FORVM, No. 215/I/II
November
1971

Warum Max Adler nicht Ordinarius wurde

Von 1919 bis 1930 gab es in Wien einen antisemitischen Geheimbund, der Juden, d.h. also liberale Intellektuelle, aus Öffentlichen Stellungen drängte und CV-er wie schlagende Burschenschafter auf freiwerdende Positionen hievte. Dieser Verein hieß „Deutsche Gemeinschaft“ und war ein Aftermieter des „Deutschen Klubs“, einer wichtigen Schaltstelle deutschnationaler Betätigung im Hinblick auf den Anschluß. Kanzleisekretär dieser „Deutschen Gemeinschaft“ war jahrelang Engelbert Dollfuß, ihr politisch führender Funktionär Arthur Seyß-Inquart, der spätere Kanzler von Hitlers Anschluß-Regierung. [1] Mitglieder der Deutschen Gemeinschaft waren akademische Freiberufler, Rechtsanwälte, Ärzte, Universitätsprofessoren, aber auch einige Regierungsmitglieder der Ersten Republik. Man bekämpfte die Liberalen unter dem Titel „Juden“ mit der Deckbezeichnung „Die Ungeraden“, und die Mittel waren „Gelbe Listen“, geheime Absprachen und ausgemachte Lehrstuhlbesetzungen.

Aus den Protokollen der „Fachgruppe Hochschullehrer“ der Deutschen Gemeinschaft bringen wir die Stellen, welche sich auf die Verhinderung einer Berufung Max Adlers zum Ordinarius beziehen (Mikrofilme aus amerikanischen „Beuteakten“ im Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien):

Deutsche Gemeinschaft, Fachgruppe Hochschullehrer, Sitzung vom 4. Feber 1926:

Fall Adler: Seine Ernennung wurde vom Professorenkollegium abgelehnt, doch erhält er vom Ministerium monatlich 700 S. Das kompromittiert die Sozialdemokraten und den Unterrichtsminister in gleicher Weise. Der Fall muß angerempelt werden. Das beste Agitationsmittel gegen Adler wäre, sein Bild in Umlauf zu bringen. Man muß in künftigen Fällen bei Ernennungen usw. den Fall Adler als Pressionsmittel benutzen. Prof. Klein übernimmt es, Prof. Hugelmann zu veranlassen, den Fall Adler in der Presse zu beleuchten; Klein wird sich bei Pernter erkundigen, ob der Unterrichtsminister ein offizielles Schriftstück von irgendeiner der Universität nahestehenden Stelle besitzt, das sich für Adler einsetzt; Klein wird die deutsche Studentenschaft veranlassen, wegen Adler beim Rektor vorzusprechen. [2]

Bei dieser Sitzung waren unter anderen der Altgermanist Prof. Much sowie Doktor Emmerich Czermak, der spätere Unterrichtsminister (1930—1932) und Obmann der christlichsozialen Partei (1933— 1934), anwesend.

Im Bericht des Prof. Klein vom 20. Februar 1926 über seine Vorsprache im Unterrichtsministerium heißt es:

Max Adler. Aus den vorgelegten Akten usw. entnehme ich: Das Kollegium der juridischen Fakultät hat selbst A. für eine Subvention vorgeschlagen. Adler die 3 Mill. [3] pro Monat abgewiesen. Ahrer [4] bei den Verhandlungen die Zustimmung der Opposition durch Erfüllung von sieben Forderungen erkauft, darunter A. sieben Mill. Ahrer bewilligt, Unterrichtsmin. dagegen. Zwei Vertreter der Fakultät (Spann) selbst zugestimmt. — Also nichts zu machen.

Es wird versichert, daß dies das kleinste Übel. Opposition saturiert (?).

Adler von einer Lehrkanzel ausgeschlossen.

Wurde gebeten, mit Rücksicht auf wichtigere Dinge dem Minister nicht noch größere Schwierigkeiten zu machen.

Ihr ergebener Klein [5]

Die antisemitische Mafia hatte also ihr Ziel erreicht: Max Adler war nicht Ordinarius geworden. Als Entschädigung bekam er den Gehalt eines solchen. Selbst dieser Kompromiß war einigen der „Geraden“ noch zu weich, wie das Protokoll der Fachgruppe Hochschullehrer vom 4. März 1926 beweist:

Zum Fall Adler wird berichtet, daß das Unterrichtsministerium die Zuweisung der Remuneration auf Grund einer offiziellen Eingabe vorgenommen hat, deren genaue Beschaffenheit noch festzustellen ist. [6]

Diese protokollarische Aufzeichnung stammt vom nachmaligen christlichsozialen Unterrichtsminister und Parteiobmann Emmerich Czermak.

Die äußeren Daten

Geboren am 15. Jänner 1873 in Wien, Promotion zum Dr. jur. 1896, Rechtsanwalt, Habilitation für Gesellschaftslehre, Theorie und Geschichte des Sozialismus an der juridischen Fakultät der Wiener Universität 1920, titular-außerordentlicher Professor für Soziologie 1921, gestorben am 28. Juni 1937 in Wien.

Max Adler, der Kant mit Marx zu vereinen suchte, gilt als „der“ Philosoph des Austromarxismus. Er war regelmäßiger Mitarbeiter des theoretischen Organs der Sozialdemokratie „Der Kampf“, und zusammen mit Hilferding Herausgeber der „Marx-Studien“, die ab 1904 erschienen und die grundlegenden Werke der austromarxistischen Schule enthielten.

Max Adler war Mitglied der „Freien Vereinigung sozialistischer Studenten“ und des „Sozialwissenschaftlichen Bildungsvereins“, wo auch Renner, Friedrich Adler, Hilferding, A. Braun, G. Eckstein und Leo Trotzki anzutreffen waren. Adler trat zuerst mit einer Kritik an der Revision des Hainfelder Programms hervor (Verelendungs-These). Im Ersten Weltkrieg gehörte er zur linken Gruppe um F. Adler („Karl Marx-Verein“), hielt bereits im November/Dezember 1914 Vorträge gegen den Krieg, und trat am Parteitag 1917 für die linke Opposition auf. In der Reichskonferenz der deutsch-österreichischen Arbeiterräte am 2. Juli 1919 sprach er sich gegen die Räterepublik und für einen Anschluß an das Deutsche Reich aus. Auf dem Linzer Parteitag von 1926 trat er für das Prinzip der Diktatur des Proletariats ein und stellte sich damit links von F. Adler und Bauer. Nach dem 15. Juli 1927 (Justizpalast-Brand) wandte er sich gegen Koalitionsversuche mit Seipel. In der Folge war er Verfechter eines parteiloyalen Linkssozialismus. Kritik am Linksliberalismus in einer Auseinandersetzung mit Kelsen („Die Staatsauffassung des Marxismus“, 1922).

Bibliographie

  • Immanuel Kant zum Gedächtnis! Wien 1904.
  • Kausalität und Teleologie im Streit um die Wissenschaft, Wien 1904.
  • Marx als Denker, Berlin 1908.
  • Prinzip oder Romantik!, Nürnberg 1915.
  • Bildung und Krieg, Wien 1918.
  • Demokratie und Rätesystem, Wien 1919.
  • Frz. Ausg.: Democratie et Conseils Ouvriers (trad. et pres. Ivon Bourdet), Paris 1967.
  • Die Staatsauffassung des Marxismus, Wien 1922.
  • Kant und der Marxismus, Berlin 1925.
  • Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung, 2 Bde., Berlin 1930/32. Eine gekürzte Neuauflage erschien im Europa-Verlag, Wien 1964, unter den Titeln: Grundlegung der materialistischen Geschichtsauffassung (= der frühere Bd. 1); Natur und Gesellschaft (= der frühere Bd. 2, 1.Teil); Die solidarische Gesellschaft (= Bd. 2, 2. Teil, 1964 zum erstenmal gedruckt).
  • Parteidiskussion?, Wien 1932.
  • Das Verhältnis der nationalen zur sozialistischen Idee, Wien 1933.
  • Links-Sozialismus, Karlsbad 1933 (Neudruck in: Sandkühler/de Vega, Austromarxismus, Frankfurt a. M. 1970).
  • Das Rätsel der Gesellschaft, Wien 1936.

Kurzbiographien

  • Norbert Leser, Werk und Widerhall, Wien 1964, S. 36-48.
  • Stefan Wirlandner in: Max Adler, Grundlegung der materialistischen Geschichtsauffassung, Wien 1964, S. 7-20.

Über Max Adler

  • M. Nußbaum, Kantianismus und Marxismus in der Philosophie Max Adlers, 1934.
  • Friedrich Weigend-Abendroth, Max Adlers transzendentale Grundlegung des Sozialismus, phil. Diss. Wien 1959.
  • Peter Heintel, System und Ideologie. Der Austromarxismus im Spiegel der Philosophie Max Adlers, Wien 1967.
  • Norbert Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, Wien 1968, S. 511-561.

Max Adler im NF

  • Max Adler, Marxismus ist nicht Materialismus (1913), NF Juni/Juli 1967.
  • Peter Heintel, Austromarxismus und Religion, I & II, NF Februar 1967, NF März 1967.
  • Norbert Leser, Marxismus unterwegs zum Geist, I & II, NF August 1964, NF September 1964.
  • ders., Tod und Leben des Austromarxismus, NF August/September 1966.
  • ders., Was bleibt vom Austromarxismus, NF Oktober 1966.

[1Näheres siehe bei Wolfgang Rosar, Deutsche Gemeinschaft. Seyß-Inquart und der Anschluß, Wien 1971 (Europa-Verlag), S. 29 ff.

[2National Archives, Alexandria/Washington, World War II Collection of Seized Enemy Records, Microcopy No. T 81, Roll 668, Frame 5 476 280 f. (Original jetzt wieder im Bundesarchiv Koblenz, BRD).

[3Entspricht 300 Schilling. Max Adler erhielt 700 Schilling. Die Millionenzahlen drücken die Summe in Papierkronen aus, welche 1924 im Verhältnis 10.000:1 in Schilling umgetauscht worden waren.

[4Jakob Ahrer, Finanzminister 1924—1926 (vgl. seine Memoiren: Erlebte Zeitgeschichte, 1930).

[5Wie [2], Frame 5 476 282 f.

[6Wie [2], Frame 5 476 278 f.

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