FORVM, No. 361/363
März
1984

Zwischen Verstaatlichung und Wiedereinbürgerung

Die politische Kultur Österreichs und ihrer Intellektuellen aus ausländischer Perspektive

Bin ich bereits Österreich-geschädigt, oder hat die freundliche Einladung, zu diesem Thema zu sprechen, tatsächlich zwei Seiten? Erhofft man sich von mir einiges deutlich und offen auszusprechen, was Österreicher untereinander eher höflich umschreiben? Um mir dort, wo es möglicherweise wehtut, dann zu sagen: Hier irrst Du, aber als Ausländer kannst Du ja das und jenes nicht wissen? Ich habe mich rasch entschlossen, solchen Fragen nicht weiter nachzugehen, denn das wäre ja bereits ein Stück Einpassung in die hiesige politischintellektuelle Kultur, wie ich es nicht will.

Womit wir auch gleich schon bei dem Begriff wären, mit dem ich auch hier umzugehen habe. Eine a priori normative Fassung politischer Kultur, analog etwa zur Eßkultur habe ich nicht im Sinn, obwohl das ja gerade in Österreich nahe läge. Mir geht es beim Begriff der politischen Kultur eher um stilbildende Grundelemente im Selbstverständnis und der Auseinandersetzung sozialer und politischer Akteure, grundlegende Gemeinsamkeiten, die allererst Austausch und Konfrontation erlauben. Das schließt die Existenz besonderer politischer Teil- oder Subkulturen nicht aus, wehrt sich aber gegen Definitionsversuche, wie etwa die von Lyotard, wo diese Dialektik von kulturellem Pluralismus und Konsens in ein „Patchwork der Minderheiten“ aufgelöst wird, Freiheit sich im mehr oder minder beziehungslosen Nebeneinander von Teilkulturen realisieren soll.

Was aber ist zu sagen über das besondere der österreichischen politischen Kultur, wenn mir nach meiner Umsiedlung nach Wien zuerst immer auch das aufgefallen ist, was Österreich mit einer bestimmten internationalen politischen Kultur teilt, jenes Zelig-Phänomen in der professionellen Politik, über das Woody Allen in einem Interview sagt: „Schon sehen alle Politiker auf der ganzen Welt, egal ob sie schwarz, gelb, grün, rot, weiblich, männlich, jung oder alt sind, sie alle sehen so aus, als ob sie denselben Friseur, denselben Schneider, denselben Kieferorthopäden und denselben Chauffeur benutzen und dieselbe Mutter haben. Das ist eine entsetzliche Vorstellung, aber wir kommen nicht drumherum, uns damit auseinanderzusetzen. “ Nun lehrt der Blick auf einige österreichische Politiker, daß auch das nur eine Teilwahrheit ist. Wenn politische Kultur in Österreich jedoch auch in einem weiteren Sinne eine eigene Physiognomie besitzt, was soll ich noch in ihr erkennen können, wo doch das Thema vielfach hier im Lande selbst abgehandelt worden ist? — von solchen, die viel Erfahrung damit haben, aus der Handlungs- oder Betroffenenperspektive, wie immer man will.

1. Die übliche Lektion zur politischen Kultur in Österreich und was man daraus lernen soll.

Ich möchte also damit beginnen, zunächst die Lektionen zu rekapitulieren, die ich gelernt habe: politische Kultur in Österreich, Grundsätzliches in drei Kapiteln.

Kapitel I lautet wohl: ein starker Staat und ein schwaches Bürgertum. Der zentralistische Absolutismus der Habsburger Dynastie, ausstaffiert mit der Flexibilität seines regionalen Feudalismus, erzeugt bis zum Anfang dieses Jahrhunderts den Untertanen. Es kommt wohl noch dazu, daß Lenkung und Reglementierung von Kapital und Investition, wie ich mir habe sagen lassen, auch noch auf das Haus Habsburg zurück gehen. Die Folgen sind weitreichend — nicht nur, was die politische Bürgerfreiheit, sondern auch, was das Selbstbewußtsein des Wirtschaftsbürgers angeht.

Kapitel II: eine starke und gut durchorganisierte Arbeiterbewegung tritt das Erbe der Monarchie an. Eine Überschrift. die bewußt doppeldeutig gemeint ist. „Hofräte der Revolution“ — so sollen sich mit treffender Selbstironie die ersten Vertreter der Sozialdemokratie im Staate genannt haben. Der praktische Kampf um Emanzipation, den sie mit anführte, wurzelte in einer Welt der Arbeit, den Werten des sozialen Ausgleichs, der sozialen Sicherheit, der politischen Gleichberechtigung. Im „Lager“, der eigenen Welt des Austrornarxismus mit seiner Einheitsgewerkschaft, seinen Genossenschaften, Kultur- und Bildungsvereinen wächst etwas heran, das auch stilbildend für die österreichische politische Kultur werden sollte: das Nebeneinander einer recht radikalen Phrasenwelt und einer zähen, aber eher moderaten Reformpraxis. Mit der Verwaltung der Stadt Wien durchdringen sie einander und vermischen sie sich: die Institutionen der Bewegung und die des Staates.

Während durch den brutalen Einbruch des Faschismus und im Wiederaufbauklima der Nachkriegszeit vieles von den kulturellen Wurzeln der Bewegung in der Gesellschaft austrocknet, bleibt dies noch bestehen: das hoheitliche Partei-Staats-Institutionengemenge mit all den Fäden zwischen den Abteilungen sozialdemokratischer Stadtverwaltung, Arbeiterkammern, Fordinstitut usw.; dazu kommen seit der Ära Kreisky noch die Grundsatzabteilungen so mancher Ministerien und nicht nur sie. Es wird also zu einem Teil der politischen Kultur Österreichs, wie sie in Wien ihren konzentrierten Ausdruck findet, daß man nicht so recht weiß, wer hier den Marsch durch wen angetreten hat: die Partei durch die Institutionen des Staates oder umgekehrt. Beides ist wohl richtig.

Schließlich Teil III in der Grundsatzabteilung für politische Kultur — eine bestimmte Form, die Konsequenzen zu ziehen aus Lagermentalitäten und einer Art des politischen Kampfes in der Zwischenkriegszeit, die der jeweils anderen Seite das soziale und politische Existenzrecht abschneiden wollte — Sozialpartnerschaft und Proporz als institutionalisierte Kultur der Aushandlung und des Kompromisses. Dabei scheint es mir das besondere zu sein, daß sie hier in Österreich eben nicht nur im Gegenüber Unternehmer-Gewerkschaft, funktioniert, sondern quer durch die gesamte Gesellschaft im Gegenüber der zwei Lager: dem sozialdemokratischen Kräftefeld und jener bunten Mischung, die eher negativ definiert ist durch das, was der sozialdemokratische Kompromiß herkömmlicherweise nicht bzw. weniger einzuschließen vermag: Kleingewerbe und Kleinbürger, Bauern und Bonzen, Heimatliebende und Heimatlose, Kirchen- und auch Staatsdiener.

Soweit also die drei Lektionen, die aber erst vollständig sind, wenn man auch aufzählen kann, was für uns als politische Bürger und Intellektuelle insbesondere daraus zu lernen ist.

Die Quersumrne vieler Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden, zugleich meine erste eigene Beobachtung, die ich hier darlegen möchte, ist im Grunde kurz und einfach: Man kann halt nichts verändern als Intellektueller hier in Österreich. Politische Kultur mit den erwähnten drei Schichten legt sich lähmend über jede Initiative, die das übliche Schreiben, Forschen und Diskutieren überschreiten will. Da nun aber hier genau der Punkt liegt, wo der Tatmensch neuerer westdeutscher Prägung (Baujahr 68) sich nicht abzufinden vermag und widerspricht, werden die Gespräche auch an diesem Punkt regelmäßig intensiver, ja sogar ungemütlich. Nie bin ich in der Diskussion mit österreichischen Intellektuellen auf solche Begeisterung, ja Hitze gestoßen, als dann, wenn sie mir nachweisen, daß man nichts tun, gestalten, verändern kann.
Wobei es für diesen Schluß natürlich durchaus verschiedene Varianten und Begründungen gibt.

  • z.B. die eher sozialdemokratisch konservative: „Weißt Du, die Krisen und Umbrüche kommen alle ein paar Jahre später nach Österreich, was uns auch die Chance gibt, mit ihren negativen Folgen besser fertig zu werden“; die erste Vision des „man kann nichts verändern“ wäre also eher die des „man braucht eigentlich auch gar nichts verändern, sollte eher weiter tun wie bisher.“
  • oder z. B. die eher von einem „posthistoire“ Bewußtsein geprägte, intellektuell konservative Antwort. „Die Verhältnisse sind derart flexibel, daß sie wie Gummiwände wirken und das Übel der Integration lauert überall; auch neue soziale Bewegungen wird man integrieren; nein wirklich verändern kann man nichts, bestenfalls sich die Unabhängigkeit kritischen Denkens bewahren, eine Distanz zu allem, was einen da in Politik, will sagen in Kompromisse hineinzerren will.“

These: in diesen Arten von Antworten verbirgt sich zweierlei. Nicht nur die lastende Objektivität jener politischen Kultur, auf die sie sich berufen, sondern auch eine bestimmte Stellung der Intellektuellen selbst in dieser Kultur, die mir in ihrer Prägnanz österreichisch-spezifisch zu sein scheint.

2. Zwei Typen des Intellektuellen in der politischen Kultur und deren österreichische Ausfertigung.

In Österreich, so meine zweite eigene Beobachtung aus ausländischer Perspektive, ist eine Entwicklung deutlicher und anders ausgeprägt als in anderen Ländern: die Verstaatlichung eines großen Teils der intellektuellen Klasse. Eine Entsprechung findet sie in der Bekräftigung dessen, was ich den traditionellen Literaten- und Weltbürger-Intellektuellen nennen würde. Was meine ich mit beidem?

Objektives Kennzeichen des verstaatlichten Intellektuellen ist zumeist dies: ein fester Job in irgendeiner der zahlreichen sozialdemokratisch geschaffenen, erworbenen oder mitverwalteten Institutionen; subjektive Kennzeichen entsprechend einer so spezifierten „Klassenlage“ ist zumeist jene gemäßigte Reformzuversicht, bei der das „Du kannst halt nichts verändern“, in der ersten Variante buchstabiert wird: eher weitermachen wie bisher, wenn auch unter schwierigen Umständen; in diesem Bereich gibt es dann z.B. Zeitschriften wie die „tribüne“, wo man mehr oder minder anonym zu mehr offener Auseinandersetzung und weniger Kompromissen aufruft, einem zurück zu den austromarxistischen Quellen, wobei, es versteht sich, das ‚68er Erbe‘, „subjektive Betroffenheit“ und neuerlich auch der „ökologische Gedanke“ integriert sein müssen.

Der Raum für diesen Typus des verstaatlichten Links-Intellektuellen und die entsprechenden Diskurse entsteht durch die zwei erwähnten Besonderheiten österreichischer politischer Kultur: die schwach entwickelte „zivile“ oder „bürgerliche Gesellschaft“, die abseits des Journalismus und selbst dort den Intellektuellen wenig Brot zu bieten hat, drängt zu Staatsdiensten; und dort wiederum kann man sich mit milden Denkverboten begnügen, soweit es sich um die österreichische Zwitterform des sozialdemokratischen Parteien-Staates handelt — ein Wiener Phänomen vor allem, aber die interessanten regionalen Differenzierungen, die sich aus diesem Kontext etwa für einen Vergleich der Wiener und Grazer intellektuellen Kultur ergeben könnten, führen hier zu weit.

Objektive Bedingungen des zweiten, minoritären Typus, der Literaten/Weltbürger-Intellektuellen sind die Traditionslinien, die in das Wien der Zwischenkriegszeit mit ihrer internationalistischen »Intelligentsia« zurückverweisen. Aufs Österreich-Spezifische lassen sie sich seit jeher weniger oder anders ein, als die über die Partei an eine besondere regionale Wirklichkeit angebundenen Intellektuellen. Diese internationalistisch orientierte, woanders oft ausgebürgerte, auch im Wien der Zwischenkriegszeit nur in einer sehr spezifischen Weise eingebürgerte Intelligenz hatte ein breites Spektrum. Es reichte vom Typus des Bohémien bis zu dem sich gerade erst herausprägenden Typus des akademischen Sozialwissenschaftlers. Innerhalb dieser Traditionsstränge versuchen sich heute viele von denen zu verstehen, die in den verstaatlichten intellektuellen Arbeitsmarkt nicht eindringen können oder sich bewußt mit gelegentlichen Besuchen dort — zur Erlangung oder Abgabe eines Forschungsauftrages etwa — begnügen.

Subjektiv definiert sich diese zweite intellektuelle Teilkultur weit mehr als die erste über das Leiden an den Zuständen und durch eine radikale Opposition zu ihnen — radikal in dem Sinne, daß jenseits existentieller Selbstbehauptung nichts möglich scheint, weil einen eigentlich alles „anfrißt“: die biederen Sozialdemokraten ebenso wie die lodentragenden ÖVPler oder gar die Natur- und Heimatenthusiasten, die jemandem, der seinen eigenen ideellen Stammbaum in die intellektuelle Großstadtkultur des Wien der Zwischenkriegszeit, die Salons französischer Intelligenz oder auch die Zentren U.S.-amerikanischer social science verlegt, ganz selbstverständlich suspekt sein muß. Das Wort vom „heimatlosen Intellektuellen“ gilt hier nicht nur als konservativer Kampfbegriff, sondern es bezeichnet auch ein Stück Selbstdefinition.

Da dieser Typus des Literat-Weltbürger-Intellektuellen an den von der „anderen Reichshälfte“ wohl durchwegs erfolgreich verteidigten Universitäten die Ausnahme geblieben ist, kann er als „social scientist“ bestenfalls im Bereich gelegentlicher Forschungsförderung sein Auskommen finden. Man bleibt auf jene Staats- und Partei-Institutionen letztlich fixiert und verwiesen, von denen man sich distanziert oder marginalsiert wird.

Ich bleibe zunächst bei dieser zugegebenermaßen sehr rohen idealtypischen Zweiteilung, lasse Mischformen fort, wo etwa auch unter dem Schutz des Pensionsanpruchs der Zynismus gedeihen kann oder so manche unabhängige „literarische“ Intelligenz sich zur staatlich Garantierten mausern kann. Ich gehe auch nicht weiter auf die enge Symbiose dieser beiden Subkulturen ein, die einander ja brauchen und benutzen: die erste die Unbürgerlichkeit und geistige Provokation der zweiten zu Vergnügen und Entspannung, die zweite die erste als Verbindung bei Hof oder/und Aggressionsobjekt.

Wenn es also richtig ist, daß in Österreich diese zwei Grundtypen, also die aus der Familie Bauer & Adler hier und die aus der Familie Altenberg & Kraus dort dominieren, dann scheint meines Erachtens von diesen beiden Seiten her in der Fortsetzung ihrer eigenen Traditionen nur wenig an Anstößen ausgehen zu können für eine Veränderung oder Erneuerung politischer Kultur in Österreich.

Ja ich würde sogar behaupten, daß diese Erscheinungsformen des Intellektuellen selbst einen Teil des Beharrungsvermögens repräsentieren, das sie an dieser politischen Kultur so sehr beklagen. Der eigentliche Grund dafür scheint mir eben in diesem Wechselspiel von „Verstaatlichung“ hier und sich nicht einbürgern können/wollen dort zu liegen, aus dem nämlich etwas — und nun werte ich — für eine demokratische politische Kultur sehr fatales folgt: ein Bruch zwischen der politischen Kultur mit ihren Realitätsbildern und dem Sozialen mit seiner konfliktuellen Realität, ein Bruch, der die eh schon vorhandene Kluft zwischen dem Politischen und dem Sozialen noch weiter vertieft. Oder, um die Worte Rossana Rossandas einmal auf Österreich zu münzen:

Der Abgetrenntheit der politischen Sphäre werden wir, so fürchte ich, auch die Trennung der Kultur als Profession und soziale Schicht von jenem Realen hinzufügen müssen, von der sie doch als Bruchstück im wahrsten Sinn der bürgerlichen Gesellschaft („società civile“) bevorzugter Ausdruck sein sollte.

Ich will versuchen, im folgenden ein wenig plastischer werden lassen, wie sich für mich hier in Österreich dieser fatale Bruch zwischen der intellektuell geprägten politischen Kultur und dem Sozialen mit seinen Konflikten darstellt, der zu großen Teilen als das Produkt dieses Wechselspiels von Verstaatlichung und Nicht-Einbürgerung anzusehen ist.

3. Der verstaatlichte Intellektuelle

Es ist hier in Österreich für mich sehr viel augenfälliger geworden, was in anderen westeuropäischen Ländern verdeckter bleibt: der fast vollkommene Abriß aller Verbindungen zwischen dem linksintellektuellen politischen Diskurs und den in der Gesellschaft real vorhandenen Konflikten, Emotionen und Leitbildern. Nun ist die tatsächlich reich entwickelte politische Kultur des österreichischen sozialdemokratischen Reformismus mitsamt ihren theoretischintellektuellen Momenten ja gerade das Produkt eines intensiven Austausches zwischen dem Sozialen und dem Politischen. Intellektuelle wie Otto Bauer wirkten zweifellos auf die und unter den „Massen“ und umgekehrt: entlang einer realen Konfliktdynamik sozialer Bewegung hatten sich Theorie und Strategie des Austromarxismus zu beweisen. Der linksintellektuelle Diskurs pflegt aber nun diese Tradition als „geistiges Erbe“, ohne sich damit auseinanderzusetzen, daß dessen Produktionsbedingungen längst zerronnen, Beziehungen zwischen sozialen Konflikten und Intellektualität in diesem skizzierten Sinne zerrissen sind.

Mir ist im Österreich von heute keine bedeutendere soziale Aktion oder Bewegung, kein größerer Konflikt bekannt, der im Namen der Überzeugungen der sozialistischen Linken artikuliert werden wäre, umgekehrt aber auch keine bedeutendere intellektuelle Aktion, keine theoretischen Beiträge, die ihren Anstoß aus einem gesellschaftlichen Konflikt hierzulande erhalten hätten. Bei dieser Feststellung erlaube ich mir Nennings grünes Büchlein und Buseks „Aufforderung zu einer anderen Politik“ einmal als ein besonderes Kapitel beiseite zu lassen. Ich will nicht sagen, daß es keine linke intellektuelle Auseinandersetzung gäbe, schließlich gibt es der „Forvms“, „Tribünen“, „Neuen Linken“, „Zukünfte“ und wie sie heißen mögen, genug. Was ich sagen will, ist dies: daß ich den Eindruck habe, daß es sich hier um so etwas wie eine ablaufende Theatersaison handelt, in der die intellektuellen Akteure ihre Rollen und Stücke weiter spielen, obwohl das Publikum schon längst den Saal verlassen hat. Freilich, um im Bild zu bleiben: es kann weiter gespielt werden, da auch dieser Theaterbetrieb nicht vom Publikum lebt, sondern staatlich subventioniert ist.

Natürlich hat diese Situation für die Darsteller einen Nachteil: da sie das abwesende Publikum nicht beurteilt, müssen sie diese Beurteilungen an sich selbst durchführen. Man kann sich bei diesem Verfahren fürchterlich zerstreiten, aber auch über alle Gegnerschaft hinweg Gemeinsamkeiten pflegen — so etwas wie eine Korrektur der Diskurse durch die sozialen Konflikte aber ist verbaut, zumindestens gedämpft. So kann man also gewisse Stilelemente des Spiels bei unterschiedlicher Rollenverteilung — anpäßlerischer Bösewicht, standhafter Held usw. — fast beliebig lange beibehalten.

Wie gesagt: Stück, Spieldauer und Rollenverteilung dieses staatlich/parteilich subventionierten bzw. geduldeten intellektuellen Schauspiels haben sich längst vom Publikum emanzipiert, was nicht heißt, daß im Stück selbst nicht ein Publikum vorkäme oder zitiert würde. Wichtig für Veränderungen ist eher die Ausstrahlung anderer Bühnen, insbesondere der bundesdeutschen. Was und wie dort gespielt wird, hat in der Tat einen nicht zu unterschätzenden Einfluß. Ich darf nicht verschweigen, daß er auch mir bei meinem Wechsel nach Österreich zugute kam. Aber es kostete mich z.B. einige Mühe, zu verhindern, daß die einleitenden Referate zu einer Veranstaltung Österreichischer Soziologen über die Situation der Jugend in Österreich ausschließlich von bundesdeutschen Kollegen betrieben wurden. Trotzdem: ein deutscher Intellektueller blieb, sodaß man vor der Diskussion der Probleme der Jugend in Österreich sich erst einmal über die kontroversen Sichtweisen in der Bundesrepublik beugte und so schließlich Schwierigkeiten hatte, überhaupt noch zu Aussagen über Österreich zu kommen.

Ein solcher nicht mehr an reale soziale Akteure und Konflikte gebundener intellektueller politischer Diskurs wird selbstgenügsam im doppelten Sinne. Er vermag widerspruchsfrei die eigenen Traditionen zu pflegen und nähert sich dem Sozialen, also dem Volk, vornehmlich unter dem Etikett des besseren Wissens und der Pädagogik.

Das theoretische Wissen kann zunächst einmal dazu beitragen, sich selbst zu vergewissern und sicher zu machen. Definiert man die Probleme des Sozialstaats z.B. einzig und allein entlang jener Ansprüche, die einmal historisch in der Nachkriegsphase damit verbunden waren, dann sieht es in Österreich gar nicht schlecht aus. Das kann zu Situationen führen, wie der auf einer Konferenz unseres Instituts, wo eine österreichische Autorengruppe der internationalen Fachkollegenschaft dieses Landes gewissermaßen als ein sozialpolitisches Marzipanschwein servierte — und dabei mußte gar nicht die Unwahrheit gesagt werden, denn in der herkömmlichen Definition von Sozialpolitk und Sozialstaat findet man unter Ö eben nur die Ökonomie und nicht die Ökologie‚ unter T den technischen Fortschritt und nicht die Technikkritik, unter F die Finanzlage und nicht den Filz.

Das bessere Wissen über das Volk kann auch auftreten im Gewande der materialistischen Geschichtsauffassung. Herr Blecha erklärt angesichts der letzten deutschen Wahlen die besonderen Erfolge von Strauß in Bayern streng materialistisch: besonders viel Staatsinterventionen und -investitionen hat er gefordert, der Strauß, genau wie die SPÖ, und mit besonders viel Stimmen hat man es ihm gedankt.

Schließlich tritt das bessere Wissen aber auch im Sinne der geschärften historischen Erfahrung, z.B. darüber, wie links und rechts, konservativ oder progressiv zu unterscheiden sind. Nach dem Sündenfall Zwentendorf mit all seinen Folgen hat man offensichtlich jeder Wiederholung unkonventioneller Allianzen abgeschworen. Schau, so sagt mir ein guter Freund, wenn die Kronenzeitung gegen Hainburg ist, dann muß man ja eigentlich schon wieder dafür sein, ein, wie ich finde, bemerkenswerter Standpunkt, der auch auf möglicherweise verunsichernde Figuren wie Busek die eigene Erfahrung, d.h., die eigene Partei anwendet: Sollte Busek es tatsächlich ernst meinen mit seinem fortschrittlichen Programm, dann wird er spätestens an der Macht sich ändern müssen. Wird weiteres Nachdenken hier nicht abgeschlossen, dann erwehrt man sich der Zudringlichkeit aus unvermuteter Richtung anders. Nachdem sich erwähnter Busek quer durch ein Falterinterview aus den Reihen des neuen ökologischen Fortschritts partout nicht abdrängen lassen will, verweist man ihn auf die Haltung der ÖVP zum Feminismus, wo die SPÖ immerhin die Frau Dohnal besitzt. Das wirkt.

Materialistische Einsicht und historisches Wissen lassen sich dann schließlich auch in der pädagogischen Aktion an die Betroffenen heranführen: an den Ständen einer Aktion, die anläßlich des Papstbesuches zum Kirchenaustritt auffordert, erhalten die Interessenten eine fast Buch-lange bis hinter das Mittelalter zurückgehende Unterweisung über die objektive Rolle der Kirche und eine liebe Freundin erklärte mir den Sinn der Austrittsaktion‚ für die sie sich engagierte, u.a. damit, daß man so der Kirche von den Beiträgen etwas abzwacken und damit Macht und Einfluß dieser Organisation gewissermaßen von der materiellen Basis her packen kann. (Eine Unterschätzung des materialistischen Instinkts an der Basis selbst; nicht durch diese aufklärende Aktion beeinflußte Austrittsbewegungen sollen, wie zu lesen war, sehr erheblich sein; ein Zwischenhoch hatte die Kirche nur zur Zeit des Papstbesuches und eben dieser Austrittsaktion zu verzeichnen).

Genug der Bilder und Beispiele. Was ich damit illustrieren wollte ist einfach dies: die Verstaatlichung eines Großteils der intellektuellen politischen Kultur fördert und vertieft ihre beharrenden Elemente: der Bruch zwischen einer einmal auf Emanzipation verweisenden sozialistischen Tradition der Theorie und Strategie und den realen sozialen Konflikten und Akteuren von heute wird verstärkt und formalisiert, zugleich aber für die Intellektuellen weniger fühlbar und folgenreich gemacht: sie haben einstweilen die Möglichkeit, so weiter zu machen wie bisher. Sie selbst scheint das bislang ja kaum zu stören. Immer wieder gehört habe ich, wie einfach es in Österreich ist — im Vergleich zur BRD — Kontakte zu Ministerien, politisch Entscheidenden, den Repräsentanten der Macht zu knüpfen.

Nur selten hat man sich jedoch darüber beklagt, wie hart es in Österreich — wieder im Vergleich zur BRD — sanktioniert würde, wollte man jenseits des SPÖ-Patronats Verbindungen zu neuen Initiativen, Alternativen oder Grünen knüpfen. Distanz zu dieser Seite, dem Sozialen ganz allgemein, wird aber nun noch dadurch ergänzt, daß die Integration in Partei und Staat eher formeller Natur ist. Eine pragmatische Form der Politik und Verwaltung, die ebenfalls davon überzeugt ist, im Grunde weitertun zu können wie bisher, ist nicht gerade offen für intellektuelle Ratschläge, vor allem dann, wenn diese im doppelten Sinne „unpraktisch“ sind: fern der konfliktuellen sozialen Realität und fern der „entideologisierten“ Politik. Doch auch wenn diese Art der Integration durch Parteien/Staat nicht viel Perspektive und Trost zu bieten hat: wenn unbequeme und störende Entwicklungen und Sichtweisen in den Raum von Partei und Staat noch einmal einbrechen, wird sich dieser Typus des Linksintellektuellen wohl eher mit der Raison von Staat und Partei als der einer sozialen Gruppe oder Idee identifizieren. Dadurch, daß man solcherart garantierte Freiräume läßt, hilft man ihren Nutznießern schließlich, sich letztlich selbst überflüssig zu machen. Denn auch symbolische und Traditionswerte wie der linkssozialistische Diskurs sind nur von begrenzter Haltbarkeit, werden irgendwann nur noch in Vereinen zur Pflege sozialistischen Brauchtums zu retten sein, ein Weg, auf dem die KPÖ bereits Avantgarde ist.

4. Der nomadisierende Intellektuelle

Die andere Seite, gebildet von denjenigen, die ich als den Typus des Literaten/Weltbürger-Intellektuellen bezeichnet habe, wird nun durch die eben gekennzeichnete Situation reproduziert. Dieser herkömmliche Typus des Intellektuellen ist fortgesetzt und auch erweitert worden von denjenigen, die in der Krise der großen theoretischen Systeme neuerlich zu Dissidenten geworden sind. Auch ist der Schriftsteller von gestern heute oft der Intellektuelle als Kommunikator — Videofilmer, Medienexperte o.ä. Die Verstaatlichung der vorher besprochenen einen Seite mitsamt der Bindung des Denkens an Kompromiß und Tradition macht diese prekäre Situation der anderen Seite aus: Artikel in Zeitschriften hier und da, dem Forvm etwa, oder der für Zeitgeist zuständigen, fallweise Forschungsaufträge.

Auch ihr Problem ist das der Reproduktion unter veränderten Bedingungen, will sagen, außerhalb des Bestimmtwerdens durch ein soziales Machtzentrum, das nicht identisch ist mit den allemal vorherrschenden Mächtigkeiten. Sicherlich: es ist weder eine historische Wahrheit noch ein rechtfertigungsfähiger moralischer Anspruch, daß Intellektuelle auf dieser oder jener „Seite“, in einem bestimmten „Lager“ zu stehen hätten. Nicht leugnen läßt sich aber auch, daß jenes aufbegehrende Kraftfeld, welches sich mit den westeuropäischen Arbeiterbewegungen aufbaute, ein bestimmtes Spannungs- und Austauschverhältnis auch zu dem kritischinternationalistischen, auch negativen Denken an seiner eigenen Peripherie etablierte: Personen auf dieser Peripherie wie ein Benjamin in Deutschland, Kraus in Österreich, das Gesamtensemble dessen, was man heute als die Kultur der Moderne kennzeichnet, erhielten von einem solchen Kraftfeld aus Anstöße, bestätigten seine Realität selbst noch in der kritischen Abwendung davon, waren durch seine Vermittlung „eingebürgert.“ Dies ließe sich nicht nur an den von Haß und Nähe geprägten Beziehungen des erwähnten Karl Kraus zur Sozialdemokratie zeigen, sondern auch an der Beziehung einer sozialwissenschaftlichen Studie wie der Marienthal-Untersuchung zum Kraftfeld Arbeiterbewegung als Animateur oder Koordinatensystem. Seit aber dieses durch eine historische soziale Bewegung repräsentierte Kraftfeld verloren gegangen ist, müssen die angesprochenen Formen intellektuellen Denkens gewissermaßen nomadisieren.

Ein paar wenige versuchen, eine akademische Identität als „social scientists“ zu bekräftigen, sich an internationalen Standards zu messen, Modernität und Denkanstöße von außen zu importieren, oder auf der Suche danach zumindestens zeitweise abwandern zu können. Es ist ihr Pech, daß sie solche Sicherheiten gerade zu einer Zeit suchen, wo im Zuge einer allgemein gesellschaftlichen Verunsicherung das Bild des akademischen Wissens in Frage gestellt wird, international Wissenschaft und Wissenschaftler beginnen, an ihrer herkömmlichen Identität zu zweifeln. Der eher prekäre Bereich der NeoBohéme reagiert schon darauf. Hier orientiert man sich an jenem neueren französischen Denken, das sich bewußt unorthodox gibt, die Distanz zu jedweder Politik und Institution unterstreicht, bis zu dem Punkt, daß man bereits wähnt, zum Hofsänger erniedrigt zu werden, wenn der französische Literat und Regierungssprecher Max Gallo die Stimme der Intellektuellen fordert.

Diese Art kritischer Kritik, deren Elitebewußtsein weniger akademisch/ sozialwissenschaftlich als literarisch artikuliert ist, vermag sicherlich zu sensibilisieren, wo sie nicht nur einen kurzen Reiz auslöst. Und indem sie die schwarze Seite der Gesellschaft thematisiert, Verderben und Tod, List, Dekadenz, Betrug und Symbol, das also, was im moralisierenden Diskurs über das Soziale, den jede Linke pflegt, herausfällt, sind diese Formen der Intellektualität wichtig. Nicht zufällig ist dieser literarisch-journalistische Diskurs hier in Wien, so, wie ihn etwa Franz Schuh beispielhaft pflegt, eher „cool“ als „hot“ — um einmal Jack Kerouacs Unterscheidung aufzugreifen. Man bevorzugt weniger den überhitzten, irren, als vielmehr den depressiven, morbiden Stil. Auf Stilfragen aber kommt es mir hier weniger an, vielmehr auf dies, daß man auf die Dauer allem und jedem zu verfallen droht, wenn man es unterschiedslos zum Gegenstand kritischer Demontageversuche oder des affirmativen Aufgreifens macht, die Moden, die andere, und die, die man selber lebt.

Beide heutigen Spielarten des Literaten/Weltbürger-Intellektuellen, der an internationalen Standards orientierte social scientist wie der Literat, Experimentator, provokant unkonventionell Denkende, für den eher die internationalistische Subkultur Berlins oder die Salons von Paris die Standards setzen, suchen also Tradition zu wahren, indem sie — der Einbürgerungsmöglichkeiten der Zwischenkriegszeit beraubt — zu den Verhältnissen hierzulande erst recht auf Distanz gehend — nomadisieren.

Aber kann eine von außen importierte kulturelle Modernisierung, eine Internationalisierung der Kultur, emanzipativ erfahren werden, sich hier in Österreich einbürgern, wenn man sich nicht wirklich auch selbst als österreichischer Bürger zu redefinieren sucht? So ist schließlich der Import von Modernisierungsanstößen, sei es nun unter der Form wissenschaftlicher Formeln oder aber der „Blumen des Bösen“, selbst oft ein freudloses Geschäft. Und es bleibt ohne Perspektive, solange es gewissermaßen zur Geschäftsgrundlage gehört, daß seine Betreiber selbst dem Problem einer Wiedereinbürgerung aus dem Wege gehen. In der Bekräftigung einer Haltung kritischer Aquidistanz zu jedweden Konflikten und Akteuren hierzulande kann das ebenso geschehen, wie im Namen einer zu importierenden Modernisierung, für die Land und Leute kaum je selbst auch als potentielle Exporteure gedacht werden.

[Zwischenruf: Interessanterweise floriert aber der Export austriakischer intellektoider Literaten beziehungsweise Produkte, insbesondere in die BRD, auch des Forvm. Mich freut das — G.O.]

Ich kann also aus meiner Perspektive nicht anders, als die politische intellektuelle Kultur Österreichs im größten Kontrast zu der Zeit zu sehen, auf die sie selbstversichernd, kritisch oder ablehnend auch selbst immer wieder zu sprechen kommt: der Zeit des Roten Wiens der zwanziger Jahre.

Da gibt es in einem Dokumentarfilm, den ich neulich sah, ein Bild: Arbeiter tragen auf der Maidemonstration ein großes blumenumkränztes Transparent, worauf steht: „Wir sind die Zukunft“. Seien wir ehrlich: waren wir je weiter davon entfernt?
Weiter entfernt in einem doppelten Sinn: Vorstellungen von dem zu haben, was in der Zukunft auf uns zukommt und selbstsicher genug zu sein im Sinne der kollektiven sozialen Stärke und des Wissens, sich dieser Zukunft zu bemächtigen.

Grassieren nicht in Österreich gerade umgekehrt die Ohnmachtsgefühle und Zukunftsängste, aus denen sich ein regressives Sicherheitsbedürfnis speist, das die Politik der Parteien dann auch noch affirmativ aufgreift? Die sorgfältige Vermeidung von Zukunft, mitsamt ihren Konsequenzen für das intellektuelle Denken, wird so zum Geschäft der Politik.

Bliebe für uns Intellektuelle also nur der eine Ausweg, in Woody Allens Zelig-Film vorweggenommen und bereits als stilbildendes Mittel verwendet. Auf die Feststellung des Reporters, „im Film lassen sie Bruno Bettelheim und Susan Sonntag als ‚Analytiker‘ auftreten“ antwortet er: „Das ist doch die einzige Möglichkeit, die Rolle der Intellektuellen noch zu retten: man läßt sie sich selbst spielen.“

5. Die Benennung und Austragung von Konflikten — eine Vorbedingung der Wiedereinbürgerung des Intellektuellen im Prozeß der Erneuerung politischer Kultur

Da ich nicht bereit bin, mich mit dieser Lösung abzufinden und diese Unwilligkeit auch noch bei anderen vermute, möchte ich einen anderen Vorschlag machen: sich wieder mit Konflikten im eigenen Land zu beschäftigen, auf deren soziale, politische und intellektuelle Austragung hinzuwirken. Das klingt einfacher und banaler als es ist und so gelten meine letzten Anmerkungen diesem, wie ich meine, schwierigen Thema.

Weit eher als im engeren Bereich der von sozialwissenschaftlichen Intellektuellen dominierten politischen Kultur scheint dieses sich Einlassen als wichtigste Vorbedingung einer Wiedereinbürgerung von Intellektualität und Intellektuellen in Österreich in der Kultur selbst zu gelingen. Ja, man könnte sich vielleicht sogar einmal fragen, ob der Reichtum einer jungen und neuen österreichischen Kultur, die große Zahl junger Romanciers, die nicht unbedeutende Rolle österreichischer Filmer und Videoleute, von Architekten und populären Musikern nicht gerade damit zu tun hat, daß jene sozialen Spannungen und Konflikte, denen die Austragung in der verstaatlichten Kultur der Politik versperrt ist, umso lebhafter wirken im Sinne ihrer dichten kulturellen Präsenz. Um es mit ein paar einfachen Beispielen zu sagen: die Literatur eines Handke, die Lieder eines Heller, die Aufführungen eines Serapiontheaters, sie greifen auf ihre Weise jenen Konfliktstoff auf und bearbeiten ihn, der in der Politik und ihrer abgetrennten Staatskultur keine Aufnahme findet; sie sind hier eingebürgert, ohne doch provinziell zu sein. Vielleicht könnte man ähnliches auch zu einigen Erscheinungen im Bereich der Journalistik sagen, einem anderen, weniger staatsunterworfenen Bereich politischer Kultur — der „WIENER“ z.B., den ich gar nicht mag, auch er bringt bisweilen sonst nicht Thematisiertes zu Sprache, ist „WIENER“ und doch nicht nur das.

Überdies sollte man es sich überhaupt abgewöhnen, diesen traditionellen Begriff des Intellektuellen weiterzupflegen, von dem auch ich hier noch einmal ausgegangen bin, eben weil er in Österreich noch so deutlich präsent ist: den des ideologischen und Partei-Intellektuellen, des Literaten-Intellektuellen. Da gibt es z.B. die Vielzahl spezialisierter Intellektueller, die als Ärzte oder Naturwisschenschaftler sich heute auch in Österreich auf soziale Konflikte einlassen — wobei sie es zunächst einfacher haben, können sie doch Fachwissen zur Verfügung stellen. Das kann man in der Auseinandersetzung mit der Energielobby gut gebrauchen, ganz im Gegensatz zu einer sozialistischen Theorie oder gar einem politikwissenschaftlichen Fachwissen.

Außerdem: wenn es stimmt, daß die Zeit, die wir gegenwärtig erleben, die einer kulturellen und nicht nur die einer sozialen Transformation ist, dann heißt das auch, daß die veränderten sozialpolitischen Konfigurationen sich nur auf einem umgestalteten kulturellen Feld werden artikulieren können. Die kulturelle Veränderung ist deshalb heute vielleicht wichtiger als die soziale und politische. Die intellektuellen Repräsentanten eines weiteren Begriffs von Kultur wären auch aus diesem Grund den sozialwissenschaftlichen Intellektuellen weit voraus, die nicht so wichtig wären, wie sie sich oft nehmen. Aber schließlich gehöre ich nun einmal dazu, wie wir alle hier. Und was würde dieses Konflikte aufgreifen und austragen, speziell für uns als engagierte Sozialwissenschaftler bedeuten?

Um das ansprechen zu können, muß ich jedoch eine kurze Wertung und holzschnittartige Definition voranstellen: das Prädikat „demokratisch“ verdient eine politische Kultur in dem Maße, wie sie es erlaubt, die internen gesellschaftlichen Konflikte zur Anerkennung, Entfaltung und Austragung kommen zu lassen, sodaß die Gesellschaft weder daran zerfällt, noch gezwungen ist, sie zwanghaft zu integrieren bzw. auszugrenzen. Auf einer deutsch-französischen Tagung über politische Kultur hat es ein Journalist einfach auf die Frage gebracht: wo würden Sie abweichende und unorthodoxe Meinungen lieber vertreten wollen? Undemokratische Elemente entdecke ich in der österreichischen politischen Kultur demnach insoweit, als sie durch eine nicht zur Kenntnisnahme bzw. rasche „Erledigung“ Konflikte ausgrenzt oder unterhalb ihres möglichen Eigenwerts an der Entfaltung hindert. Zwei Beispiele, für das, was ich meine.

Ein erster Beitrag zur Aufarbeitung von Konflikten läge etwa darin, auch intellektuell einmal wirklich auszutragen, was in der Personalisierung und „Lösung“ des Konflikts Kreisky-Androsch verdrängt wurde. Ich würde vorschlagen, diesen Konflikt einmal so zu sehen: als letzte Etappe im Zerbrechen eines politischen Entwurfs, der Zukunft dadurch zu eröffnen suchte, daß er eine wirtschaftliche Modernisierung mit bestimmten institutionellen Reformen und einer Modernisierung der sozialdemokratisch zentrierten Fortschrittsthematik verknüpfte. Das große intellektuelle und politische Projekt Kreiskys, Sozialstaat und Modernisierung noch einmal im Sinne von Brot und Rosen verstehbar werden zu lassen, ist gescheitert, und es gibt heute kein Projekt, das sich auf dieser Ebene auszuweisen vermöchte. Die theoretische und praktische Herausforderung aber bleibt.

Wie sind in Österreich ein durch Personen wie Androsch repräsentierter neuer Typus des Unternehmens, der Investition und des Wachstums mit den ebenfalls neuen Formen von Subjektivität und Wertorientierung, wie sie sich in Themen wie z.B. flexibler Arbeitszeit, einem anderen Umgang mit äußerer und innerer Natur ausdrücken, in ein positives Spannungsverhältnis zu bringen?

Was braucht es hier in Österreich, um auf diese Weise die historischen Komponenten der „sozialen Bewegung“ und der „Modernisierung“ in ihren jeweils neuen Formen wieder in ein positives Spannungsverhältnis zu setzen und so die kulturellen und politischen Fundamente für eine neu definierte Wohlfahrt zu legen? Zu dieser politischen Frage entdecke ich in der österreichischen Politikwissenschaft keine Idee. Man handelt wie in der Partei: drängt Person (Androsch) und Problem aus der Vordertür heraus, um beides — nun aber unter dem Schein der unumgänglichen Notwendigkeit — durch die Hintertür wieder einzulassen.

Dann geht es tatsächlich nicht mehr um eine soziale Bewältigung der Modernisierung, sondern nur noch um risk-assessment, Technikfolgenabschätzung.

Sich auf Konflikte einlassen, als Beitrag zu einer Demokratisierung der politischen Kultur, das hieße wohl auch, die grünen Initiativen ernst zu nehmen, wobei ich nicht zuerst von Parteischildern, sondern von Bewegungen spreche. Ich möchte es mir nicht mit dem billigen Hinweis auf das konservative ländliche Österreich bequem machen, dem das eigene rote Wien in den 20er Jahren mit allen folgenschweren Konsequenzen fremd, lästig oder sogar bedrohlich wurde. Denn das hieße ja unterstellen, daß die als konservativ bezeichnete Subjektivität, aus der heraus grüne und ländliche Initiativen das Kraftwerk Hainburg oder ein touristisches Großprojekt bekämpfen, mit jener Art Konservativismus identisch wäre. Ich habe den Eindruck, daß hier Bewegungen und Widerstände, Teilnehmer an Konflikten einfach übergangen werden — nicht nur in der sozialdemokratischen Politik, sondern auch in der intellektuellen Auseinandersetzung. So ist man ja auch auf diesem Politologentag zur politischen Kultur in der Arbeitsgruppe „Alternative politische Kultur“ gleich Opfer einer doppelten Vereinfachung geworden: aus den neuen Formen sozialer Artikulation werden nur die mit dem Etikett „alternativ“ herausgenommen, und wenn man diese „Alternativen“ dann auch noch lediglich so betrachtet, wie sie jetzt sind, und nicht unter dem Gesichtspunkt möglicher Verwandlungen und Selbstveränderungen, dann kann es unter dem Etikett „Alternativkultur“ eigentlich gar keine Beunruhigung geben. Denn das, was da ist, so wie es ist, kann tatsächlich von der Politik als Randphänomen abgetan werden und von den Sozialwissenschaften als das 100-xste mögliche Forschungsfeld einverleibt werden.

Was aber, wenn man nach potentiellen Bedeutungen der scheinbar konservativen, grünen und alternativen Formen fragen würde, wenn man sie als Vorform sozialer Bewegung thematisieren würde? Wenn man sich ernsthaft die Frage stellen würde, inwieweit sie einmal in einer postindustriellen österreichischen Gesellschaft den Platz einnehmen könnten, den in der Geschichte dieses Landes eine Bewegung namens Arbeiterbewegung eingenommen hat? Nur dann, wenn man so fragen würde, wären die neuen sozialen Subjekte eine wirkliche Herausforderung, die zur Revision einer ganzen Reihe intellektueller Selbstsicherheiten führen könnten, wären sie zentrales Problem und nicht nur Spezialgebiet soziologischer Analyse.

Aber das wirkliche thematische Aufgreifen neuer sozialer Akteure und Konflikte, ihre Thematisierung nicht nur in der spannungslosen Form dessen was da ist, sondern auch der spannungsreichen theoretischen Form dessen, was sich da möglicherweise verwirklicht — das ist vielleicht noch die einfachere Seite des Problems. Die schwierigere scheint mir eher darin zu liegen, daß ein veränderter politischer und intellektueller Diskurs letztlich nicht denkbar ist ohne eine Veränderung seiner eigenen Produktionsbedingungen, sprich der politischen Kultur und der darin definierten Formen von sozialen Beziehungen, Selbstverständnissen und Organisationsformen. Berücksichtigt man das nicht, dann passiert einem eben das, was, so weit ich sehen kann, den bereits erwähnten Personen Busek & Nenning passiert, bzw. passiert ist — man wird zum Outsider, der Kritiker arbeitet und diskutiert in Zusammenhängen, die nicht auf ihn antworten, er bleibt getrennt von solchen, die antworten könnten, er läuft sich tot. Pflegen nicht beide als Politiker und Intellektuelle, Nenning hier und Busek dort, eine Selbsttäuschung, wenn sie je auf ihre Weise eine andere Politik einfordern, auf eine Artikulation und Austragung der neuen sozialen Akteure und Konflikte darin drängen und doch gleichzeitig ganz und gar in den Regeln, Institutionen und Sphären eines institutionellen Arrangments verbleiben, das solche Konflikte und Akteure nie gekannt hat, ihnen entfremdet ist? Nenning fühlt diese Probleme wohl auch, wenn er irgendwo bemerkte, wie streng und empfindlich diese Parteistrukturen ihm gegenüber einmal waren und wieviel (Narren)-freiheit sie heute lassen. Die richtigen Töne bei den falschen Leuten, so war neulich im FALTER über einen Busek-Auftritt zu lesen.

Sich auf Konflikte einlassen, nicht nur thematisieren, sondern auch aufgreifen und austragen können — das also ist wesentlich an eine Erneuerung politischer Kultur gebunden, die weniger durch die Staatlichkeit und Distanz des Intellektuellen als dessen Nähe und Verbundenheit mit dem Sozialen geprägt ist.

Gewendet auf die sozialwissenschaftliche Arbeit, die ja immer auch eine Beziehung, einen Dialog zwischen Analytiker und sozialem Objekt herstellen muß — wie kann heute solch eine Beziehung mit neuen sozialen Subjekten und Bewegungen aussehen, in der tatsächlich etwas zur Sprache kommt und nicht lediglich durch die Wissenschaft breitgetreten wird, was die Betroffenen über sich selber denken?

Auf diese Fragen einer Entstaatlichung und Wiedereinbürgerung — soll ich sagen Resozialisierung? — des intellektuellen Diskurses habe auch ich keine Antworten. Ich wäre aber bereits froh, wenn sie als Fragen hier in Österreich überhaupt gestellt und akzeptiert würden.

Immerhin gibt es Anlaß zur Hoffnung. Nicht allein die etwas zynische Erwartung, daß im Zuge der Modernisierung parteienstaatliche Freiräume enger werden oder auch umdefiniert, die Arbeiterkammer zu einem prognos-Institut, die IHS zu einem Management Institut, was im doppelten Sinne intellektuelle Potenz freisetzen könnte. Nein, Hoffnung auf Veränderung und Möglichkeiten der ersten Knüpfung von neuen Beziehungen zwischen Intellektuellen und sozialen Akteuren schöpfe ich aus den „bewegenden“ Effekten, die jetzt schon sichtbar sind: die Abtrennung zwischen Wissen und Moral, der Rolle als Fachmann und der als Staatsbürger, sie geraten heute in Unordnung und machen uns erst einmal weniger selbstsicher. Ich bin aber, wie ich gerade merke, schon allzusehr in Dozieren und Spekulieren gekommen. An diesem Punkt lasse ich mich gern von einer Aussage Alain Touraines bremsen, der irgendwo schreibt:

Eine kollektive Aktion kann nur dann über ihre gegenwärtigen Zielsetzungen und Werte hinausgehen, und das Vorhandensein eines kulturell Umkämpften erkennen, wenn die betreffende Kollektivität Vertrauen in ihre eigene Zukunft hat. Eine in der Krise befindliche Kollektivität dagegen kennt entweder nur die Defensive oder imaginäre Ziele, Utopien, die von den Ideologen gesehen werden. Aber die können auch ein Volk nicht aufrütteln, das eigentlich nichts anderes will, als sich gegen die Fröste der kommenden Nacht zu schützen.

Paßt das nicht auf Österreich? Ich meine schon, und schließlich, es entschuldigt uns ja alle auch ein wenig, nicht wahr?

Adalbert Evers, Jahrgang 48, früher Beckum, Aachen, Berlin, derzeit research fellow am „Europäischen Zentrum für Ausbildung und Forschung auf dem Gebiet der sozialen Wohlfahrt“ (unter den Auspizien der Vereinten Nationen) in Wien — uff — wird das FORVM gelegentlich wieder mit Beiträgen erfreuen. Politologen, auch deren Professoren, wird das FORVM für Stellungnahmen herzlich gerne Raum geben.

G.O.
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