MOZ, Nummer 57
November
1990

Frei sein, europäisch sein, nicht mehr neutral sein

Blau war der Himmel, schwarz-rot-gold die Fahne, gehißt nicht nur am Brandenburger Tor, dort schon schlimm genug, gemeint ist aber die am Wiener Rathaus, aufgezogen auf Wunsch des Wiener Bürgermeisters, erstmals seit 1938. Nicht, daß wir auch dazugehören sollten zum großen Reich, wollte Helmut Zilk ausdrücken, sondern bloß seine Freude über Deutschland, einig Vaterland, konterte er die massiven Proteste.

Freuen sollten doch auch wir uns, daß an jenem 3. Oktober „die Nachkriegsgeschichte“ getilgt wurde, wie allgemeines Geschichtsverständnis lehrt, oder gar, daß, wie etwa die „Presse“ sich versteigt zu behaupten, der Zweite Weltkrieg endgültig „liquidiert“ wurde. Zynisch und in Wahrheit unhistorisch sind derlei Proklamationen — als würde der Völkermord ungeschehen gemacht werden können; für Deutschlands Herrschende aber treffen sie zu. Getilgt wurden nämlich jene Folgen des von ihnen ausgelösten Weltenbrandes, der die deutsche Freiheit, wieder Weltmacht zu werden, beschnitt (wenn auch, wie sich zeigte, nicht stark genug).

45 Jahre danach hat Deutschland doch noch den Krieg gewonnen, ist nun auch machtpolitisch und militärisch „endlich frei!“.

Wien reagiert mit schwarz-rot-goldener Flagge und dem Anspruch, es Deutschland gleichzutun. Es gehe nicht an, daß wir, die wir doch Opfer NS-Deutschlands waren — und nicht etwa Komplizen — durch den Staatsvertrag nun stärkere Souveränitätseinschränkungen zu erdulden hätten denn die Deutschen, war allgemeiner Tenor. Von Haider war ebenso wie von Waldheim, von der SPÖ — Ausnahme Heinz Fischer — ebenso wie der ÖVP zu hören, daß es nun an der Zeit wäre, die Beschränkungen, die der Staatsvertrag enthalte, aufzuheben.

Das Wiener Außenamt hatte längst eine entsprechende Note an die vier Signatarstaaten vorbereitet, um die Annulierung der Artikel 12 bis 16 zu erklären. Es ist wohl Jörg Haiders lautem Nachdenken über die Neutralität zu danken, daß es zu Verzögerungen und Diskussionen kam. Denn es waren Wahlkampfzeiten, also befleißigten sich alle, den bösen Rechtsaußen zu schimpfen, dem diesbezüglich jedoch Unrecht geschah, sprach er doch nur aus, was die Regierenden selbst dachten.

Nachdem die Wahlen geschlagen sind, wird die Note schnell abgesandt. Jene fünf Artikel, die für obsolet erklärt werden, betreffen vorwiegend Militärisches — das Verbot für ehemalige Mitglieder nazistischer Organisationen, im Bundesheer Dienst zu tun, das Verbot von Spezialwaffen, das Verbot, deutsches Kriegsmaterial zu besitzen, das Verbot, zur deutschen Wiederaufrüstung beizutragen und schließlich das Verbot, Flugzeuge deutscher oder japanischer Herkunft zu besitzen — und sind von ihrem Inhalt her tatsächlich nicht mehr besonders bedeutsam: Erstgenannter Artikel hat sich mit dem Aussterben der Nazi-Schergen erübrigt, den zweiten hat Österreich durch den Ankauf von Panzerabwehrraketen ohnehin verletzt, der vierte ist nach dem Zusammenbruch der heimischen Waffenschmiede auch unaktuell geworden, bleibt das Verbot, deutsches Kriegsmaterial und deutsche Flugzeuge zu besitzen.

So oder so, weder für die Aufrechterhaltung noch die Beseitigung dieser Passagen lohnt es sich, die Stimme zu erheben.

Viel schlimmer ist, daß Österreich im Soge Deutschlands an der Uminterpretierung und Verdrängung der Geschichte mitmacht: Mit den einseitigen Annulierungen soll erstens demonstriert werden, daß auch wir es nicht mehr nötig haben, die Russen zu fragen, und zweitens die Aufhebung der Artikel 34 und 35 vorbereitet werden, die den Alliierten das Mitspracherecht in der Auslegung des Staatsvertrages einräumen, was etwa beim staatsvertraglich verbrieften Minderheitenrecht der SlowenInnen und anderer Minderheiten, aber auch beim Verbot des politischen oder wirtschaftlichen Anschlusses an Deutschland bedeutungsvoll ist.

In Wien weiß man natürlich, daß auch das — auf gut Österreichisch — eine „g’mahte Wies’n“ ist, denn die Signatarstaaten haben ohnehin nie von diesem Recht Gebrauch gemacht, und: Wer, bitte schön, sollte jetzt noch einschreiten? Die Sowjetunion, die nicht einmal Großdeutschland als NATO- und EG-Mitglied verhindern konnte (sofern sie es je wollte)? Oder sollten die Westmächte, die gerade Deutschland uneingeschränkten Handlungsspielraum zubilligten, sich beim unendlich unwichtigeren Österreich noch einmischen wollen? Wohl kaum.

Die Revision des Staatsvertrages ist eine innenpolitische Sache — es geht ums Selbstwertgefühl und nicht, wie bei den Deutschen, um Weltherrschaft — und sie ist auch ein Sieg gegen jene, die den Schwur: „Niemals vergessen!“ auf den Lippen tragen.

Die Neutralitätsdebatte hingegen ist ein Signal nach außen. Seit dem Beitrittsgesuch der Bundesregierung an die EG war die rot-weiß-rote Neutralität immer Thema von Stellungnahmen seitens verschiedener Repräsentanten verschiedener EG-Staaten. Zwar läßt sich keine klare Linie ausmachen — zu opportunistisch agierten die einzelnen Staaten und in ihnen verschiedene Parteien —, das Resümee, daß Neutralität und EG-Recht so einfach nicht zusammenpassen, wie man es sich in Wien vorstellte, ist durchaus zulässig.

Woraus folgt, daß — da Regierung und Sozialpartner fest entschlossen sind, den Schritt westwärts zu tun — die Neutralität dem Anschluß geopfert werden muß. Die nur scheinbar von Jörg Haider ausgelöste Debatte dient nicht der Meinungsbildung, sondern der Manipulation: Denn es muß die Bevölkerung, von der mehr als vier Fünftel strikt an der Neutralität festhalten wollen, umgestimmt werden.

Ist das Ziel auch ein der SPÖ, ÖVP und FPÖ gemeinsames, so tun sich auf dem Weg dorthin noch Differenzen auf. Manche wollen die Neutralität so lange umdefinieren, bis sie nur noch als sinnentleertes Markenzeichen stehenbleibt, andere wollen sie erhobenen Hauptes ausradieren. Für erstere Denkschule steht etwa Peter Jankowitsch, profiliertester Außen- und EG-Politiker der SPÖ, der Neutralität darauf reduzieren will, daß Österreich keinem Militärbündnis angehören und keine fremden Truppen auf seinem Territorium dulden dürfe, zweitere Linie vertritt etwa Erich Reiter (FPÖ), Leiter der Rechtssektion im Verteidigungsministerium, der eine „völkerrechtlich einwandfreie Weise“ zur Beendigung der Neutralität urgierte, da sie nicht die Zukunft, sondern „das Los der Vergangenheit“ darstelle.

Die Diskussion um die Neutralität ist eine um die zukünftige Stellung Österreichs in Europa. Sollen wir „Nachbar eines vereinten Europas“ werden, wie ein Kommentator im „Standard“ befürchtet, oder sollen wir dazugehören? Sollen wir Europäer werden oder Neutrale bleiben?

Europäer sein, das heißt, die „gleichartigen Interessen der Industrieländer“ (Reiter) anzuerkennen und sie zu den eigenen zu machen, diesen Konsens finden Reiter und Jankowitsch schnell. Auch über den Kern dieser Interessen herrscht Einverständnis: die Absicherung der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung. Reiter formuliert bloß ein bisserl strenger: Österreich müsse sich entscheiden, ob es im Nord-Süd-Konflikt neutral sein will und damit „neutral sein will gegen seine eigenen Interessen“, Jankowitsch hingegen meint, Neutralität in einem Konflikt setze voraus, daß beide Streitparteien mehr oder weniger legitime Interessen hätten. Am Beispiel Golf exerziert er sein Verständnis vor: Hie zivilisierte Staatengemeinschaft, da ein gefährlicher Irrer — also nur ein legitimes Interesse, also keine Neutralität.

Ein Gedankenspiel: Angenommen, Nicaragua wäre noch sandinistisch, weiters angenommen, Jankowitsch bliebe bei seiner solidarischen Haltung diesem Nicaragua gegenüber, drittens angenommen, die zivilisierte Staatengemeinschaft bekämpfte dieses Nicaragua offen, was würde Jankowitsch wohl mit seiner Neutralitätsdefinition anfangen?

Wie gut, daß sich die Frage nicht mehr stellt, wie gut, daß es die Blockkonfrontation nicht mehr gibt.

Was darauf folgt, die neue europäische Friedensordnung, klingt zwar besser, ist es aber nicht. Sie umschreibt nur das — relativ geschlossene — Agieren des Nordens gegen den Süden, der industriellen und also kapitalistischen Staatengemeinschaft gegen auch nur im Ansatz opponierende Staaten. Erich Reiter hat Recht: Wer sich zur „Staatengemeinschaft“ bekennt, ist nicht neutral.

In diesem Sinne war es Österreich auch nie. Doch die geringen Spielräume, die für kleine Staaten bestanden, schmelzen in dem Maße, als der „american-european-japanese way of life“ zur Totalität wird.

Neutral zu werden hieße, sich dem wachsenden Zwang dieser Integration zu widersetzen.

P.S. Entfallen muß diesmal leider der Comics. Unser Zeichner Staubheimer wurde von der Republik Österreich vorübergehend aus dem Verkehr gezogen und als Zivildiener kaserniert. Wir bedauern.

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