomisch verunsicherten Schicht in Kärnten der „Aufstand“ inszeniert wurde. Denn mit den Ortstafeln wurde nicht nur an ihrem Trauma gerührt; sie fühlen die Grundfesten der Sozialstruktur des Landes erschüttert, und damit ihre Existenz.

Die Linolschnitte auf den vorangehenden Seiten sind Plakate aus der Zeit des Kärntner Abstimmungskampfes 1919/1920, angefertigt von der „Landesagitationsleitung“ Hans Steinachers (s. nachf. Aufs.).

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